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Regenküsse
Bruno
Während wir auf den kleinen Hügel steigen, wo der Nuraghe liegt, verfolgen uns seltsame Wolken, als wollten sie uns etwas ankündigen. Fil’e und Ferru, die an einem Busch festgebunden sind, fangen an zu stampfen und ziehen die Oberlippe hoch. Vielleicht jagt ihnen ja dieser Horizont Angst ein, der sich so verfärbt hat, jedenfalls reißt Ferru sich plötzlich los und galoppiert davon wie ein Irrer. Jutta versucht Fil’e zu bändigen, der natürlich hinterherwill. Irgendwie gelingt es ihr, das Maultier bei dem Nuraghe anzubinden. Ich verfolge unterdessen Ferru. Ich weiß nicht, wie, aber er hat es geschafft, einen ein Meter hohen Stacheldrahtzaun zu überspringen, und versteckt sich jetzt hinter einem riesigen Strohrad. Da er sich nun in Sicherheit glaubt, legt er sich hin und reibt sich den Rücken am Boden. Der Himmel verfinstert sich immer mehr, und die dicken Wolken scheinen gleich unter ihrer Regenlast zu platzen. Das scheint Ferru unheimlich zu sein, denn er kommt zu mir zurück. Mühsam, von Baum zu Baum, geht es zurück zum Nuraghe. Es ist fünf Uhr. Zuerst gibt es einen Blitz. Dann einen laut dröhnenden Donner. Es fängt an zu regnen, und Valdes lässt sich nicht blicken. Die beiden Tiere strecken uns ihre Mäuler hin, als wollten sie uns mit dem Hals umarmen. Der warme Atem aus ihren Nüstern streichelt unsere Gesichter, und wir erwidern gern ihre Liebkosungen. Ein unbeschreibliches Gefühl. Jetzt haben wir schon über einen Tag nicht auf ihnen gesessen, und da fehlen sie uns bereits. Was für eine Szene! Erst die Wolken, dann der Regen und das Gewitter und wir vier unter einem Netz, das wir zum Schutz über uns gebreitet haben.
Wir küssen uns. Diesmal mit Leidenschaft. Wie im Film. Diese ganze Reise ist wie ein Film, und das könnte die letzte, die Schlüsselszene sein, in der sich die Helden heftig und leidenschaftlich im Regen küssen. In diesem Moment muss ich an den Kuss aus Frühstück bei Tiffany’s denken, wo sie sich ganz zum Schluss verzweifelt küssen, während es wie aus Eimern gießt. Aber das hier ist kein Film, und unser Kuss dauert auch nicht sehr lange, weil ich niesen muss: Hatschiii! Wenn es weiter so schüttet, werden wir noch krank, und wenn Valdes uns nicht holen kommt, müssen wir die ganze Nacht mit nassen Klamotten und Haaren herumlaufen.
»So holen wir uns noch Schnupfen, Husten und eine Lungenentzündung obendrein!«
Während es weiter regnet und donnert, fällt mir nichts Besseres ein, um die Zeit zu vertreiben, als mit lauter Stimme jede Menge Blödsinn über berühmte Küsse im Regen vor mich hin zu monologisieren.
»Der dauert ja nicht nur zwei Minuten … nein … da ist ja noch der ganze Streit vorher im Taxi, ungefähr eine Minute lang, dann der intensive Blick, wenn sie aus dem Taxi steigen … das ist noch einmal eine Minute … dann die zwei Minuten im strömenden Regen, und Audrey Hepburn muss auch schön niesen. Dann, warte, kommt die Szene … Haatschii!«
»Gesundheit!«
»Danke, und denk doch nur an diese andere Feuchtküsserei mit Tom Hanks und Helen Hunt in Cast away …«
»Lustig war das in Vier Hochzeiten und ein Todesfall.«
»Phhh, noch lustiger war der in Spider-Man, wo sie ihn küsst, während er kopfüber hängt!«
»Na ja, unser Kuss könnte auch ganz schön romantisch sein, wenn du dir nur diese großen Tropfen unter der Nase abwischen würdest!«
»Weißt du, Jutta, was die Stimme aus dem Off am Anfang von The Portrait of a Lady mit Nicole Kidman erzählt? ›Der schönste Moment eines Kusses ist, wenn du siehst, wie sein Gesicht immer näher kommt und du begreifst, dass er dich gleich küssen wird. Dieser Augenblick davor ist etwas Wunderbares.‹«
Von Nordwesten kommt ein heftiger Wind auf.
»Spürst du den Mistral, amore? Der alles fortweht, auch die Traurigkeit.«
Unser Kuss wird wieder leidenschaftlicher. Plötzlich versucht Jutta, sich aus meiner Umarmung zu lösen, als ob sie etwas gesehen hätte. Sie holt Luft und will mir etwas sagen, aber ich verstehe sie nicht beziehungsweise verstehe sie falsch. Ich komme noch näher, ziehe sie fest an mich und verschließe ihr die Lippen mit einem neuerlichen Kuss. Wie überwältigt weicht sie vor mir zurück. Mit einer Hand wühle ich ungeschickt in ihren feuchten Haaren. Wieder suchen meine Lippen die ihren, aber nicht mehr zärtlich, sondern wie ausgehungert. Nicht einmal das Phantom der Oper hätte das besser hingekriegt. Ich sehe, wie sich ihre Augen weiten, als sähe sie das abscheulichste Monster auf Erden vor sich. Fast schon glaube ich, dass ich sie mit meiner Glut erschreckt habe. Doch ihr letzter Schrei ist mehr als deutlich:
»FERRU IST WEG! ER IST WIEDER AUSGEBÜXT!«
Ich glaube fest daran, dass der Esel nicht allzu weit fortgelaufen ist. Die hohen Schornsteine dort hinten werden wohl zu dem Zementwerk gehören, auf das Yassouf vorhin so geschimpft hat. Der verdammte Staub, der dort entsteht, legt sich auf alle Pflanzen in der Gegend und richtet an den Olivenbäumen gewaltigen Schaden an. Die angeschlossenen Gruben, in denen Kalk und Sand abgebaut wird, verschandeln die Landschaft und vernichten auf dramatische Weise das kulturelle Erbe dieser Insel. Wieder so ein Fall in unserem Italien, wo alles wirtschaftlichen und politischen Interessen geopfert wird. Vielleicht sollte ich da nach ihm suchen? Die Hügel sind dicht mit Steineichenwäldern und Buschwerk von Myrte bewachsen. Die Gegend hier ist völlig verlassen. Ich bin mutterseelenallein in der feierlichen Stille dieses Abends.
»FERRU! FERRU!«
Nichts. Nicht einmal ein »Ii-aah« aus weiter Ferne. Jetzt sehe ich das Zementwerk deutlich vor mir liegen. Aus einem der Schornsteine quillt noch Rauch. Lastwagen parken vor dem Haupttor. Jemand hat mal gesagt, auf Sardinien könne man wie im Paradies leben. Das stimmt. Aber wenn ich an diese Monster aus Stahl und Gummi denken muss, die soeben wieder einen Kalksteinbruch ausgebeutet haben, werde ich nachdenklich. Könnte dieser Kalkstein doch nur reden! Wieder schiebt sich ein Lastwagen in die Basis: Wie ein Schleier liegt der Staub in der Luft. Zwei Gestalten mit einem Bauhelm auf dem Kopf steigen herab … Ich kann sie vor mir sehen, wie sie am Rand einer Grube darauf warten, dass der Sprengmeister die Ladung zündet. Gespannt lauern sie auf den Donner der Explosion. Und dann ist er da, der Moment, wenn die Erde unter ihren Füßen bebt und die kleinsten Steinchen zu zittern beginnen, als ob sie irgendeine unsichtbare Hand sieben wollte. BUUMM! Ich sehe, wie nach der Zündung Staub aufsteigt und auf halber Höhe in der Luft stehen bleibt. Der Sprengmeister freut sich, während der Baggerführer seine kraftvolle Maschine anwirft. Der lange Schaufelarm setzt gleich am tiefsten Punkt an, um das Gestein abzubauen. Die Arbeit ist beendet. Langsam legt sich der Staub, und die beiden machen sich wieder zum Zementwerk auf. In der Luft bleibt der staubige Schweif eines verhängnisvollen Kometen zurück.
Plötzlich taucht eine geisterhafte Erscheinung aus dem Nichts vor mir auf. Ferru! Energisch schüttelt er sich den Staub ab. Folgsam kommt er auf mich zu und fordert mich mit seinem Blick auf aufzusitzen. Einsam reiten wir über die weiße Straße, die uns zurück zum Nuraghe bringt. Die Natur scheint sich vom Gewitter zu erholen. Die Luft ist wieder warm, und man sieht schon die ersten Sterne. Ich blicke wie durch ein Fenster auf das vor mir liegende Tal, betrachte die still vor mir liegende Welt, alles ist ruhig und friedlich. Ich denke – fasziniert von der Vorstellung – an die unendlichen Staus auf den Autobahnen, an lange Schlangen vor Schaltern, beim Bäcker, in den Gässchen der Ferienorte und am Strand. Ich lehne den Fortschritt ja gar nicht ab, oder alles Moderne, ganz im Gegenteil. Vielleicht habe ich mich gerade ein wenig zu sehr über die Zementwerke aufgeregt. Aber ich wehre mich dagegen, welches Leben uns dieser Fortschritt aufzwingt. Auf einem Esel zu reiten ist unbequem, das weiß ich selbst. Aber bei den steigenden Benzinpreisen verschwendet man vielleicht mal einen Gedanken daran. Der Fortschritt ist nicht aufzuhalten. Warum also ein eher unbequemes Transportmittel benutzen, das schwitzt, das müde wird, das gepflegt werden muss und sehr langsam ist? Darauf gibt es eine gute Antwort: Der Esel ist ein lebendiges Wesen. Er braucht uns. Er versteht uns. Ihm geht es gut, wenn wir uns bessern. Er ermöglicht uns einen erholsamen Kontakt zu der Natur, in einer stillen, unbekannten Landschaft.
Der Mond scheint. Sein Licht, das sich auf dem noch feuchten weißen Kies spiegelt, ist ein schweigsamer Freund, der uns stetig folgt, ohne uns zu stören. Wir gehen im Schritt, und ich streichle den Esel. Ein Ausdruck meiner Dankbarkeit. Was für ein schönes Gefühl, auf der Welt zu sein und diese beiden Ohren vor sich zu beobachten, die glücklich zucken, weil sie ihren Herrn wiedergefunden haben. Ein stummes Dankgebet steigt in mir auf. Danke, mein Freund! Wir sind gleich da. Wenn ich auf deinem Rücken mit fünf oder sechs Kilometern in der Stunde unterwegs bin, dann genieße ich jeden zurückgelegten Meter, jede Pflanze auf deinem Weg, jeden Wurm, den du nicht zertrampelst und der sich nicht vor dem gleichförmigen Klappern deiner Hufe erschreckt. Was für ein unbeschreiblicher Duft steigt von diesen Myrtenbüschen auf! Jetzt sind wir schon auf dem vorletzten Stück Weg vor dem Olivenhain. Wir bewegen uns nun in leichtem, gleichmäßigem Galopp vorwärts. Noch ein kurzes Stück hinunter, und dann wird es eben. Ein großartiges Gefühl, das nur der verstehen kann, der es selbst erlebt hat. Im Grunde genommen müssen wir selbst entscheiden, wie wir leben wollen. Und wenn wir schon auf so vieles verzichten wollen, kann uns doch ein Ausschnitt, ein kurzes Eintauchen in die Schöpfung mehr bringen, als wir zu hoffen wagen.
Ein Fuchs oder ein Hase flitzt vor uns über die Straße. Ich bewundere die Granitfelsen des Linas-Gebirges vor dem verschwommenen Horizont. Noch ein Stück, und wir haben es geschafft. Jutta und der Marchese erwarten uns. Der Jeep mit dem Pferdeanhänger parkt vor dem Nuraghe. Wir sind zurück. Geraldo Valdes freut sich wie ein kleines Kind und sieht mich wieder mit einem breiten Lächeln an.
Hoch über uns leuchtet strahlend der Mond, aber noch mehr strahle ich bei der Aussicht auf etwas Wärmendes, das bald für uns bereit ist.
Der Jeep mit dem Pferdeanhänger fährt die lange beleuchtete Allee hinauf, die zum Eingang des alten Anwesens führt. Es geht auf das fünfzehnte Jahrhundert zurück und ist seitdem im Besitz der angesehenen Familie, deren Namen es trägt. Der gesamte Gebäudekomplex wurde auf Betreiben des Marchese von Grund auf renoviert, doch er betont ausdrücklich, dass er dies ohne professionelle Hilfe geschafft hat und es nur nach seinem Geschmack herrichten ließ. Es ist zu einem charmanten Anwesen geworden. Wir parken unter einem breiten Bogengang mit zwei großen Blumentöpfen aus Sandstein. Dann steigen wir aus und überlassen die Esel der Obhut des Stallknechts.