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Träum ich oder wach ich?
Bruno
Jutta schnarcht laut vor sich hin. Überall riecht es nach Stroh. Hoffentlich wecke ich sie nicht. Wenn ich nur an den ganzen Ärger und die Schwierigkeiten denke … In meinem Kopf dreht sich alles, ich lege mich auf einen Haufen Stroh. Es piekt. Unruhig werfe ich mich von einer Seite auf die andere, aber ich kann nicht einschlafen. Draußen knabbert eine Ziege an etwas herum, und ständig bimmelt ihr Glöckchen. Etwas kitzelt mich an der Stirn, vielleicht eine Spinne, die von ihrem Netz herunterbaumelt, oder doch eine Stechmücke? Mit der Hand ertaste ich ein Strohbündel. Ich schiebe es mir unter den Kopf, als eine Art Kissenersatz. Aber was ist das? Es zerbröselt und löst sich in seine Bestandteile auf … Verdammt, das ist ja Ziegenscheiße!
Davon wird wohl noch mehr herumliegen. Ich bewege mich daher sehr vorsichtig. Vielleicht habe ich jetzt endlich die richtige Position gefunden. Während ich es mir bequem machen will, stoße ich mit den Knien an eine dieser Schubkarren, die wahrscheinlich zum Stallausmisten benutzt werden. Sie scheint leer und vor allem sauber zu sein. Langsam krieche ich vorwärts, dann klettere ich hinein. Jutta schnarcht weiter vor sich hin. Gelenkig wie ein Schlangenmensch schlüpfe ich aus meiner Jacke und decke mich damit zu. Ich versuche zu schlafen, aber die Nachwehen meines Rausches machen mir zu schaffen. Mir ist übel, alles dreht sich, ich habe einen so verfluchten Durst, dass ich auf einen Rutsch zehn Schweppes hinunterkippen könnte. Inzwischen hat sich zu den kribbelnden Ameisen in meinem Bauch eine Schar Zwerge gesellt, die auf meine Schläfen einhämmern. Jetzt würde ich Jutta nicht für Milch und Esel eintauschen, sondern für die Erfüllung mindestens eines der folgenden Wünsche: a) in fünf Minuten ist es acht Uhr morgens, b) ein Aspirin oder c) eine Zeitmaschine, die mich zurück nach Rom beamt.
Anders als bei früheren Besäufnissen kann ich mich diesmal an alles erinnern: mit wem ich getrunken habe, was ich getrunken habe und … o Gott, wie tief bin ich gesunken! Das darf doch nicht wahr sein. Auf Eseln nach Gesturi, das kann nur ein Traum sein!
Wie oft schon bin ich mit klopfendem Herzen aufgewacht, und es hat ein wenig gedauert, bis ich begriffen habe, dass alles nur ein Traum war! Die eigene Frau eine Ziege melken zu lassen, das ist so absurd, dass … Ich schließe die Augen und drehe mich auf die andere Seite, wobei ich hoffe, dass ich nicht mitsamt der Schubkarre umkippe. Ich muss unbedingt noch einmal in meinen Traum einsteigen, um zu sehen, wie er wohl ausgeht. Normalerweise klappt das … Verkaufen! Ja, genau, das habe ich getan: Ich habe Jutta für zwei Maultiere »verkauft«! Es wäre höchst interessant, diesen Traum zu deuten! Die eigene bessere Hälfte an einen ungehobelten, dickköpfigen sardischen Hirten mit großen, rauen und schwielenbedeckten Händen zu verkaufen!?
Jemand hat mal gesagt: »Gebt mir einen Traum, in dem ich leben kann, denn die Wirklichkeit bringt mich um.« Na ja, das kann ich im Moment nicht, aber wie gern hätte ich das geträumt! Doch keine Chance! Es ist also tatsächlich passiert. Ich sehe den nächsten Morgen vor mir: Jutta mit dem Eimer zwischen den Beinen, die eine Hand drückt das Euter und die andere zaghaft die Zitzen der Ziege. Verdammt, was habe ich da bloß angestellt! Sobald ich wieder in Rom bin, muss ich darüber mit einem meiner Freunde – einem Psychiater! – sprechen.
Dann schlafe ich ein.
Um mich herum springen lauter rosafarbene Schafe durch den Stall. Neben »meiner« Schubkarre steht eine zweite, in der Vladimir Putin mit drei jungen Steppenwölfen Karten spielt. Und statt Jutta liegt Jessica Rabbit, die Frau von Roger Rabbit, in einem verführerischen roten Kleid im Stroh, singt »My Way« und streichelt mein Knie. Hinter dem Melkstand schaut Freuds bebrillter Kopf hervor und schreit wie besessen: »Du bist einer meiner Fälle! Du bist einer meiner Fälle!« Außerdem sehe ich die Comic-Maus aus dieser italienischen Werbung für Parmesankäse, die mir erklärt, dass sie in Wirklichkeit gar nicht aus der Emilia stammt, sondern aus Sardinien und es hasst, im Fernsehen mit diesem dämlichen Akzent aufzutreten, aber leider brauche sie das Geld. Eine Fledermaus fliegt vor mir vorbei und sagt: »Du träumst, Bruno …«, dann verzieht sie sich wieder. Ich lasse mich überzeugen und versuche, mich zu kneifen, damit ich endlich aufwache. Keine Chance, alles wie gehabt. Zweimal kneifen. Nichts. Ich entreiße Jessica Rabbit das Mikrophon und schlage es mir auf den Kopf. Wieder nichts. Ich packe einen von Putins Wölfen und zwinge ihn, mich in den Arm zu beißen. Immer noch nichts. Da haben wir es: Ich versuche, mich mit der Schubkarre umzudrehen und … BUMMM! … Hurra, ich bin wach! Was für ein Traum!
Hier ist es immer noch stockdunkel, und ich komme mir vor, als wäre ich gerade einem Fantasyfilm entsprungen. Jutta schnarcht immer noch wie vorher. Nun weiß ich, wo sie ist. Ich gehe zu ihr, lege mich neben sie und nehme sie in den Arm. Ich will nicht an morgen denken. Ich muss weiterträumen. Ich zähle die Schafe im Flughafen: eins, zwei, drei, vier … Ich muss weiterschlafen, schlafen, weiterträumen …
Ein sonniger, aber nicht zu heißer Nachmittag in München; ich fahre auf meinem Rennrad die lange, romantische Nymphenburger Straße entlang, die vom Schloss zur Stadtmitte führt. Ich radele langsam und in Gedanken versunken vor mich hin (ich bin schließlich der Typ, der gar keine Auto hat!), und als ich vom Lenker hochschaue, sehe ich eine Frau vor mir. Was heißt hier Frau, die ist echt der Hammer! Sie erscheint mir wie eine Fata Morgana: Goldblonde lange Haare, ein helles körperbetontes T-Shirt, endlose Beine, die sich in wunderschönen Schuhen mit schwindelerregenden High Heels verjüngen (da können Juttas Sandaletten einfach nicht mithalten!). Die Erscheinung schaut weder nach rechts noch nach links, sie bewegt sich, nein, sie schreitet majestätisch vorwärts. Wirklich ein Superweib! Ich überhole sie und versuche zumindest das Profil dieser geheimnisvollen Signora im Gedächtnis abzuspeichern. Die Straße macht eine leichte Kurve, das reicht, um aus ihrem Blickfeld zu verschwinden. Urplötzlich überkommt mich brennender Durst. Ich nehme den Helm ab und setze mich auf ein Mäuerchen, wo ich ein wenig ängstlich warte. Sie wird doch wohl nicht – nein, das wäre zu grausam – umgekehrt sein? Nein, da ist sie ja, und sie kommt auf mich zu. Ich wage noch nicht aufzublicken. Mit gespielter Lässigkeit mache ich mich an meinem Handy zu schaffen und …
»Liebling, wo bist du?«
Jutta!