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Claudio und der Pfiff alla pecorara
Bruno
Er heißt Claudio, ist fünfundfünfzig und einer der Viehzüchter von der Bewegung Sardischer Hirten. Er lebt in Monastir, Provinz Cagliari, zusammen mit seiner Frau Anna und fünfunddreißig Schafen, fünf Ziegen, acht Wildschweinen, drei Mufflonschafen und zwei Eseln. Er steht jeden Morgen um fünf Uhr auf, um diese ansehnliche Herde auf die Weide zu führen und den Schafstall auszumisten. Vor halb acht Uhr abends betritt er nie sein Wohnzimmer. Freie Tage gibt es für ihn nicht, denn Tiere müssen bekanntlich immer fressen. Eigentlich missfällt ihm das nicht, er liebt seine Tiere, sie sichern ihm sein Überleben und sein Auskommen. Anna bewundert ihren Mann, obwohl er nach Schafstall stinkt und nie merkt, wenn sie mal eine andere Frisur hat oder ein neues Kleid trägt.
»Was weiß ich denn schon von Mode? Ich kenne gerade mal die Wolle, die ich den Schafen abschere«, sagt er.
Claudio und Anna leben in einer Behausung ohne Heizung und Telefon. Mehr können sie sich nicht leisten.
»Der Milchmarkt ist furchtbar geworden. Vor fünfundzwanzig Jahren bekamen wir für einen Liter Milch 1320 Lire. Heute gibt man uns gerade mal 55 oder 60 Cent dafür, das sind 1100 Lire. Und wie viel teurer ist das Leben in den letzten fünfundzwanzig Jahren geworden? Alles kostet das Dreifache, und unsere Arbeit ist nur noch ein Viertel wert, das ist schlimm. Und dann sollen wir auf die Zukunft vertrauen. Welche Zukunft?«
Immer wieder verfällt er in tiefstes Sardisch.
»Was soll ich denn machen, wenn ich den Preis nicht akzeptiere, den die Käufer uns aufzwingen? Die fahren nach Rumänien, kaufen die Milch dort und schlagen dann hier zweihundert Prozent drauf! Da muss ich ja verhungern! Ich bin heute Morgen um vier Uhr aufgestanden, um hierherzukommen und zu protestieren. Ich verlange doch nur ein bisschen Respekt vor meiner Arbeit und ein paar Kleider für meine Frau. Ist das denn zu viel verlangt?«
So langsam verstehe ich die Hintergründe dieser seltsamen Blockade. Offenbar lassen sich Milcherzeuger in anderen Teilen Europas leichter unter Druck setzen, und deshalb wird dort eingekauft. Die weiterverarbeitenden Betriebe haben die neuen Verträge noch nicht unterschrieben, doch die Hirten können nicht länger warten, denn inzwischen reift der Käse, und dabei verliert er an Gewicht.
»Unser Preis ist fair. Und fair ist ein Preis nur dann, wenn er den Verbrauchern ein gutes, reines Produkt garantiert. Das muss für alle Bauern und Hirten auf der ganzen Welt gelten.«
Man sagt den Sarden ja nach, sie seien stur bis zur Starrköpfigkeit. Das stimmt. Aber damit liegen sie absolut innerhalb der landesweiten Norm: Sie sind bestimmt sturer als wir aus den Abruzzen, aber bei weitem nicht so wie die Menschen aus der Lombardei. Sarden gelten als rachsüchtig. Ich würde sagen, sie wollen weniger Rache als ihre Rechte. Zumindest Claudio gehört zu dieser Sorte, und wenn er heute nicht hier wäre, um die ihm zustehenden Rechte einzufordern, wäre er kein Sarde.
Gastfreundschaft sagt man den Sarden ebenfalls nach. Das stimmt hundertprozentig.
Denn schon nach etwa zwanzig Minuten bietet mir Claudio an, bei ihm zu Abend zu essen und zu übernachten. Die Straßen nach Cagliari seien alle gesperrt, sagt er, und vor 21 Uhr werde sich daran auch nichts ändern. Mit seinem Traktor könnten wir auf einem anderen Weg in einer knappen Stunde sein Heim erreichen. Und sollte morgen die Blockade fortgesetzt werden, so ließe sich dann bestimmt besser eine Mitfahrgelegenheit nach Gesturi organisieren.
»Das ist sehr freundlich, Claudio«, bedanke ich mich, »aber ich kann doch nicht ohne meine Jutta weg!«
Da die Halle überfüllt ist und der Lärmpegel ständig weiter anschwillt, reden auch wir immer lauter.
»Wer ist Jutta?«, fragt Claudio.
»Meine Lebensgefährtin aus Deutschland … Sie müsste schon heute Vormittag mit dem Flugzeug aus München gelandet sein. Wir hatten uns hier in der Halle verabredet. Aber wir haben uns noch nicht gefunden.«
»Hast du es schon mal mit Pfeifen probiert?«
Er meint den berühmten Hirtenpfiff, bei dem man mit gespitzten Lippen einen so gellenden Ton erzeugen kann, dass einem davon die Ohren klingeln. Der Pfiff alla pecorara, nach Hirtenart, erklärt mir Claudio, ist ein revolutionärer Pfiff. Damit kann man sich über weite Entfernungen verständigen und jedermanns Aufmerksamkeit erregen.
Dann folgt Claudios Auftritt, weit besser als Trapattoni, als der seine Bayern zusammenstauchte. Mit einem unglaublichen Pfiff bringt er alle Anwesenden einschließlich der armen blökenden Schafe zum Schweigen.
»FIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIII …………«
Stille.
»Jetzt hat sie uns bestimmt gehört.«
In der Halle ist es plötzlich ruhig geworden. Alle Augen sind auf uns gerichtet. Und in der allgemeinen Stille hört man leise, aber deutlich vernehmbar:
»Ich glaub, ich spinn!«
Da steht sie und sieht mich mit großen Augen an!
»Was kann ich dafür, amore? Wer konnte so ein Chaos vorausahnen! Reg dich nicht auf, du wirst sehen, alles kommt wieder in Ordnung. Das hier ist Claudio, er hat uns netterweise angeboten, uns auf seinem Traktor mitzunehmen. An unseren Mietwagen kommen wir nicht ran. Aber jetzt lass mich Maurizio anrufen, bevor es zu spät ist …«
»Sag mal – spinnst du?«
Die Vorstellung, vom Flughafen auf dem Traktor eines Unbekannten zu verschwinden, scheint sie ziemlich aufzuregen. Und wenn ich ihr jetzt noch erzähle, dass er uns sogar angeboten hat, bei ihm zu Hause zu übernachten … Ich halte mich lieber etwas zurück und spare mir die Einzelheiten für später auf. »Ciao, Maurizio, du bist es – endlich! Mein Akku ist gleich leer. Wir haben wegen des Streiks ein paar Probleme. Du hast davon gehört? Hör mal, heute Nacht werden wir woanders unterkommen. Aber morgen Nachmittag sind wir da …«
Die Wut der Demonstranten ist jetzt wieder aufgeflammt, und zwar noch heftiger als vorhin, die Traktoren auf der breiten Straße vor dem Parkhaus versperren weiter den Weg.
Es ist beinahe drei Uhr am Nachmittag, als wir die klapprige, laute Landmaschine mit Anhänger besteigen, auf deren Ladefläche Claudio einen hübschen Sitz für Jutta improvisiert hat. Ich setze mich vorne neben ihn. Wir sollen uns gut festhalten. Der Weg über diese Schotterstraße wird ein bisschen holprig wegen der vielen Schlaglöcher, die der Regen der vergangenen Tage verursacht hat. Doch Claudio versichert uns, es werde auf jeden Fall aufregend. Als wir die Hauptstraße am Flughafen verlassen und in den ersten Weg bergaufwärts einbiegen, haben Jutta und ich nur noch eine Sorge: wie wir den Zweigen und stachligen Ästen der Bäume ausweichen können. Jutta weist mich auf einen Abhang am Wegesrand hin, der im Nichts endet … Ich traue meinen Augen nicht. Mein Adrenalinpegel steigt rasant. Wo sind wir bloß gelandet?
»Haltet euch gut fest!«, ruft Claudio.
Ein abruptes Einschlagen nach links, und wir haben die Kurve hinter uns gelassen. Vor uns öffnet sich eine faszinierende, ursprüngliche, beinahe archaische Landschaft. Claudio erklärt uns, dass es auf der gesamten Insel keine Autobahnen gibt und auf der Staatsstraße 131 wegen Bauarbeiten nur Chaos herrscht. Daher muss man, wenn man dem Verkehr ausweichen will, diese Schotterstraße hoch.
Wir fahren durch die Dörfer Truncu, Case Marini, San Sperate und dann weiter in Richtung Monastir. Wir sind mitten im Campidano, der einzigen Ebene auf Sardinien, wo es, Gott sei Dank, nur wenige Kurven gibt und die Landschaft einen für alles entschädigt. Jetzt ist alles um uns herum sattgrün. Fast wie in Irland!
Jutta sieht ziemlich erledigt aus, und so lese ich ihr etwas aus unserem Reiseführer vor, um sie auf andere Gedanken zu bringen: »Wenn Insel nicht nur ein Stück Land bezeichnet, das von allen Seiten von Wasser umgeben ist, sondern auch so etwas wie eine Erdscholle, die deutlich vom Festland entfernt ist, ist Sardinien unter den größeren die einzig wahre Insel Italiens.«
»Etwas lauter, Schatz!«
»Ihre Küsten sind einhundertachtzig Kilometer von Afrika entfernt, einhundertneunzig von den Badeorten des Argentario der Toskana, zweihundertdreißig Kilometer von Rom, zweihundertachtzig von Sizilien, dreihundertdreißig von den Balearen, dreihundertfünfundsechzig von Marseille, achthundertzwanzig von München und eintausendsechshundertfünfzig Kilometer von Berlin …«
»Du hast noch nicht die Kilometer gezählt, die wir auf diesem verdammten Traktor zurücklegen müssen, und wie viele uns von deinem Cousin dritten Grades trennen, und nur seinetwegen bin ich jetzt hier! Da hätte ich doch lieber eine Woche an der Costa Smeralda verbracht, als hier auf einem Viehwagen durch die Gegend zu tuckern, noch dazu mit einem Hirten, der gegen den Wind nach Schaf stinkt.«
»Jutta, bitte, er kann dich hören … Außerdem sollten wir ihm dankbar sein. Wäre er nicht gewesen, säßen wir jetzt noch auf dem Flughafen fest!«
»Seit wann versteht dein Freund hier denn Deutsch? Sag ihm lieber mal, er soll nicht so heftig in die Schlaglöcher fahren.«
»Psst – er sieht dir an, dass du wütend bist. Außerdem gehört nicht viel dazu, um mitzubekommen, dass du ihn nicht magst …«
»Hast du wenigstens die Nummer von der Gepäckstelle dabei? Verlier bloß nicht die Abschnitte der Tickets, sonst bekommst du die Koffer nie zurück.«
»Keine Angst, ich habe auch Maurizios Adresse und Telefonnummer hinterlassen, falls wir sie morgen nicht abholen können …«
»Waaaas?«
»Reg dich nicht auf, das wird nicht passieren. Aber sollte sich der Streik hinziehen, wissen sie wenigstens, wo sie sie hinschicken sollen.«
»Kruzitürken!«
So geht es während der ganzen Fahrt.
Claudio bleibt immer fröhlich und liebenswürdig, er ist ein Bauer mit sympathischem, offenem Gesicht und schwieligen Händen. Der klapprige Traktor, ein alter Landini aus den siebziger Jahren, ist Zeuge einer längst vergangenen Zeit. Ein bisschen rückständig, aber sehr ähnlich denen, die ich aus meiner Kindheit in den Abruzzen kenne.
Wir zuckeln weiter auf dem alten Landini und werden ordentlich durchgeschüttelt. Da der Traktor nur mit zwanzig Stundenkilometern fährt, bleibt uns Zeit, die Menschen unterwegs zu beobachten und selbst die kleinsten Veränderungen auf ihren Gesichtern wahrzunehmen: zum Beispiel die erschöpft, aber zufrieden wirkende Bauersfrau, die mit einem Sträußchen Rosmarin in der Hand auf dem Heimweg ist und den mürrischen Hirten grüßt, dessen Esel zwei Körbe mit Käse und geräucherter Wurst auf dem Rücken trägt. Jutta ist ganz hingerissen, als sie eine Wiese voller blühender lilafarbener Kardendisteln ausmacht.
Nur Gott allein weiß, wie Claudio ihre Gedanken gelesen hat, jedenfalls steigt er geräuschvoll in die Bremsen, der Traktor macht einen Riesensatz, Jutta plumpst heftig mit dem Hintern auf die Ladefläche des Anhängers, und Claudio springt aus der Kabine des Traktors.
»Nehmen Sie, Jutta, unsere sardischen Karden bringen Glück.« Da sie ihn verdutzt anschaut, schalte ich mich ein und übersetze Claudios Rede: »Unserer Überlieferung nach haben die jungen Mädchen sie gesammelt, in ein Glas Wasser gestellt und eine ganze Nacht lang auf dem Fensterbrett stehen lassen. Je nachdem, wie die Distel am nächsten Morgen aussah, las man daraus das eigene Schicksal. War sie wieder aufgeblüht, bedeutete es, dass das Mädchen einen reichen Ehemann finden würde, wenn nicht, würde ihr Mann arm sein.«
»Danke, Claudio, man sieht schon, dass meine Blüte verdorrt war.«
Das übersetze ich lieber nicht, was Jutta gleich mit einem zornigen Blick quittiert. Claudio schwingt sich unterdessen wieder hinters Lenkrad und lässt den Motor an. Die Natur genießend, legen wir den restlichen Weg bis zu Claudios Behausung zurück.
»Hier hinauf schaffen es sogar die Ziegen nur mit Mühe«, sagt Claudio. »Bei Regen muss man reiten, denn die Straße ist schon dreimal abgesackt. Nehmen Sie, das ist eine Petroleumlampe für die Nacht. Wir können uns nicht einmal eine Melkmaschine leisten. Wir haben weder das Geld, um sie zu bezahlen, noch den Strom, um sie zu betreiben. Es gibt schon Leute hier, die ihre Ziegen maschinell melken lassen und abends mit dem Geländewagen nach Hause kommen, in Kaschmirpyjamas schlafen und Plasmafernseher haben. Aber Anna und ich, wir sind arme Leute. Strom gibt es bei uns nur im Haus. Ja, meine Lieben, Sardinien ist nicht nur die Costa Smeralda.«