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»Das ist Julie Thibodeaux, unsere Quantenfeldtheoretikerin.«
Gegenüber am Tisch warf eine Frau Ford ein knappes »Hallo« zu, bevor sie ihren gereizten Monolog wieder aufnahm, der dem weißhäuptigen, koboldähnlichen Mann neben ihr galt. Thibodeaux kam dem Stereotyp der klassischen Wissenschaftlerin sehr nahe: unscheinbar, übergewichtig, in einen schmuddeligen Laborkittel gehüllt und mit kurzem, strähnigem Haar, offensichtlich schon länger nicht mehr gewaschen. Zwei Kulis in einer Plastikhülle, die aus ihrer Kitteltasche ragten, vervollständigten die Karikatur. In ihrem Dossier stand, sie leide an einer psychischen Erkrankung mit der Bezeichnung »Borderline-Persönlichkeitsstörung«. Ford war gespannt, wie sich so etwas manifestierte.
»Der Herr, der sich gerade mit Julie unterhält, ist Harlan St. Vincent, unser Elektroingenieur. Wenn Isabella mit voller Kraft läuft, ist Harlan zuständig für die neunhundert Megawatt Energie, die sich wie die Niagarafälle in unsere Maschine ergießen.«
St. Vincent erhob sich und streckte die Hand über den Tisch. »Freut mich, Sie kennenzulernen, Wyman.« Als er sich wieder setzte, nahm Thibodeaux augenblicklich ihren Sermon wieder auf, der sich offenbar um etwas namens Bose-Einstein-Kondensat drehte.
»Michael Cecchini, unser Feld-Wald-und-Wiesen-Teilchenphysiker, sitzt hier drüben.«
Ein kleiner, dunkler Mann stand auf und streckte die Hand aus. Ford drückte sie und betrachtete dabei die auffällig ausdruckslosen, dunkelgrauen Augen. Der Mann sah aus, als wäre er innerlich tot – und der Händedruck wirkte genauso: klamm und leblos. Aber als wolle er dem Nihilismus im Kern seines Wesens trotzen, hatte Cecchini sich geradezu pedantisch um sein Äußeres bemüht. Sein Hemd war so leuchtend weiß, dass es blendete, die Bügelfalte in seiner Hose war messerscharf, und sein Haar war mit militärischer Präzision gescheitelt und gekämmt. Sogar seine Hände waren makellos, so weich und sauber wie frischer Teig, die Nägel perfekt gefeilt und glänzend poliert. Ford erschnupperte den Hauch eines teuren After shaves. Doch nichts konnte die Aura existenzieller Verzweiflung überdecken, die an ihm klebte.
Hazelius beendete die Vorstellungsrunde und verschwand in der Küche, und sogleich stieg der Lärmpegel an.
Ford hatte Kate immer noch nicht gesehen. Er fragte sich, ob das Zufall sein konnte.
»Ich glaube, mir ist noch nie ein Ethnologe begegnet«, sprach Melissa Corcoran ihn an.
Er drehte sich um. »Und mir noch keine Kosmologin.«
»Sie würden staunen, wie viele Leute meinen, mein Beruf hätte mit Frisuren und Nagellack zu tun. Übrigens ist mir das Du lieber.« Ihr Lächeln wirkte einladend. »Also, was genau ist deine Aufgabe hier?«
»Ich soll die Einheimischen kennenlernen. Ihnen erklären, was hier vorgeht.«
»Hm, aber verstehst du, was hier vorgeht?« Ihre Stimme klang neckend.
»Vielleicht könntest du mir da ein bisschen Nachhilfe geben.«
Lächelnd streckte sie die Hand nach einer Flasche aus. »Wein?«
»Gern, danke.«
Sie musterte das Etikett. »Villa di Capezzana, Carmignano, zweitausend. Ich habe keine Ahnung, was das heißen soll, aber er ist gut. George Innes ist hier der Weinkenner. George? Erzähl uns was über den Wein.«
Innes unterbrach eine Unterhaltung am anderen Ende des Tisches, und ein freudiges Lächeln breitete sich über sein Gesicht. Er hob sein Glas. »Ich hatte Glück, diese Kiste zu ergattern – heute Abend wollte ich etwas wirklich Erlesenes servieren. Capezzana mag ich besonders, ein altes Weingut in den Hügeln westlich von Florenz. Die erste DOC, die Cabernet Sauvignon zugelassen hat. Er weist eine gute Farbe auf, dunkles Beerenaroma von Roten und Schwarzen Johannisbeeren und Kirsche, und eine hervorragende Fruchttiefe.«
Corcoran wandte sich mit schiefem Grinsen wieder Ford zu. »George ist ein schrecklicher Snob, was Wein angeht«, bemerkte sie, schenkte ihm großzügig ein, füllte ihr eigenes Glas auf und hob es. »Willkommen auf der Red Mesa. Ein grauenhafter Ort.«
»Warum denn das?«
»Ich habe meine Katze mitgebracht – ich konnte es nicht ertragen, sie zurückzulassen. Wir waren erst zwei Tage hier, da habe ich ein Jaulen gehört und einen Kojoten gesehen, der sie davongeschleppt hat.«
»Wie schrecklich.«
»Die schleichen hier überall herum, die räudigen Biester. Dann haben wir noch Taranteln, Skorpione, Bären, Rotfüchse, Baumstachler, Stinktiere, Klapperschlangen und Schwarze Witwen.« Diese Aufzählung schien ihr geradezu Spaß zu machen. »Ich hasse die Red Mesa«, verkündete sie genüsslich.
Ford lächelte bemüht verlegen und stellte ihr die dümmste Frage, die ihm einfallen wollte. Schließlich sollten die Leute hier ihn nicht für allzu schlau halten. »Also, wozu ist Isabella eigentlich da? Ich bin leider nur Ethnologe.«
»Theoretisch ist das ganz einfach. Isabella beschleunigt subatomare Teilchen auf beinahe Lichtgeschwindigkeit und lässt sie dann aufeinanderprallen, um so die Energiebedingungen beim Urknall nachzuvollziehen. Das ist wie bei einem Karambolage-Rennen. Zwei Teilchenstrahlen beschleunigen in entgegengesetzter Richtung in einer kreisförmigen Röhre mit einem Umfang von fünfundsiebzig Kilometern. Die Teilchen kreisen immer schneller in dem Ring, bis sie sich mit neunundneunzig Komma neun neun Prozent der Lichtgeschwindigkeit bewegen – wie gesagt, in entgegengesetzte Richtungen. Lustig wird es, wenn wir sie frontal aufeinanderprallen lassen. So reproduzieren wir die ungeheure Gewalt des Urknalls.«
»Was für Teilchen lasst ihr da zusammenstoßen?«
»Materie und Antimaterie – Protonen und Antiprotonen. Wenn die aufeinanderprallen – wumm! Die plötzlich frei werdende Energie ruft eine Streuung aller möglichen Teilchen hervor. Diese Streuung wird in den Detektoren erfasst, und dann können wir feststellen, was für Teilchen das sind und wie sie entstehen konnten.«
»Woher bekommt ihr denn Antimaterie?«
»Per Postversand aus Washington.«
Ford lächelte. »Und ich dachte, die verschicken nur Schwarze Löcher.«
»Nein, im Ernst, wir erschaffen unsere Antimaterie selbst vor Ort, indem wir eine Goldplatte mit Alphastrahlen beschießen. Die Antiprotonen sammeln wir in einem zweiten Ring und leiten sie dann in den Hauptring, wenn wir sie brauchen.«
»Und was hat das alles mit Kosmologie zu tun?«, fragte Ford.
»Ich bin hier, um finstere Dinge zu studieren!« Sie rollte dramatisch mit den Augen. »Dunkle Materie und dunkle Energie.« Sie nippte an ihrem Wein.
»Klingt beängstigend.«
Sie lachte. Er beobachtete, wie sie ihn mit ihren grünen Augen unverhohlen abwägend musterte, und fragte sich, wie alt sie wohl sein mochte. Dreiunddreißig? Vierunddreißig?
»Vor etwa dreißig Jahren wurde den Astronomen allmählich klar, dass die meiste Materie im Universum nicht von der Sorte ist, die man sehen oder berühren kann. Sie nannten sie Dunkle Materie. Offenbar ist Dunkle Materie überall um uns herum, unsichtbar, sie fließt quasi unbemerkt durch uns hindurch, wie ein Schattenuniversum. Galaxien liegen mitten in riesigen Seen aus Dunkler Materie. Wir wissen nicht, was sie ist, warum es sie gibt, oder wie sie entstand. Da die Dunkle Materie gleichzeitig mit normaler Materie beim Urknall entstanden sein muss, kann ich mit Hilfe von Isabella hoffentlich etwas davon erzeugen.«
»Und Dunkle Energie?«
»Wunderbares, unheimliches Zeug. Neunzehnhundertneunundneunzig fanden Kosmologen heraus, dass irgendein unbekanntes Energiefeld das Universum expandieren lässt, immer schneller, es wird praktisch aufgeblasen wie ein riesiger Luftballon. Dieses Energiefeld haben sie als Dunkle Energie bezeichnet. Niemand hat auch nur die geringste Ahnung, was sie ist oder woher sie kommt. Aber sie scheint ziemlich bösartig zu sein.«
Auf der anderen Seite des Tisches schnaubte Wolkonski und höhnte mit schriller Stimme: »Bösartig? Universum ist neutral. Kümmert sich keine Dreck um uns.«
»Tatsache ist«, fuhr Corcoran fort, »dass Dunkle Energie letzten Endes das Universum zerstören wird – beim Endknall.«
»Endknall?« Bisher hatte Ford den Ahnungslosen nur gespielt, doch der Endknall war ihm tatsächlich neu.
»Das ist die jüngste Theorie über das Schicksal des Universums. Ziemlich bald wird sich die Expansion des Universums so stark beschleunigen, dass Galaxien auseinandergerissen werden, dann die Sterne, die Planeten, du und ich – bis hinunter zu den Atomen selbst. Alles weg, mit einem gewaltigen Puff! Die Existenz selbst ist dann zu Ende. Ich habe den Wikipedia-Artikel darüber verfasst. Sieh ihn dir mal an.«
Sie trank einen weiteren Schluck, und Ford bemerkte, dass sie nicht die Einzige war, die sich den Wein schmecken ließ. Die Gespräche um sie herum waren immer lauter geworden, und ein halbes Dutzend leerer Flaschen stand auf dem Tisch.
»Sagtest du gerade ›ziemlich bald‹?«
»Es wird höchstens noch zwanzig bis fünfundzwanzig Milliarden Jahre dauern.«
»Bald ist Frage von Perspektive«, warf Wolkonski mit heiserem Lachen ein.
Corcoran sagte: »Wir Kosmologen betrachten alles auf lange Sicht.«
»Und wir Computerwissenschaftler kurze. Millisekunde kurze.«
»Millisekunden?«, bemerkte Thibodeaux verächtlich. »In der Quantenelektrodynamik habe ich es mit Femtosekunden zu tun.«