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Bradden blickte den kleinen Mann auf der anderen Seite des Feuers an, Fred Myers.
»Fred hat heute nicht sein erstes Kind begraben. Zwei Töchter starben am Weihnachtsfieber, wie wir es genannt haben.«
Braddens Blick schien die Dunkelheit zu durchdringen, in die Richtung, wo sie Bill und Robert Myers begraben hatten.
»Bill, der da draußen liegt, hatte auch eine Familie. - Tot.«
Sein Blick verklärte sich noch mehr, als Bradden seine Frau Eliza zu seiner Linken ansah, und seine Stimme wurde brüchig.
»Lewis war nicht unser einziges Kind. Wir hatten noch drei Töchter, die jüngste keine zwei Jahre alt. Alle hat das Fieber geholt.«
Als Eliza still zu weinen begann, legte der Treck-Captain einen Arm um sie.
»Wir waren fast fünfzig Menschen in Greenbush. Als der Schnee schmolz, waren noch zwölf übrig. Jetzt sind wir noch zehn. Und wenn wir Molalla Spring nicht schnell erreichen, bald vielleicht nur noch neun.«
Jacob schwieg eine ganze Weile. Es war schwer, darauf etwas zu erwidern. Welche Worte hätten nicht hohl geklungen angesichts des Unglücks, das die Bevölkerung von Greenbush getroffen hatte?
Er begann, die Härte und Verbitterung dieser Menschen zu verstehen. Sie mußten sich vorkommen wie vom Schicksal Verfluchte. Kein Wunder, daß sie Greenbush verlassen und sich auf den Weg in ein anderes Land gemacht hatten.
Aber wie die Sache zur Zeit aussah, hatte das Unglück sie auf ihrem Treck nicht verlassen. Nach dem Fieber sandte es ihnen die blutdürstigen Nez Perce.
Aus dem Treck in eine neues Land war unversehens ein Treck der Verdammten geworden.
»Das Fieber hätte Ihre Leute überall erwischen können«, sagte Jacob schließlich. »Es liegt nicht an diesem Land.«
»Sicher, überall ist das Leben gefährlich.« John Braddens Gesicht verhärtete sich. »Aber wenn man schon gefährlich lebt, dann doch besser mit der Aussicht auf schnellen Reichtum!«
*
Nach dem Abendessen gingen Jacob und Irene mit Jamie noch etwas aus dem Lager, um sich die Beine zu vertreten und um sich zu unterhalten. Das Kind sollte müde werden, damit es in der Nacht gut schlief. Behutsam wiegte Irene es in ihren Armen. Zur Sicherheit hatte Jacob den Sharps-Karabiner mitgenommen, und der Army Colt hing an seiner Hüfte. Zwar schienen sich keine Nez Perce in der Gegend aufzuhalten, aber er wollte auf alles vorbereitet sein.
Sie erreichten die einsame Eiche und blieben vor den beiden frischen Gräbern stehen.
»Robert Myers war noch sehr jung«, sagte Irene leise. »Ich hoffe, Jamie wird älter. Manchmal denke ich, es war ein Fehler, nach Amerika zu gehen.«
»Wir beide hatten keine große Wahl«, erwiderte Jacob. »Auch bei uns daheim sterben viele jung. Auch dort gibt es Krankheiten, und viele Menschen haben nicht genug zu essen.«
»Aber dort gibt es andere Menschen, überall. Man ist nicht allein, so wie die Menschen von Greenbush, als das Fieber kam. Sie hatten nicht mal einen Arzt.«
»Ist es nicht dasselbe, ob man keinen Arzt hat oder ob man ihn nicht bezahlen kann, wie es vielen bei uns in Deutschland geht? Und was die Größe dieses Landes angeht, so ist es für die meisten der Grund, hierher zu kommen. Denk nur an Martin, dem es in Deutschland zu eng wurde. Für den es dort kein Land zum Beackern gab, jedenfalls kein eigenes.«
»Trotzdem habe ich Angst«, sagte Irene und drückte ihren Sohn fester an sich. »Obwohl so viele Menschen nach Amerika kommen, wie wir in New York gesehen haben, verlieren sie sich in dieser Weite. Manchmal halte ich es geradezu für vermessen, daß wir Carl hier finden wollen. Und deine Familie natürlich. Obwohl du wenigstens einen Anhaltspunkt hast -, wo du sie finden kannst.«
»Du auch, Irene. Wir wissen, daß Carl Dilger nach Kalifornien gegangen ist.«
»Kalifornien ist auch nicht gerade klein. Es soll einer der größten Staaten Amerikas sein. Wenn so viele Menschen auf der Suche nach Gold dorthin strömen, erleichtert das unsere Suche nicht. Und wenn Carl kein Gold findet, was dann? Vielleicht ist er schon längst wieder fort, wenn wir dort ankommen. - Falls wir dort ankommen!«
»Was soll das heißen, Irene? Weshalb zweifelst du daran?«
»Ich weiß nicht. Was heute geschehen ist, macht mir Angst. Dieser plötzlich Angriff durch den Indianer war schrecklich. Es hätte nicht viel gefehlt.«
Jacob legte sanft einen Arm um Irene und sagte: »Du warst sehr tapfer. In Zukunft werde ich besser auf dich und Jamie aufpassen. Aber zur Zeit mußt du dir wirklich keine Sorgen machen. Wir sind jetzt in Sicherheit.«
»Sind wir das?«
»Außer mir sind sieben weitere Männer hier, und alle können mit ihren Waffen umgehen. Falls uns tatsächlich Krieger der Nez Perce folgen, sollte das genügen, sie uns vom Leib zu halten, bis wir Molalla Spring erreichen.«
»Das ist es ja gerade«, seufzte die Frau.
»Was?«
»Die Männer aus Greenbush. Sie machen mir angst. Sie sind so eigenartig. Menschenleben scheinen ihnen nichts zu bedeuten, zumindest nicht die der Indianer.«
»Versuch doch, sie zu verstehen, Irene. Denk an das, was sie durchgemacht haben. Erst das Fieber und heute der Überfall. Irgendwann ist jeder mit seinen Nerven am Ende, früher oder später. Wenn man an dieses Fieber denkt, muß man sagen, daß die Leute aus Greenbush ihr schweres Schicksal sehr lang ertragen haben.«
Irene sah ihn erschrocken an. »Du billigst also, was sie mit den Nez Perce gemacht haben?«
»Kennst du mich so schlecht?« fragte Jacob traurig.
Sie legte eine Hand auf seine Schulter. »Nein, verzeih mir, Jacob. Ich glaube, ich bin auch ziemlich mit den Nerven runter. Wir sollten schlafen und uns ausruhen. Wir haben es nötig.«
»Ja«, sagte Jacob und begleitete sie zurück zum Lager.
Er spürte, daß er Irenes Bedenken nicht ausgeräumt hatte.
Kein Wunder, dachte er, als er unter dem Wagen lag, in dem die junge Frau und ihr kleines Kind schliefen. Auch er hatte starke Bedenken, was die Menschen vom Treck betraf. Etwas stimmte nicht mit ihnen. Da war mehr, als John Bradden heute abend erzählt hatte.
Jetzt war nicht die Zeit, das Geheimnis zu lösen. Die deutschen Auswanderer und die Leute aus Greenbush waren aufeinander angewiesen.
Jacob kroch tief in seinen Schlafsack. Die tagsüber strahlende Sonne täuschte. Die Nächte waren noch sehr kalt, fast winterlich. Obwohl er mit Decken für zusätzliche Wärme sorgte, schlief er sehr unruhig, geplagt von bösen Träumen.
Aber das lag weniger an der Kälte als an den sorgenvollen Gedanken, die er sich seit der Unterhaltung mit Irene noch stärker machte als zuvor.
*
Noch jemand schlief kaum in dieser Nacht.
Riding Bear kauerte, in eine Decke gehüllt, auf einem kahlen Hügel und starrte dorthin, wo vor einiger Zeit das Feuer erloschen war.
Seine Gedanken beschäftigten sich mit seiner Rache. Etwas in ihm drängte ihn, diese Rache noch in dieser Nacht zu üben.
Doch er hielt sich zurück. Seine Kräfte mußten noch wachsen. Und in dieser Zeit würde die Wachsamkeit der Bleichgesichter nachlassen.
Noch waren sie nicht aus den Langen Bergen heraus, wie die Kaminu die Cascade Mountains nannten.
Riding Bear durfte nicht ungeduldig werden.