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Die spanische Invasion
Bruno
Jutta ist schon schlafen gegangen. Die Stimmung bei Tisch war heiter und gelöst. Unnötig zu erwähnen, wie köstlich das Essen war. Höchstens am Dessert hätte ich etwas zu kritisieren: Tiramisu mit Granatapfelkernen!! Dafür habe mich beim Trinken zurückgehalten und nur ein Gläschen roten Myrtenlikör für die Verdauung angenommen. Nun würde ich mich auch nur zu gern ins Bett verabschieden, aber ich kann den Marchese nicht allein sitzen lassen, der anscheinend noch ein wenig unterhalten sein möchte. Wir ziehen nach nebenan in die Bibliothek, wo mir Don Geraldo seine wertvolle Sammlung alter Bücher und Handschriften zeigt. Vor allem interessiert er sich für Ahnenkunde, Heraldik und Heimatgeschichte. Er hat selbst zahlreiche Schriften veröffentlicht, gibt daneben Studien regionaler Autoren heraus und beschäftigt sich selbstverständlich auch mit der Geschichte seiner Familie, deren soeben fertiggestellten illustrierten Stammbaum er mir ganz stolz zeigt. Ich muss gestehen, dass im Familienzweig von Fernando Sanchez Rodriguez die schöneren Porträts zu finden sind, während es bei den zahlreichen Del Carmen d’Alagona Valdes im besten Fall vor Höcker- und Hakennasen nur so wimmelt. Und je weiter ich zurückgehe, desto häufiger stoße ich auf schiefe Münder, Segelohren und hervortretende Augen. Alles in allem ist das Schicksal sehr gütig zum Marchese gewesen, der außer Nachnamen und einem Leberfleck am Hals fast nichts von der mütterlichen Seite geerbt hat. Und in diesem Moment gewährt mir der Hausherr auch einen Einblick in seinen großen Sinn für Humor. Ich sehe, dass der Marchese neben jedem Namen auf dem Stammbaum einen Spitznamen notiert hat, damit er sich besser an ihn erinnert. Für die beiden wichtigsten Familienzweige, also die Fernando und die d’Alagona, greift er auf die Welt der Ducks und der Simpsons zurück. Der Urahn Joaquin Fernando heißt dort Onkel Dagobert (und eine seiner Großmütter, Almundina, Oma Duck, ihre drei Enkel Raimund, Ignacio und Dolores sind Tick, Trick und Track), dann stehen auf der anderen Seite der Familienlinie die Fürsten Isabella d’Alagona und Manuel Valdes oder besser gesagt Abraham und Mona (und weiter unten dann ihre Kinder Edmundo und Cristiano alias Herb und Homer). Doch abgesehen von Familienkunde und solchen Scherzen gibt mir der Marchese einen erhellenden Überblick über die spanische Invasion und den Aufstieg der aragonischen Königsdynastie in Sardinien. Alles begann, als der damalige Papst Bonifatius der Achte, der mit dem antikatholischen Verhalten der Sarden unzufrieden war, 1296 beschloss, Sardinien dem aufstrebenden Königshaus von Aragon als Lehen zu übergeben, einem Reich, das ein getreuer Diener der heiligen römischen Mutterkirche war. Der König von Aragon erhielt sofort den Titel eines Königs von Sardinien, aber es gingen erst sechsundzwanzig Jahre ins Land, bis er diese Herrschaft ausüben konnte. Die günstige Gelegenheit ergab sich mit dem Ende des Bündnisses zwischen den Pisanern und dem Judikat von Arborea, das es damals beherrschte. Die Eroberung begann 1323. Die Aragoner besiegten die Pisaner mit Hilfe des Judikats von Arborea ein Jahr später. Das stets angespannte Bündnis zwischen den beiden Reichen zerbrach bald, und danach begann für beide Seiten eine lange Periode von Kriegen. Ihre Nachkommen bekämpften sich mit unterschiedlichem Erfolg (vielleicht waren darunter ja auch Gustav Gans, Donald Duck, Primus von Quack oder Bart Simpson …) bis 1478, als das Haus Aragon dort die alleinige Herrschaft übernahm. Und die dauerte bis 1714!
»Ich frage mich, wie viel Spanisches im Charakter und in der Kultur dieses Landes steckt?«
»Überhaupt nichts. Lieber Freund, ich bin hier auf Sardinien geboren. Das ist die Gegend, die mit der höchsten Zahl von über Hundertjährigen das wertvolle Geheimnis eines langen Lebens bewahrt. Wussten Sie das? Und doch kann ich Ihnen versichern, dass meine Vorfahren, wie die Römer, die Araber und die Byzantiner, mit dieser Zähigkeit nichts zu tun haben. Und genauso wenig mit dem Charakter der Sarden und ihrer Kultur. Sarden sind Sarden. Schon immer gewesen. Und all diese Eroberer haben diese grundsätzliche Unveränderlichkeit ermöglicht, die Sie in den Orten und bei den Menschen bemerkt haben. Das Geheimnis verbirgt sich nicht hinter den Knollennasen oder den hervorquellenden Augen, o nein … Das Geheimnis liegt in unseren ungebrochenen und stolzen Herzen. Es liegt darin begründet, dass sich das Volk dieses Landes, mein Volk, niemals fremden Einflüssen geöffnet hat. Deshalb wird dieses Land Paradisola genannt, weil man gleich bei der Ankunft das Gefühl hat, in einem ursprünglichen Land mit ganz authentischen Menschen gelandet zu sein. Und es spielt keine Rolle, warum das so ist. Sie sind zum Beispiel zur Hochzeit Ihres Vetters gekommen, und das Schicksal hat Ihnen ein paar unvorhergesehene Eindrücke schenken wollen, eine Extratour, eine Überraschung nach der anderen. Sie sollten sich darüber freuen. Ach, was sage ich! Unglaublich glücklich sollten Sie sich schätzen! Sie haben mehr erlebt, als Sie je gedacht hätten. Was glauben Sie denn, was Ihnen alles entgangen wäre, wenn es keine Demonstration am Flughafen gegeben hätte? Sie machen gerade eine wunderbare Erfahrung. Und das wissen Sie auch! Da haben Sie später etwas zu erzählen. Noch etwas Myrtenlikör?«
»Vielen Dank, vielleicht noch einen Schluck … Ich werde meinem Vetter auf ewig dankbar sein.«
»Darf ich Ihnen noch ein paar Zeilen vom großen Fabrizio De André vorlesen, ehe wir zu Bett gehen?«
»Mit größtem Vergnügen, diesen cantautore schätze ich ganz besonders …«
»Das Leben in Sardinien ist vielleicht das Beste, was ein Mensch sich wünschen kann: Vierundzwanzigtausend Kilometer Wald, Landschaft und Küste, die an ein wunderschönes Meer grenzen, das müsste doch das sein, was man Gott empfehlen kann, uns als Paradies zu schenken.
Auf dein Wohl, Bruno!«
»Auf deines, Geraldo!«