158711.fb2 Zwei Esel auf Sardinien - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 23

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3. Tag – Samstag

Im Olivenhain

Jutta

Wie wunderbar tief man schlafen kann, wenn Frieden herrscht und man in Liebe umschlungen ist! Ich habe die Nacht ohne Gespenster verbracht, nur mit harmlosen Träumen. Der Wind hatte sich völlig gelegt, und in die Gemäuer des Nuraghe drang die unangenehme Feuchtigkeit kaum ein. Vielleicht lag es auch daran, dass unser Bett aus Heu wirklich kuschelig war.

Unser Schlafplatz liegt tief versteckt in einem Olivenhain, und nur Bruno ist es zu verdanken, dass wir dieses Plätzchen gefunden haben. Mir wäre die Ansammlung von Steinen sicher gar nicht aufgefallen, so eingebettet zwischen all den Bäumen.

Deshalb bin ich auch erstaunt, ein Motorengeräusch zu hören, dem ein mehrstimmiges Gemurmel folgt. Für eine Gruppe Touristen, die eine Wanderung macht, ist es viel zu früh. Die Sonne ist doch gerade erst aufgegangen, und doch scheint ganz in unserer Nähe geschäftiges Treiben zu herrschen. Um meine Neugierde zu befriedigen, muss ich mich vorsichtig aus Brunos Armen schälen, da er noch tief schläft und ich ihn ungern wecken will. Diesmal wartet ja niemand auf uns, und wir können selbst bestimmen, wann wir unseren Weg fortsetzen wollen. Vorsichtig befreie ich mich aus seiner Umarmung und krabbele nach draußen. Unsere Eselchen stehen noch brav, einen Hinterlauf angewinkelt, in ihrer Schlafhaltung da. Ein Wunder, hatte ich doch insgeheim befürchtet, dass sie sich aus dem Staub machen würden. Das Heu haben sie aufgefressen, also nehme ich ein neues Bündel mit und lege es zwischen die beiden. Sofort wachen sie auf, schürzen die Lippen und stoßen lange »Iiiiiiiaaaaas« aus. Ich nehme mal an, vor Begeisterung. Ich streichle sie, und sie tänzeln, soweit es die Stricke erlauben, hin und her. Alles findet nicht gerade leise statt, so dass auch Bruno verschlafen hervorkriecht. In seinen Haaren hängt Heu.

Der Lärm, den wir allesamt veranstaltet haben, lockt eine Gruppe schwarzhäutiger Menschen an. Sicherlich zwanzig Männer und Frauen sind zu sehen. Einige halten lange Holzstangen in der Hand, andere große Netze. Neugierig lugen sie zu uns herüber.

Etwas verlegen rufe ich ihnen ein zaghaftes »Buon giorno« entgegen.

Sie erwidern unseren Gruß und drehen sich von uns weg, als wäre es das Selbstverständlichste, zwei reichlich desolat aussehende Europäer in Begleitung zweier Mulis in einer Nuraghe-Ruine inmitten eines völlig unbesiedelten Agrarlandes vorzufinden.

Ich schaue ihnen zu, wie sie mit eleganten Bewegungen ihre Netze rund um die Olivenbäume auslegen. Erst entwirren sie sie, zupfen kleine Äste und Blätter heraus, dann schwingen sie sie weit ausladend in die Höhe, wo sich die letzten Knäuel lösen, um sie dann sanft auf den Boden gleiten zu lassen. Eine gelassene Heiterkeit geht von ihnen aus. Sie kommen von weit her und haben ihre Heimat verlassen. Dies wäre Anlass genug, um traurig und resigniert zu sein, aber sie scheinen sich in ihr Schicksal gefügt zu haben und glücklich zu sein, in ihrer Gemeinschaft ein Auskommen gefunden zu haben. Sie schwätzen und lachen, zu Beginn eines sicherlich anstrengenden Tages, an dem sie stumpfsinnige Arbeit erwartet.

Vielleicht empfinde auch nur ich Olivenpflücken als eintönig. Möglicherweise lassen sich dabei Pläne für die Zukunft schmieden oder Probleme lösen, gerade wegen der Monotonie der Bewegungen. Was weiß ich schon davon? Die Frauen tragen ihre traditionelle Kleidung, sie haben bunte Tücher in leuchtenden Farben um Kopf und Körper geschlungen. Auf dem Boden sind noch mehr Tücher ausgebreitet.

Körbe stehen bereit, die kleinen runden Früchte aufzunehmen, einige jedoch scheinen bereits mit Essbarem gefüllt zu sein. Sie werden ausgepackt, und eine der Frauen beginnt eine Weise zu singen, in die die anderen einfallen. Ich schließe die Augen und lasse die Wellen dieser Musik wie ein Morgengebet über mich kommen. Sie lullen mich ein, wiegen mich in ihrem Singsang, Wärme breitet sich in mir aus, und augenblicklich summe ich leise mit. Aus welchem Land die Menschen wohl kommen?

Verstohlen blicken sie zu uns herüber. Ich winke ihnen zu, einige lächeln mich an. So trete ich etwas näher, schaue mich nach Bruno um, ob er mir folgt. Er jedoch konzentriert sich eher auf die Männer, geht ihnen entgegen und beginnt mit ihnen ein Gespräch. Nun bin ich nah genug bei den Frauen, um sie genauer betrachten zu können und um ihnen zu signalisieren, dass unsere Anwesenheit keinerlei Gefahr bedeutet. Die Sorge erübrigt sich sowieso angesichts unseres Aussehens. Geradezu lächerlich komme ich mir vor, ungewaschen und zerknittert. Ich geniere mich gründlich und bleibe auf Abstand, aber die freundlichen Mienen deuten eine Einladung an, näher zu kommen. Das kann ich kaum abschlagen, verspricht die Einladung doch Gutes. Große Thermoskannen stehen da, daneben Becher, Holzbretter mit duftendem Stangenbrot, Käse, Speck und Schinken, Eiern, Tomaten und getrocknetem Fisch. Man reicht mir ein Stück Brot, und all mein Widerstand löst sich auf, der Hunger siegt. Auch die Aussicht, in dieser freundlichen und geselligen Runde den Tag zu beginnen, der für uns so ungewiss ist, verlockt über alle Maßen. Sie lachen und schwatzen untereinander französisch mit lustigem Zungenschlag. Als sie merken, dass ich sie nicht so recht verstehe, da auch diese Sprache von einem Dialekt gefärbt ist und sie zudem sehr schnell sprechen, fallen sie in ein Gemisch aus Englisch mit italienischen Wörtern, welches mir nur zu gut bekannt ist, spreche ich doch mit Bruno seit Jahren »Dinglisch«.

Sie kommen von der Elfenbeinküste und sind Saisonarbeiter, die aber hauptsächlich für einen vornehmen Herrn arbeiten. Er hat sie am Morgen mit seinem großen Wagen gebracht und holt sie vor Sonnenuntergang wieder mit den Oliven ab.

Er lebt auf einem riesigen Gut mit Gesindehäusern, in denen sie wohnen; sogar fließendes Wasser gibt es dort, und die Bezahlung ist in Ordnung. Wenn es nichts zu pflücken gibt, verrichten sie andere Arbeiten. Die Männer auf den Feldern in der Umgebung und auch an Gebäuden, und die Frauen waschen Wäsche und putzen Gemüse für die Märkte. Es gäbe immer was zu tun, und auch mal faul sein wäre nicht schlecht, geben sie kichernd zu. Zwei Frauen deuten auf ihre schwangeren Bäuche und kriegen sich gar nicht mehr ein vor Lachen.

Keine fragt sich anscheinend, warum ich so heruntergekommen aussehe, und sofort fühle ich mich etwas weniger schmuddelig.

Bruno kommt nun auch mit einigen Männern zu uns an den reichgedeckten Gabentisch und blickt begierig darauf.

Wir setzen uns alle auf den Boden und begrüßen uns herzlich. Zigmal muss ich unter dem Kichern der Damen meinen Namen wiederholen, da er offenbar für sie äußerst exotisch klingt. Sie wiederholen ihn immer wieder mit verschiedener Klangfärbung.

»Uuda, Uddda, Hudda.« Warum nur haben mich meine Eltern nicht einfach Maria getauft, das kennt jeder.

Doch nun geht es an die Arbeit. Tausende Oliven warten darauf, heute geerntet zu werden. Bruno hatte mich nach dem Frühstück zur Seite genommen und mir seinen Plan erläutert. Gestern haben wir uns hoffnungslos verfranst. Die Aussicht, gemeinsam mit unseren Eseln noch auf den richtigen Pfad zu kommen, den hier keiner kennt, da sie alle ortsunkundig sind und wir auch den Namen des kleinen Dörfchens nicht kennen, ist zweifelhaft. So haben wir abgewägt und uns entschlossen, auf den Gutshofbesitzer zu warten. Ich hoffe, er kennt Claudio und Anna und wir können die Esel bei ihm lassen. Maurizio könnte uns dann dort abholen, und unsere Odyssee hätte ein Ende.

Und so kommt es, dass ich unverhofft zur Olivensortiererin aufsteige. Ganz schwierig wird es, wenn du glaubst, du hast eine reife Olive in den Händen, dabei ist es nur eine unreife grüne. Das geht ja gar nicht! Vermischt werden darf hier nichts, alles muss streng getrennt werden, und zwar nach Geschmack und Größe. Bestimmt wird beim Sortieren bereits berücksichtigt, in welcher Salzlauge die kleine Olive eingelegt wird. Na großartig, für mein Temperament genau die richtige Arbeit!

Aber die Stimmung unter diesen freundlichen Pflückern ist derart gut, dass ich mit Vergnügen dabei bin, zumal das Frühstück vom Feinsten war. Der Kaffee hat meine Lebensgeister geweckt, und dieses frische Brot mit Olivenöl und Schinken ist einfach zum Niederknien.

Neben mir, auf einem vom vielen Waschen ausgebleichten afrikanischen Tuch, sitzen vier Frauen, deren Gesichter nicht unterschiedlicher sein könnten. Offensichtlich stammen sie aus verschiedenen Regionen. Die eine hat ein eher hageres nordafrikanisches Gesicht, die andere dagegen ein rundes, weiches, sehr schwarzes. Die dritte Frau hat arabische Züge und ist die stillste von allen, während die vierte kichernd auf ihren Knien herumrutscht, um eine bequeme Sitzhaltung neben dem Berg von Oliven zu finden. So ein langer Lulatsch, denke ich mir. Ich frage sie, woher sie kommt. Aus dem Senegal, sagt sie, und da drüben sei ihr Mann. Stolz zeigt sie in Richtung einer Gruppe von Männern.

»Und du, woher stammst du?«, frage ich die Stille.

»Aus Mali«, sagt sie leise. Zu gerne würde ich jetzt weiterfragen, mich nach ihren Schicksalen erkundigen. Wie kommen diese Menschen hierher, und was erhoffen sie sich von einer italienischen Insel? Sind sie illegal hier und werden als Arbeiter ausgebeutet, oder wurden sie bereits legal in Italien aufgenommen und können über ihr Geld verfügen? Sparen sie Geld, um als reiche Menschen in ihre Heimat zurückzukehren, oder wollen sie sich hier eine Existenz aufbauen? Tausend Fragen hätte ich in meiner Neugier, aber auch ich bin schüchtern. So stelle ich mich erst einmal vor und erzähle von meinen beiden Töchtern und was ich so mache, als Hausfrau, von meinem Hund und natürlich von Bruno, den sie neugierig mustern. Ich erzähle, was uns die letzten beiden Tage passiert ist. Die Stimmung wird immer besser auf unserer kleinen Tuchinsel, und die vier lachen und lachen. Na ja, so komisch finde ich unsere Geschichte nun auch nicht, und ich hege den Verdacht, dass sie entweder sehr höflich sind oder mich eigentlich gar nicht verstehen. Ganz selbstverständlich bin ich davon ausgegangen, dass sie alle Englisch sprechen, aber wer weiß?

Die Stille ist sichtlich aufgeschlossener geworden, denn sie fängt an, mir etwas auf Französisch zu erzählen. Ich frage sie, ob sie auch ein bisschen Italienisch spricht, denn in Französisch bin ich so begabt wie in Italienisch, äußerst bescheiden, aber im Mischmasch geht es vielleicht.

»Mein Name ist Verenice«, sagt sie in entzückendem Singsang, »und ich lebe hier mit meiner vierjährigen Tochter, die auf Sizilien geboren wurde. Seit zwei Jahren darf ich auf dem Hof von Marchese de Valdes leben und für ihn arbeiten.« Sie habe endlich die Aufenthaltsgenehmigung bekommen, da ihr Kind in Italien geboren sei. Einen Mann habe sie nicht, vor ihm und seiner schrecklichen Familie sei sie geflohen, gerade noch rechtzeitig, bevor ihre Schwangerschaft sichtbar geworden sei. Sie sei zu dieser Ehe gezwungen worden, der Vater habe dafür eine Kuh und zwei Schafe bekommen. Sie sei immer noch sehr traurig darüber.

»Ich bin in Mali geboren.« Sie sieht mich mit ihren dunklen mandelförmigen Augen intensiv an. »Genau im Dreieck zwischen Algerien und Mauretanien. Ich stamme aus einer Bauernfamilie und habe sieben Geschwister. Mein ältester Bruder ist sehr klug, er ist auf eine höhere Schule gegangen und hat studiert. Er ist Zahnarzt, und alle aus dem Dorf gehen zu ihm hin. Ihn liebe ich besonders, er hat mich immer beschützt, und auch als ich verheiratet wurde, hat er gesehen, dass es mir nicht gutgeht. Er hat mir geholfen zu fliehen, hat ein Auto organisiert, in dem ich mich verstecken konnte. Hat mir Geld gegeben, damit ich auf der Flucht nicht verhungere, und die Adresse eines österreichischen Touristen, dem er vor Jahren geholfen hat. Aber so weit bin ich nicht gekommen. Ich weiß auch nicht, wo Österreich liegt, und hier geht’s mir gut.«

Nun will ich es aber doch genauer wissen, so bitte ich Verenice, mir von ihrer Flucht zu erzählen. Meine Bewunderung für diese mutige und tapfere Frau wächst ins Unermessliche.

»Das Auto hat mich an die Grenze zu Algerien gebracht. Hohe Berge gibt es dort, und man hat mir gesagt, ich muss aufpassen, dass mich keine Soldaten finden, denn sie würden mich sofort erschießen. Dann habe ich noch einen Beutel mit Essen bekommen und eine Flasche Wasser. Ich hatte solche Angst, dass ich nur nachts gelaufen bin. Am Tag habe ich mich versteckt und mir die Richtung eingeprägt, aber ich habe nie gewusst, wohin ich gehe. Gegessen habe ich alles, was ich finden konnte, Käfer, Würmer, Kräuter, und wo immer ich Wasser fand, habe ich so viel getrunken, wie mein Körper aufnehmen konnte. Irgendwann kam ich in ein Dorf, dort habe ich mich versteckt und alles beobachtet. Es gab einen Laden dort, und der wurde beliefert. Man sprach Französisch, und so konnte ich den Fahrer belauschen, als er sich mit jemandem unterhielt. Sie haben über Marokko und die guten Tomaten und Früchte gesprochen und dass er jemanden kenne, mit dem er tauschen würde. In den nächsten Tagen würde er von hier Holz mitnehmen und bekäme dann im Gegenzug frische Lebensmittel, die er dann hierherbringen würde. Ich sah meine Chance und musste nur aufpassen, dass ich die Fuhre nicht verschlafe. Das Baby in mir machte mich immer so müde. Zwei Tage später habe ich mich dann im Laderaum versteckt, und wir fuhren los. Hinter dem Laden gab es Hühner, und alles, was nicht mehr so gut war, wurde hinter das Haus gekippt. Ich habe Kohl und Salat gefunden und auch altes Brot. Davon habe ich mich ernährt.

Meine Reise war unendlich lang. Immer wieder bin ich auf Lastwagen heimlich mitgefahren, denn ich habe große Angst gehabt, vergewaltigt zu werden, wenn sie mich entdecken würden, aber ich hatte Glück. Bei einem Lastwagen, mit dem ich über die Berge ans Meer fuhr, kam der Fahrer aus Deutschland. Er fand mich, als er irgendetwas an seiner Ladung in Ordnung bringen musste. Er hat mich bei sich weiterfahren lassen und mir zu essen und zu trinken gegeben. Wir sind in einer großen Stadt angekommen, heute weiß ich, dass es Tanger war. Dort musste ich ihn verlassen. Wir waren am Hafen, und ich wusste nicht weiter. Meine Verzweiflung und meine Sehnsucht, nach Hause zurückzukehren, waren so groß. Mein Bauch jedoch auch, und ich wusste, dass ich nicht mehr viel Zeit hatte. Zurück konnte ich nicht mehr, also musste ich nach Österreich kommen, und das ging nur über das Meer. Tagelang versuchte ich eine Möglichkeit zu finden, auf eines der großen Schiffe zu kommen, aber die wurden bewacht, und ich durfte nicht der Polizei in die Arme laufen. Auf dem riesigen Hafengelände arbeiteten viele Afrikaner, einer hatte mich bemerkt und sprach mich an. Zuerst hatte ich große Angst, aber er war nett und versprach, mir zu helfen. Er nahm mich mit in ein Lokal und gab mir eine warme Mahlzeit. Huhn mit Gemüse und Couscous. In meinem ganzen Leben werde ich diesen göttlichen Geschmack nicht mehr vergessen!

Dieser Afrikaner hat mich einem anderen Mann vorgestellt. Er war aus Tunesien, und er kannte jemand, der ein Boot hatte. Er nahm alles Geld, was ich hatte, und brachte mich bei Nacht ein paar Tage später zu einem versteckt liegenden kleinen Schiff. Es waren bereits ganz viele Menschen darauf, und man konnte nur stehen, als wir auf das Meer hinausfuhren. Ich hatte wiederum Glück, weil ich in der Mitte stand und mich an der Kajüte festhalten konnte. Das Schiff hatte einen starken Motor, und wir kamen gut voran. Man sagte mir, wir würden bei Nacht in Italien ankommen, und da würde jemand auf uns warten, der uns weiterhilft. Die Fahrt sei nur kurz, denn das Meer war hier nur ein paar Kilometer breit. Nach ein paar Stunden jedoch ging unser Motor kaputt, oder wir hatten kein Benzin mehr. Das Meer trieb uns immer weiter vom Land weg, und es kam ein schrecklicher Wind auf. Allen war schlecht, und wir mussten uns übergeben. Das Boot schaukelte gefährlich hin und her, ich hatte Todesangst. Nach einiger Zeit fiel ein Mann von Bord, er konnte nicht schwimmen, und als andere versuchten, ihn rauszuziehen, hat er sie ins Meer mitgenommen. Es brach Panik aus, und alle schrien in der Dunkelheit durcheinander. Ich habe mich festgeklammert und gebetet. Unser Boot lief langsam voll Wasser, und ich dachte, das würde ich nicht überleben. Mein Kind würde niemals geboren werden, und ich könnte niemals frei sein! Dann ging alles ganz schnell. Lichter tauchten vor uns auf, und wir hörten laute Rufe. Fast hätten uns zwei Fischkutter überfahren. Sie hielten an und retteten uns vor dem Ertrinken. Sie nahmen uns an Bord und verständigten, wie ich später erfuhr, eine wohl in der Nähe liegende Insel mit dem Namen Lampedusa. Man wollte nicht, dass wir da hinkommen, und versuchte uns mit anderen Schiffen abzudrängen, aber der Kapitän hat es geschafft anzulegen. Ein Helikopter brachte mich und eine andere Schwangere nach Sizilien in ein Hospital. So wurde mein Kind in Palermo geboren, und wie durch ein Wunder haben wir beide überlebt.«

Die Schlichtheit, mit der mir Verenice ihre Geschichte erzählt, wirft mich um. Tränen laufen mir runter, und ich umarme sie. Wie viel schreckliche Details sie ausgelassen hat, um mich zu schonen, möchte ich mir gar nicht vorstellen.

Mittlerweile haben wir alle Oliven sortiert.

Die Männer entleeren wieder ihre Körbe auf die Tücher.

Bewundernd schaue ich zu meinem Bruno. Selten, oder eigentlich noch nie, habe ich ihn so richtig körperlich arbeiten sehen. Bruno ist der Mann, wie meine Mutter so schön sagt, der den Garten ansieht, während andere ihn bestellen. Auch wenn er mit mir mal kocht, isst er eigentlich nur, er behauptet, mir zu helfen, aber stibitzt nur mein Geschnippeltes. Selbst abspülen darf ich ganz alleine, da will er mich nicht stören. Aber hier! Ich bin erstaunt! Vielleicht merkt er gar nicht, dass er arbeitet, so angeregt ist das Gespräch unter den Männern. Worüber sie wohl reden? Ob sie ihm auch Fluchtgeschichten erzählen, oder sind es so typische Männergeschichten über alte Lieben, versoffene Nächte und ordentliche Schlägereien? Ich werde ihn später ausquetschen, nehme ich mir ganz fest vor. Heute Nacht werde ich ja gottlob endlich in meinem hoffentlich gemütlichen Hotelbett schlafen. Eine Gesichtsmaske werde ich mir auflegen, damit ich morgen bei der Hochzeit schön bin! Wenn bloß die Koffer angekommen sind, mein neues kobaltblaues Kleid wird gänzlich verknautscht sein! Aber es gibt bestimmt irgendwo ein Bügeleisen! Was mach ich mir über solche Kleinigkeiten Sorgen, nach den drei Tagen, die ich beinahe hinter mir habe?

So vergeht dieser Tag mit viel Lachen und Reden. Da wir fleißige Helfer sind, dürfen wir auch am Mittagstisch teilhaben. Es gibt Salat aus Hirse mit kleingeschnittenen Gemüsestückchen, das übriggebliebene Brot und den Käse. Man isst mit den Fingern, Afrika auf Sardinien, sehr lustig. Auch die anderen Frauen öffnen sich für Gespräche, und so erfahre ich Schicksale, die mich ganz demütig machen, angesichts meiner läppischen Unannehmlichkeiten der letzten Tage. Wie viel Grausamkeiten es auf dieser Welt gibt, und was ein Mensch alles aushalten kann. Welche Demütigungen er zu ertragen hat, wie er seinen Stolz begraben muss, um überleben zu können, und welche Heiterkeit er sich trotzdem bewahren kann. Niemand kann sich aussuchen, in welchem Teil dieser Erde er geboren wird, aber ein jeder hat die Möglichkeit, für ein besseres Leben zu kämpfen. Diese Menschen, die uns so freundlich aufgenommen haben und das bisschen, was sie haben, mit uns teilen, haben unter Einsatz ihres Lebens gekämpft. Ich hoffe für sie, nicht vergeblich.