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Der fremde Cousin
Bruno
Der Anruf erreicht mich Anfang Januar um fünf vor acht, kurz vor den Nachrichten. Jutta und ich haben die Weihnachtstage in meiner Wohnung in Rom verbracht. Zum Glück hat sie meinen Weihnachtsbaum mit ins Flugzeug bekommen – als Sperrgepäck! Ich wusste doch, dass sie es schafft.
Meine Pizza steht dampfend auf dem Couchtisch und wartet auf mich. Das darf ich mir nicht entgehen lassen: Die neueste Meldung über den hundertsten Sexskandal unseres Hardcore-Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi ist zu bestürzend und deftig, als dass man sie ignorieren könnte. Ich mache es mir auf dem Sofa bequem und … DRRIIINNG … Wenn das wieder diese Callcenter-Tante von Bofrost ist, oder schlimmer, der Schwätzer von der Telecom, dann zeige ich sie an. Diese Telefonverkäufer sind eine einzige Pest. Gleich das erste »Ja?«, mit dem ich mich melde, muss also bedrohlich klingen. Schweigen am anderen Ende. Dann höre ich nur noch das Besetztzeichen. Prima, wer auch immer das war, hat verstanden und aufgelegt. Ich beiße in das erste Stück meiner Pizza und – DRIINNGGG! Schon wieder!
»Hallo?« Diesmal gebe ich mich etwas zugänglicher. Am anderen Ende sagt eine etwas schrille, aber höfliche Stimme schüchtern:
»Hallo, Bruno, bist du’s? Weißt du, wer ich bin …?«
»Wer spricht da?«
»Ich bin’s, Maurizio, dein Cousin …«
Schweigen. Das trifft mich. Ich möchte jetzt nicht mehr gemütlich in meinem Sofa versinken, sondern vor Scham im Erdboden – und das nicht nur, weil ich die Stimme meines Cousins nicht gleich erkannt habe, sondern mich in diesem Moment nicht einmal an sein Gesicht erinnere! Na ja, er ist schließlich nur ein Cousin dritten Grades, was will man da erwarten?
»Maurizio … Maurizio, DU bist das? Ja, wie lange ist das denn jetzt her …??«
»Tante Ada hat mir deine Nummer gegeben, also eigentlich hatte ich es schon auf Facebook versucht, aber du hast meine Freundschaftsanfrage nie bestätigt …«
Wie peinlich! Maurizio, der wahrscheinlich meine Verlegenheit bemerkt hat, stürzt sich in einen zehnminütigen Wortschwall und zündet sich dazu eine Zigarette nach der anderen an. Ich unterbreche ihn nicht. Er kommt von einem zum anderen: Erst erzählt er von seinem Peter-Pan-Syndrom, dann von seinem Studium an einer Elite-Uni in Rom, seinem Abschluss summa cum laude in Pharmakologie, dem Master in Chemie an der Berkeley-Universität in Kalifornien, seinen Forschungen über die Fotochemie der DNA, seinen Patenten und wie man ihn bei Fragen zur Nukleinsäure hinzuzieht, seinen Büchern und Preisen, internationalen Ehrungen, schließlich sogar, dass er mit Bono (ja genau, dem Bono!) befreundet ist und – von seiner bevorstehenden Hochzeit!
»Das ist ja wunderbar, du heiratest? Wer ist die Glückliche?«
»Giulia. Wir sind seit fünf Jahren zusammen. Sie ist fünfzehn Jahre jünger als ich, lebt auch in Rom, aber ihre Familie kommt aus Sardinien.«
»Das ist ja fabelhaft, Maurizio, ich freu mich wirklich für dich. Und ich seh dich immer noch in diesen unmöglichen hautengen Jeans vor mir! Tja, lang ist’s her. Und jetzt bist du ein international anerkannter Chemiker und sogar mit Bono befreundet!«
»Hmm, ja, wir haben uns in München kennengelernt.«
»In München?«
»Ja, er wurde dort an der Wirbelsäule operiert, ein böser Unfall während der Proben, aber jetzt geht es ihm wieder gut. Sein Arzt ist ein guter Freund von mir und hat mich ihm während seiner Reha vorgestellt. Um ihn aufzumuntern, habe ich ihm dann einige von meinen Kondomwitzen erzählt, weißt du noch?«
»Na klar erinnere ich mich!«
»Er hat sich weggeschmissen, und so haben wir gleich unsere Handynummern ausgetauscht.«
»Was hast du denn in München gemacht? Ich bin oft dort. Meine Lebensgefährtin ist Deutsche.«
»Sì, sì, ich weiß … Ich weiß alles … Irgendwann wirst du mir deine berühmte Jutta Speidel doch vorstellen, oder? Also, willst du mein Trauzeuge sein?«
Ich bin heftig versucht, spontan nein zu sagen.
»Aber ja doch, gern … Wann denn?«
»Wir heiraten im Oktober, in Gesturi, du weißt schon, das Land der Nuraghen. Es ist wunderschön dort, warst du schon mal da? Wir werden feiern, feiern und feiern!« Nachdem wir noch eine Weile geplaudert und uns dann verabschiedet haben, schalte ich den Fernseher aus und schiebe meine Pizza noch mal in den Ofen, denn inzwischen ist sie kalt geworden. Ich erinnere mich an den Wunschtraum meiner Jugendzeit: Ich wollte damals unbedingt auf den Komoren heiraten, da ich irgendwo gelesen hatte, Hochzeiten auf den Inseln vor den Küsten von Mosambik und Madagaskar würden auf besondere Weise gefeiert. Ich war vollkommen fasziniert von der dort sogenannten »Grand Mariage«, die bis zu neun Tage dauern kann und an der die ganze Dorfgemeinschaft teilnimmt.
Wie schön doch Hochzeiten sind! Schade nur, dass sie nicht immer halten, was sie versprechen! Ich hole die Pizza wieder aus dem Ofen und schnappe mir ein Bier aus dem Kühlschrank. Eigentlich bin ich richtig froh, dass der Cousin dritten Grades aus dem Nichts aufgetaucht ist. Maurizio hat erzählt, dass sie am Sonntagvormittag heiraten, aber das eigentliche Fest schon drei Tage vorher beginnt: mit dem Junggesellenabschied, dem Umzug der Aussteuer (der Braut) ins neue Heim und der Probe. Gibt es eine bessere Gelegenheit, mit Jutta einen so wenig bekannten Teil von Sardinien zu besuchen, der nichts mit dem Rummel und dem Luxus der Costa Smeralda zu tun hat? So ein Kurzurlaub im Spätsommer wäre doch genau das Richtige. Diese kargen unberührten Landschaften, die tausendjährige Tradition und eine ursprüngliche Küche sind doch der ideale Ausgleich für unser hektisches Alltagsleben. Tagsüber werden wir auf einem Felsen in der Sonne sitzen und eine Herde Schafe an uns vorüberziehen lassen, nachts liegen wir uns in den Armen und beobachten die Sterne … Hektisch greife ich mir das letzte Stück Pizza vom Teller – und dann zum Telefon.
»Ach, tesoro, ich bin so richtig romantisch gestimmt …«