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Die Nacht
Jutta
Von Schlaf ist in dieser Nacht wenig die Rede, aber wieder viel von Wahrnehmung und Erwartungshaltung. Denn offensichtlich ist Brunos Eindruck von unserem ersten gemeinsamen Abend auf Sardinien ein vollkommen anderer als meiner.
Als ich völlig steif aus irgendeinem idiotischen Traum hochschrecke, liegt neben mir ein Stein. Immens schwer und unverrückbar.
Als Erstes versuche ich, das zentnerschwere Bein, das quer über mir liegt, loszuwerden. Danach muss ich den Stein um hundertachtzig Grad drehen. Warum männliche Betrunkene besonders anhänglich und liebebedürftig sind, habe ich nie verstanden.
Jedes Mal, wenn ich es fast geschafft habe, rollt Bruno mit einem Grunzen in seine vorherige Stellung zurück. Irgendwann gebe ich entnervt auf und krabbele auf allen vieren um ihn herum, um mich auf die andere Seite zu legen. Er jedoch dreht sich in diesem Moment auf den Rücken und breitet seine Arme nach rechts und links aus, so dass nun in diesem stockfinsteren, jämmerlich kalten Stall auf beiden Seiten kein Platz mehr ist. Ich rüttele ihn, fordere ihn auf, mir Platz zu machen, flüstere ihm direkt ins Ohr, schreie dann fast, er solle endlich rutschen! Nichts!
Mir ist übel, wie eine Fata Morgana taucht vor meinen Augen eine riesige Flasche Wasser auf. Ich wünsche mich in mein warmes, weiches, duftendes Bett in München. Gemütlich eingemummelt unter den Daunen, liebe ich es, zu jeder Jahreszeit mit offenem Fenster zu schlafen. Hier habe ich jetzt allerdings die Schnauze voll. Ich ziehe an der Decke, um wenigstens einen Zipfel abzubekommen, und schließlich gelingt es mir unter großen Mühen. Entweder die Ziegendecke oder gar keine, denke ich resigniert.
Jetzt tut mir die Hüfte weh, denn unter mir ist bis auf die dünne Lage Stroh nur der nackte Erdboden. Ich nehme meine Handtasche, schiebe sie unter mich und lege mich vorsichtig darauf.
Etwas darin ist ungemütlich hart, aber Sekunden später hat sich dieses Problem von selbst gelöst: Meine Sonnenbrille, die ich anscheinend nicht in ihr Etui zurückgelegt habe, zerbricht in ich weiß nicht wie viele Teile. Ich könnte auf der Stelle losheulen, meine schöne geliebte Designerbrille, passend zum cremefarbenen Röckchen!
Da ich sowieso nicht schlafen kann, überlege ich, was sonst noch alles in der Tasche ist. Mein Portemonnaie, das Flugticket, mein Hausschlüssel, ja, der ist auch unangenehm zu spüren, ein paar Lippenstifte. Man weiß ja nie, welche Farbe man gerade braucht. Ein Päckchen Papiertaschentücher, die sind weich, gottlob, meine drei Glückssteine, ohne die ich nie verreise, mein funktionsuntüchtiges Handy, Zahnseide! Augenblicklich bin ich hellwach. Wenn ich jetzt die Zahnseide finde, kann ich mir fast die Zähne damit putzen. Zumindest das Gröbste und Ekligste könnte ich aus meinem Mund entfernen und hätte sicher danach einen besseren Geschmack im Mund, weil sie gewachst und mit Menthol ist. Vielleicht hängt ja zwischen meinen Zähnen noch so ein Fischei, ganz zu schweigen von einem der toten Würmer, der sich an mein Zahnfleisch geklammert haben könnte. Nächtliche Geräusche sind furchteinflößend, und in diesem Moment bin ich dankbar, dass Bruno, obwohl nicht einsatzfähig, so doch neben mir liegt.
Bei Tagesanbruch werde ich ihn unsanft wecken und einen gebührenden Zirkus machen, nehme ich mir vor. Er wird Claudio veranlassen, uns zu seinem Bruder oder sonst wohin zu bringen. Ich will hier weder frühstücken noch länger Annas und Claudios Gastfreundschaft genießen. Davon habe ich genug.
Die Wärme und der Herzschlag eines Menschen, der einem nahe ist, können unendlich wohltun, und so einsam ich mich auch in dieser Situation fühle, lullt mich das rhythmische Tumtum, Tumtum unter seiner Brust ein. Ich lege meine Hand darauf und stelle mir vor, dieses kleine Herz mit meinen Fingern zu umfassen. Ich halte es umschlossen, so ist es sicher, muss sich nie mehr fürchten oder aufgeregt sein. Ich brauche dieses Lebenszeichen wie ein neugeborenes Tier die Mutterwärme. So schlafe ich endlich ein.