158711.fb2
Der Streik
Jutta
Meine Füße schmerzen. Wenn ich meine Sandaletten ausziehe, laufe ich Gefahr, dass mir einer in dem Gedrängel auf die Zehen steigt. Lass ich sie an, kann ich bald nicht mehr stehen. Die Frage, was ich denn machen soll, hat sich nach einem Blick auf den Boden allerdings erübrigt. Nun wird mir auch klar, warum es hier so stinkt. Der Boden ist übersät von plattgetretenen Ziegenköteln, dazwischen immer wieder gelblich Feuchtes. Halleluja, wie komm ich hier bloß raus?!
Ich krame in meiner Handtasche nach meinem Handy, vielleicht ist Bruno ja schon in der Halle hinter mir, und ich kann wenigstens mit ihm reden. Es klingelt fünf- bis sechsmal, dann geht die automatische Ansage dran.
»Al momento il cliente non è … blablabla.« Er scheint noch nicht gelandet zu sein, komisch!
»Scusi, Signore, lei sa che cosa è?«, frage ich den Herrn neben mir. Ich will wissen, was hier eigentlich los ist.
»Certo, un sciopero di pecorai!«
Aha, dachte ich’s mir doch! »Come? Wie bitte?« Ich verstehe nur Bahnhof, was heißt denn nur dieses sciopero?
»Die Schäfer streiken und haben den Flughafen lahmgelegt«, sagt plötzlich eine Stimme hinter mir. Ich drehe mich um und blicke in die Augen eines jungen Mädchens mit Rastazöpfchen.
»Ach, wirklich? Woher wissen Sie das?«, antworte ich ihr dankbar.
»Die sind stinksauer, weil die Preise für ihre Ziegenmilch so in den Keller gegangen sind, alles wegen der Scheißmafia, die wollen das Monopol.«
Ich bedanke mich für diese Auskunft. Was gehen mich deren Milchpreise an? Erneut angle ich mein Handy aus der Tasche und wähle Brunos Nummer. Es läutet und läutet, aber er geht nicht ran. Wenigstens scheint er gelandet zu sein. Na, dann wird er ja gleich sehen, was hier für ein Chaos herrscht! Inzwischen skandieren die aufgebrachten Bauern unter dem Geläut ihrer Ziegenglocken derart laut, dass einem die Ohren weh tun. Sie rammen ihre Stecken in den Boden und schreien ihre Parolen heraus. Mir reicht’s! Ich halte mir die Ohren zu und versuche, mich durch die Menschenmenge zu drängeln, links hinten in der Halle habe ich eine Bar gesehen. Der Weg zur Bar gestaltet sich äußerst schwierig. Kinder sitzen auf Rucksäcken, völlig genervte Mütter versuchen, weinende Babys zu beruhigen. Alle schreien durcheinander. Immer noch kein Bruno in Sicht. Überhaupt entdecke ich nur verzweifelte und wütende Gesichter. Nur wenige überlassen sich ihrem Schicksal und versuchen zu scherzen. Ich kann nur durch ihre Mimik verstehen, was sie bewegt, aber ich spüre eine unglaubliche Energie in diesem Raum. Wie so oft in Italien beherrscht die Emotion die Lage. Die Menschen denken nicht groß nach, sondern genießen das casino, wie sie so schön zu einem Durcheinander sagen. Endlich kann man mal so richtig in die Vollen gehen, ohne Rücksicht auf Verluste. Entweder sich ergeben oder ordentlich zuschlagen, lautet die Devise.
Ich quetsche mich weiter in Richtung Bar. Wenn ich auf den Tresen klettere, kann ich besser nach Bruno Ausschau halten. Leider ist hier gerade niemand, der freundlich fragt, ob man vielleicht einen Cappuccino möchte, oder, der Situation angemessener: einen Whisky. Das Personal hat sich offenbar rechtzeitig in Sicherheit gebracht, wohl ahnend, welche Meute sich hier versammeln würde. Vielleicht frage ich einen Bauern nach einem Glas Ziegenmilch, ich würde in diesem Moment alles für etwas Trinkbares geben. Beherzt schwinge ich meinen Popo auf den Tresen. Dabei rempele ich einen Mann an, und meine Tasche fällt mit lautem Getöse auf den Boden. Der Akku meines Handys fällt auch heraus, jetzt kann mich Bruno nicht mehr erreichen. Verzweifelt suche ich den Boden nach meinen Habseligkeiten ab. Mein Rock ist verschmiert, und einen Moment lang habe ich das Bedürfnis, ein paar Tränen zu verdrücken, so sehr bedauere ich mich.