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Er atmete noch ein paarmal gut durch und begann dann den Aufstieg. Vorsichtig erst, dann schneller, als er merkte, daß sein Seil und auch das Buschwerk hielten.
Etwas Erdreich rieselte in sein Gesicht und trieb ihn zu noch größerer Eile an.
Jacob atmete erleichtert auf, als seine Hände in das Buschwerk griffen. Er zog sich daran hoch und fand hinter den Büschen eine kleine Aushöhlung, in die er sich mit eng an den Körper gezogenen Beinen kauerte.
Hier erholte er sich ein, zwei Minuten und machte das Seil vom Gebüsch los. Er band es um seinen Körper, da kein Felsvorsprung in seiner Nähe war, um den er die Schlinge hätte werfen können. Zum richtigen Anziehen war sein Ruheplatz zu klein; er wäre bei dem Versuch unweigerlich abgestürzt.
Dann kletterte er weiter, eng an die Steilwand gepreßt, sich nur auf die Kraft seiner Finger und Zehen verlassend.
Bald hatte er seine Strümpfe durchgeschabt, und die Füße waren ebenso blutig wie die Hände.
Weiter!
Fingernägel brachen ab. Blut rann an seinen Händen entlang, machte das Gestein glitschig und erschwerte dadurch seinen Halt.
Weiter!
Jedesmal, wenn er den rechten Arm bewegte, schoß das Stechen durch die Schulter.
Er mußte trotzdem weitermachen.
Sein Stöhnen und sein schmerzverzerrtes Gesicht hätten einem Beobachter verraten, wie sehr Jacob litt.
Hätten?
*
Unablässig folgte der Blick des Mannes den verzweifelten Bemühungen des Kletterers. Er lag am oberen Rand des Canyons unweit des Platzes, wo der Treck gelagert hatte, hinter einem Grasbüschel auf dem Boden.
Mehrmals sah es so aus, als würde der Kletterer den Halt verlieren und in die Tiefe stürzen - diesmal endgültig. Doch er war ein kräftiger, gewandter Mann und fand jedesmal noch einen Halt, der seine Lebensspanne wenigstens um kurze Zeit verlängerte.
Der dunkelhäutige Mann in der fransenbesetzten Lederkleidung beobachtete all diese Bemühungen des hellhaarigen Weißen, wie er als Kind die Kettennattern in der Nähe des Kaminu-Lagers beobachtet hatte, die Eidechsen, Mäusen, Vögeln und sogar anderen Schlangen auflauerten und sie dann zu Tode würgten.
Es war keine Frage, ob der Tod eintrat.
Die Frage war nur: wann?
Aber dann sah es so aus, als würde es der Weiße tatsächlich schaffen. Weiter oben war die Wand des Canyons nicht mehr ganz so steil. Der Kletterer fand mehr Halt und kam schneller voran.
Riding Bear griff hinter sich nach Pfeilköcher und Bogen. Bei seinen toten, skalpierten Brüdern hatte er reichlich gefunden, was er zum Überleben und zum Vollenden der Rache an den Weißen benötigte: Verpflegung, Pferde und Waffen. Nur keine Feuerwaffen. Die Weißen waren vorsichtig gewesen und hatten sie mitgenommen oder unbrauchbar gemacht.
Er legte den aus dem Holz eines Haselnußstrauches geschnitzten Pfeil ein und spannte den Bogen. Er zielte, bis die dreieckige Eisenblechspitze genau auf den Hals des Weißen zeigte. Sobald er den Pfeil von der Sehne ließ, würde er das Bleichgesicht unweigerlich in den Abgrund reißen.
Einer der verhaßten Weißen weniger!
*
»Haaalt!«
Während sein Ruf ertönte, zügelte John Bradden den klobigen Rappen und hob die rechte Hand. Die Fahrer brachten die Wagen zum Stehen, und die Reiter scharten sich um den Treck-Captain.
Kurz vor Einbruch der Dämmerung durchquerte der Wagenzug ein großes, langgestrecktes Tal, in dessen Mitte ein kleiner Pinyonhain lag, direkt vor dem Treck.
»Wollen wir jetzt schon rasten, John?« fragte Fred Myers vom Bock seines Wagens. »Wir haben noch etwa eine Stunde Tageslicht. Das sollten wir ausnutzen. Es bedeutet eine weitere Stunde Vorsprung vor den Roten.«
Der Treck-Captain schüttelte den Kopf.
»Die Tiere sind erschöpft, Fred. Die letzte Stunde würde nicht viel bringen, zumal das Gelände vor uns wieder ansteigt. Außerdem ist dieser Pinyonwald eine ideale Deckung. Niemand kann uns sehen, aber wir können jeden sehen, der sich uns nähert. Einen besseren Lagerplatz finden wir bestimmt nicht.«
Fred Myers murmelte etwas Unverständliches, was wohl so etwas wie eine halbe Zustimmung war.
»Fahrt die Wagen so zwischen die Bäume, daß sie von außen nicht zu sehen sind!« rief John Bradden. »Notfalls müßt ihr sie mit Zweigen und Buschwerk abdecken!«
Irene ließ alles teilnahmslos über sich ergehen. Fast während der gesamten Fahrt hatte sie bei Jamie unter der Plane gesessen. Nur während der Mittagsrast hatte sie sich auf Ebenezer Owens Wunsch um seine Frau Carol gekümmert. Mit wenig Erfolg. Der Wundbrand wurde stärker, und Carol Owen ging es zusehends schlechter.
Aber auch wenn sie sich um ihr Kind oder um die kranke Frau kümmerte, Irenes Gedanken waren bei Jacob. Die Vorwürfe, die sie sich machte, wechselten mit ihrer Trauer ab. Jacob mußte jetzt tot sein, wenn er es nicht schon heute morgen gewesen war.
Manchmal erschien dieser Gedanke ihr so unglaublich, daß sie nach vorn durch die Lücke in der Plane blickte - in der Erwartung, daß der große junge Mann mit dem sandfarbenen Haar und dem Zimmermannsring im Ohr auf dem Bock saß und die Pferde antrieb. Aber wenn ihr Blick auf den von dunklen Haaren bedeckten Kopf und auf die untersetzte Gestalt von Lewis Bradden fiel, zerplatzte das Traumbild ihrer Selbsttäuschung.
Im Wald hielt Lewis Bradden den Wagen endgültig an und sprang vom Bock, um die Pferde auszuschirren.
Irene blieb einfach sitzen.
Bis Frazer Bradden sein unrasiertes Gesicht durch die Plane schob und knurrte:
»Spielst du hier die feine Lady, Dutch-Weib? Setz deinen Hintern gefälligst in Bewegung und hilf den anderen Frauen, Zweige und Buschwerk zusammenzutragen!«
Irene blickte zu Jamie. Er lag in seinem Bett, die Augen geschlossen, ruhig atmend. Ihr Sohn schlief friedlich, und sie beneidete ihn darum.
»Was ist?« Der Bruder des Treck-Captains schrie es fast. »Muß ich erst in den Wagen kommen und dir Beine machen?«
»Ich komme ja schon«, erwiderte Irene rasch, damit Jamie nicht aufwachte.
Sie stieg so hastig aus dem Wagen, daß sich ihr Rock in einem vorspringenden Holzsplitter verfing. Sie stürzte und fiel auf den Boden. Als sie den Kopf hob, blickte sie auf Frazer Braddens mit einer dicken Schmutzkruste überzogene Stiefel.
»Tu nicht so, als seist du zu erschöpft zum Arbeiten, verdammt!« schimpfte der Mann mit nach unten gezogenen Mundwinkeln. »Ich fall' darauf bestimmt nicht rein. Du hast den ganzen Tag doch nichts getan!«
Er traf keine Anstalten, ihr beim Aufstehen zu helfen. Irene zog sich an einem Wagenrad hoch.
Ihr Blick kreuzte den des Mannes. Was sie darin sah, gefiel ihr nicht: Verbitterung, Haß, Boshaftigkeit, Gemeinheit.
»Was haben Sie gegen mich?« fragte sie.
»Ich mag weder Indianerfreunde noch deren Schlampen. Wenn es nach mir gegangen wäre, wäre dein Freund nicht allein verreckt. Wir hätten dich und deinen kleinen Bastard gleich hinterherwerfen sollen!«
Irene sah ein, daß sie gegen die Verbohrtheit des Mannes nicht ankam. Sie senkte den Blick und ging an ihm vorbei ins Unterholz. Es war sehr dicht, aber sie achtete nicht darauf, daß sie sich unzählige kleine Schrammen im Gesicht und an den Händen zuzog. Es war ihr so gleichgültig.