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»Ich möchte wissen, weshalb die Nez Perce Sie und Ihre Freunde überfallen haben.«
»Die brauchen keinen besonderen Grund. Sie sind blutdürstige Teufel, die sich gern mit den Skalps ihrer Feinde schmücken. Mögen sie sich auch jahrelang friedlich verhalten und vor unseren Missionaren die lammfrommen Gotteskinder spielen - diese Wilden können ihre wahre Natur nicht verleugnen.«
Owen legte sich am Rand der Felsnadel flach auf den Boden und begann mit dem Beschuß der Indianer.
Jacob holte den Sharps, ging neben Owen in Stellung und lud den Karabiner nach. Dabei dachte er über die Worte des Bärtigen nach. Er konnte ihm nicht zustimmen.
In den Rocky Mountains hatten er und die anderen Auswanderer Indianer getroffen, die alles andere als blutdürstige Wilde waren. Das geheimnisvolle Volk hatte den Weißen sogar das Leben gerettet, als sie vom Wintereinbruch überrascht wurden.
Nein, die Aufteilung in böse Rote und gute Weiße stimmte nicht. Seitdem er in Amerika war, hatte Jacob zu viele schlechte Weiße getroffen, um das zu unterschreiben.
Er hatte das unbestimmte Gefühl, daß irgend etwas nicht in Ordnung war.
Daß Ebenezer Owen ihm etwas verschwieg.
Daß Jacob einen schweren Fehler machte, als er ebenfalls auf die Indianer im Tal feuerte.
Aber was sollte er tun? Bei den Wagen auf dem bewaldeten Hügel befanden sich Menschen in Lebensgefahr - auch Frauen. Und es war unbestreitbar, daß die Weißen sich nur verteidigten.
Die Angreifer waren die Nez Perce!
*
Die Bilder, die Irene erblickte, vermischten sich mit denen, die sie in ihren Gedanken vor sich sah.
Der rote Krieger, der mit angelegter Lanze auf den Planwagen zustürmte.
Carol Owen, die kraftlos gegen den Wagen gelehnt stand, in ihr Schicksal ergeben - in Erwartung des nahen Todes.
Der kleine Jamie, der im Wagen lag und dem Indianer schutzlos ausgeliefert sein würde, sobald dieser die Frauen getötet hatte. Warum sollte ein Mann, der Frauen tötete, vor kleinen Kindern haltmachen?
Wenn sie Jamie doch nur helfen könnte!
Aber da sie dem Indianer den Hammer entgegengeschleudert hatte, war sie ohne Waffe.
Da fiel ihr Jacobs Colt ein - vorn auf dem Fußbrett.
Sie sprang zur Vorderseite des Planwagens, griff mit beiden Händen nach dem schweren Sechsschüsser und drehte sich zu dem Angreifer herum.
Der zögerte nur eine Sekunde, bis er sich entschied, zuerst die blonde Frau mit dem Revolver zu töten, die ihm gefährlich werden konnte. Er riß den Appaloosa nach rechts. Irene zog den Hahn zurück und den Abzug durch. Ein lautes Krachen, und eine Feuerlanze schoß aus dem schwarze Lauf auf den Nez Perce zu.
Der Rückstoß war gewaltig und riß die Waffe nach oben. Schmerzhaft schrammte sie über Irenes Wange und hinterließ eine blutige Furche. Beißender Pulverdampf brachte ihre Augen zum Tränen.
Durch den Tränenschleier sah sie, wie der Appaloosa langsamer wurde und kurz vor ihr anhielt.
Der Nez Perce schwankte von einer Seite zur anderen, krümmte sich zusammen und ließ die Lanze fallen. Dann verlor er bei dem verzweifelten Versuch, sich auf dem Pferderücken zu halten, auch den großen Schild.
Eine Stimme drang an Irenes Ohr.
Ein Kreischen. Zugleich ein Flehen. Es war Carol Owen: »Schießen Sie noch mal! Schießen Sie doch! Der Kerl lebt noch! Warum schießen Sie denn nicht?«
Irene senkte den vom Rückstoß hochgerissenen Colt und zielte mit dem langen Lauf direkt auf den Kopf des Nez Perce. Sie zog den Hahn zurück. Es klickte vernehmlich, als er einrastete.
»Gut so«, keuchte Mrs. Owen. »Drücken Sie ab!«
Aber Irene drückte nicht ab.
Sie starrte auf das Loch in dem gelben Lederhemd, etwa in der Mitte der Brust, unter der Halskette mit den Bärenkrallen. Zusehends wurde das Leder dort feucht, in einem schmutzigen dunklen Rot.
Das Gesicht des Nez Perce war schmerzverzerrt, sein Blick getrübt.
Seltsam - sie dachte, daß dies gar kein häßliches Gesicht war, jetzt, wo es nicht mehr vom Haß entstellt wurde.
Es war ein hartes Gesicht, ja, kantig, mit hohen Wangenknochen, einer geraden Nase, schmalen Augen und Brauen, deren äußere Enden leicht nach oben geschwungen waren. Hätten die schmalen Lippen nicht vor Schmerz gezuckt, hätte es ein schönes Gesicht sein können, auf seine Art.
Sie konnte sich sogar vorstellen, daß der Mann lächelte, sich über eine Frau und ein kleines Kind beugte und mit seinen kräftigen großen Händen sanft über deren Haare strich. Ein liebender Mann und Vater.
Was hatte diesen Haß in dem Nez Perce entfacht, daß er versuchte, Frauen zu ermorden?
Irene konnte nicht weiter darüber nachdenken. Mrs. Owens schrille, aufgeregte Stimme unterbrach sie: »Was ist? Worauf waren Sie denn? Drücken Sie ab, bevor der Wilde uns tötet!«
Langsam zog Irene den Abzug durch.
Erleichterung spiegelte sich in Carols Owens schweißnassem Gesicht, als der Schuß krachte.
Aber die Kugel traf den Indianer nicht. Irene hatte den Lauf gesenkt. Das heiße Blei ließ den Boden zwischen den Beinen des Appaloosas aufspritzen.
Das Pferd wieherte laut vor Schreck, warf den Kopf herum und rannte in weiten Sätzen davon. Mit Mühe hielt sich der Nez Perce auf seinem Rücken, indem er den Pferdehals mit beiden Armen umklammerte. So verschwanden das erschrockene Pferd und sein verwundeter Reiter im Wald.
»Warum haben Sie das getan?« keuchte Carol Owen, die aufgerissenen Augen ungläubig auf die Deutsche gerichtet. »Das. das war ein Fehler!«
»Ja, das war es«, nickte Irene. »Ich hätte den Mann nicht fortjagen dürfen mit seiner schweren Verwundung. Es wäre meine Christenpflicht gewesen, mich um ihn zu kümmern. Aber.«, sie zuckte hilflos mit den Schultern, »ich wußte doch nicht, wie er sich verhalten würde. Und ich mußte Jamie schützen - und uns.«
»Ja, uns, aber nicht diesen roten Mörder!«
Mrs. Owens Stimmte vibrierte. Ihr Blick flackerte, drückte Unverständnis aus, Zorn - und Haß. Aber seltsamerweise kaum Angst.
Es war ein ähnlicher Haß, wie ihn Irene beim Angriff des Nez Perce in dessen Zügen gesehen hatte.
Sie spürte plötzlich, daß die Dinge nicht so einfach lagen, wie sie ihr bisher erschienen waren. Ein Geheimnis schien über den Menschen zu liegen, über Mr. und Mrs. Owen ebenso wie über den Indianern. Etwas Schreckliches, das sie teilten. Der Grund für den unversöhnlichen Haß, den beide Parteien aufeinander empfanden.
Mit festem Blick musterte Irene die andere Frau und fragte: »Warum wünschen Sie diesem Indianer mit solcher Inbrunst den Tod, Carol?«
»Das fragen Sie noch? Einer dieser roten Teufel hat meinen Bruder Bill vor meinen Augen aus dem Sattel geschossen. Einer griff Ebenezer und mich an und jagte mir diesen Pfeil durch den Arm.« Die knochige Frau starrte auf Lanze und Schild, die am Boden lagen. »Er hätte uns beide aufgespießt -und vermutlich auch Ihren Sohn.«
Ihr Blick kehrte zu Irene zurück, und der Haß schien noch unversöhnlicher geworden zu sein.