172166.fb2 Credo - Das letzte Geheimnis - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 21

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Nur Rae Chens persönliche Geschichte wirkte ganz gewöhnlich – eine von vielen chinesischen Familien der ersten Generation in Amerika, die ein Restaurant betrieb. Auch Dolbys Persönlichkeit schien recht normal, außer dass er in einem der übelsten Stadtviertel von Los Angeles aufgewachsen war; sein Bruder saß im Rollstuhl, seit er bei einer Bandenschießerei von einer verirrten Kugel getroffen worden war.

Kates Dossier war das spannendste von allen. Er las es mit einer Art krankhafter, schuldbewusster Faszination. Ihr Vater hatte Selbstmord begangen, kurz nachdem Ford sich von ihr getrennt hatte – er hatte sich erschossen, als sein Geschäft pleitegegangen war. Der Zustand ihrer Mutter hatte sich danach ständig verschlechtert, bis sie mit siebzig in einem Pflegeheim landete und ihre eigene Tochter nicht mehr erkannte. Nach dem Tod ihrer Mutter klaffte in dem Bericht eine Lücke von zwei Jahren. Kate hatte die Miete für ihre Wohnung in Texas für vierundzwanzig Monate im Voraus bezahlt, war verschwunden und erst nach diesen zwei Jahren wieder aufgetaucht. Ford war sehr beeindruckt davon, dass weder das FBI noch die CIA herausfinden konnten, wo sie gewesen war und was sie getan hatte. Sie weigerte sich, ihre Fragen zu beantworten – auch auf die Gefahr hin, bei dem Sicherheitscheck durchzufallen und nicht stellvertretende Leiterin des Isabella-Projekts werden zu können. Doch Hazelius hatte sich für sie eingesetzt, und der Grund dafür war nicht schwer zu erkennen – sie hatten damals eine Beziehung gehabt. Offenbar hatte sie aber eher auf Freundschaft denn auf Leidenschaft beruht und war auch friedlich beendet worden.

Ford packte die Akten weg, angeekelt von der Verletzung der Intimsphäre vieler Menschen, dem unverschämten Eindringen der Regierung in das Privatleben, das diese Dossiers widerspiegelten. Er fragte sich, wie er es überhaupt so lange bei der CIA ausgehalten hatte. Das Kloster hatte ihn doch mehr verändert, als ihm bewusst gewesen war.

Er holte das Dossier über Hazelius wieder hervor und schlug es auf. Er hatte es nur rasch überflogen, doch jetzt ging er es gründlicher durch. Es war chronologisch geordnet, und Ford las es in dieser Reihenfolge, um sich ein Bild von der Lebensgeschichte des Mannes zu machen. Hazelius stammte aus überraschend gewöhnlichen Verhältnissen, einziges Kind einer soliden Mittelschicht-Familie mit skandinavischen Wurzeln, aufgewachsen in Minnesota, Vater Ladenbesitzer, Mutter Hausfrau. Nüchterne, langweilige Leute, die jeden Sonntag zur Kirche gingen. Ein Umfeld, von dem man wahrlich nicht erwartete, dass es ein transzendentales Genie hervorbrachte. Hazelius hatte sich rasch als echtes Wunderkind erwiesen: Abschluss summa cum laude von der Johns-Hopkins-Universität mit siebzehn, Doktortitel vom California Institute of Technology mit zwanzig, Lehrstuhl an der Columbia mit sechsundzwanzig, Nobelpreis mit dreißig.

Abgesehen von seiner Brillanz, war der Mann aber schwer zu fassen. Er gehörte nicht zu den typischen Scheuklappen-Akademikern, die nur ihr enges Forschungsfeld sahen. An der Columbia University hatten seine Studenten ihn auch wegen seines trockenen Humors, seines verspielten Temperaments und seines überraschenden musikalischen Talents verehrt. Er spielte in einem Schuppen an der 110th Street Boogie-Woogie und Jazz am Klavier und füllte die Kneipe regelmäßig mit seinen ihn anhimmelnden Studenten. Er ging mit seinen Studenten in Jazzlokale. Er entwickelte eine Theorie des Aktienmarktes, die auf der des chaotischen Attraktors basierte, und verdiente damit Millionen, bevor er das System an einen Hedge-Fonds verkaufte.

Nachdem Hazelius mit seiner Arbeit über die Quantenverschränkung den Nobelpreis errungen hatte, trat er locker in die Fußstapfen des Starphysikers Richard Feynman. Er veröffentlichte nicht weniger als dreißig theoretische Abhandlungen über die Unvollständigkeit der Quantentheorie und erschütterte damit die Disziplin in ihren Grundfesten. Er bekam die Fields-Medaille, die höchste Auszeichnung der Mathematik, für seine Arbeit über Aspekte der Bayesschen Wahrscheinlichkeitstheorie verliehen und war damit der einzige Mensch, der sowohl einen Nobelpreis als auch die Fields-Medaille gewonnen hatte. Hinzu kam noch ein Pulitzer-Preis für einen Gedichtband – fremdartig schöne Gedichte, die ausdrucksvolle Sprache mit mathematischen Gleichungen und wissenschaftlichen Theoremen verbanden. Er hatte ein Hilfsprojekt in Indien auf die Beine gestellt, das medizinische Hilfe für Mädchen leistete, in Regionen, wo es ansonsten üblich war, kranke Mädchen einfach sterben zu lassen; dazu gehörten auch sensible, aber intensive Aufklärungsprogramme, die darauf abzielten, die gesellschaftliche Einstellung gegenüber Mädchen im Allgemeinen zu verändern. Er hatte Millionen für eine Kam pagne gegen die Genitalverstümmelung von Mädchen und Frauen in Afrika gespendet. Außerdem besaß er ein Patent – und das fand Ford geradezu komisch – für eine verbesserte Mausefalle, human, aber wirkungsvoll.

Oft erschien er in den Gesellschaftsseiten der Washington Post auf Fotos an der Seite der Reichen und Berühmten, stets in seinen typischen Anzügen aus den Siebzigern, mit fettem Revers und dicken Krawatten. Er brüstete sich damit, sie alle bei der Heilsarmee gekauft und nie mehr als fünf Dollar dafür bezahlt zu haben. Er war regelmäßig bei Letterman zu Gast, und man konnte sich darauf verlassen, dass er jedes Mal unerhört unverschämte, alles andere als politisch korrekte Dinge von sich gab – er nannte sie »unangenehme Wahrheiten« – und wortgewandt über seine utopischen Visionen schwadronierte.

Im Alter von zweiunddreißig hatte er alle Welt überrascht, indem er das Supermodel und ehemalige Playboy-Bunny Astrid Gund heiratete, zehn Jahre jünger als er und berüchtigt für ihre fröhliche Geistlosigkeit. Sie begleitete ihn überallhin, sogar in diverse Talkshows, wo er sie anhimmelte, während sie gutgelaunt über ihre herzlich gut gemeinten, aber eher vagen politischen Ansichten sprach. Berühmt wurde sie mit dem Satz, geäußert in einer Diskussion über die Anschläge vom 11. September: »Ich meine, warum können die Menschen sich nicht einfach vertragen?«

Das war schlimm genug. Doch während dieser Phase hatte eine Äußerung von Hazelius die Öffentlichkeit dermaßen empört, dass sie unvergesslich wurde, wie die Behauptung der Beatles, sie seien beliebter als Jesus. Ein Reporter fragte den Physiker, warum er eine Frau geheiratet habe, die »Ihnen intellektuell so stark unterlegen ist«. Hazelius regte sich furchtbar darüber auf. »Wen soll ich denn Ihrer Meinung nach heiraten?«, brüllte er den Journalisten an. »Alle Welt ist mir intellektuell unterlegen! Zumindest weiß Astrid, wie man jemanden von ganzem Herzen liebt, und das ist mehr, als ich euch übrigen menschlichen Hornochsen zutraue.«

Der klügste Mann der Welt hatte alle anderen als Hornochsen beschimpft. Der Aufschrei der Empörung war gewaltig. Die Washington Post druckte eine legendäre Schlagzeile:

HAZELIUS AN WELT: IHR SEID ALLE HORNOCHSEN

Talkmoderatoren in Radio und Fernsehen stilisierten sich zu Anwälten der breiten Masse und steigerten sich in ihren gerechten Zorn hinein. Hazelius wurde von jeder Kanzel und aus jedem Talkshow-Studio Amerikas verdammt und als anti-amerikanisch, antireligiös und unpatriotisch gebrandmarkt, als Angehöriger dieser widerlichsten Spezies von Mensch – ein Sherry nippender, elitärer Misanthrop aus dem Elfenbeinturm-Establishment der Ostküste.

Ford legte die Unterlagen beiseite und goss sich noch eine Tasse Kaffee ein. Bisher passte das Dossier nicht zu dem Hazelius, den er gerade kennenlernte, der jedes Wort sorgsam bedachte und als Friedensstifter, Diplomat und wohlwollender Teamleiter auftrat. Er hatte bisher keine einzige politische Bemerkung von Hazelius gehört.

Vor einigen Jahren hatte Hazelius eine Tragödie erlitten. Vielleicht hatte er sich dadurch verändert. Ford blätterte in der Akte weiter, bis er die Stelle fand.

Vor zehn Jahren, als Hazelius sechsunddreißig war, starb Astrid urplötzlich an einer Gehirnblutung. Ihr Tod hatte ihn zu tiefst getroffen. Zwei Jahre lang hatte er sich von der Welt zurückgezogen und sich total abgekapselt. Dann, ganz plötzlich, war er mit dem Plan für Isabella wieder aufgetaucht. Er hatte sich tatsächlich völlig verändert: keine Talkshows mehr, keine provokanten Äußerungen, utopischen Visionen oder Kämpfe auf verlorenem Posten. Er löste seine Verbindungen zur feinen Gesellschaft und hängte die hässlichen Anzüge an den Nagel. Gregory North Hazelius war erwachsen geworden.

Außerordentlich geschickt, mit viel Geduld und Taktgefühl, hatte Hazelius das Isabella-Projekt vorangetrieben, sich Verbündete in der Wissenschaft gesucht, große Stiftungen umworben und den Mächtigen den Hof gemacht. Er nutzte jede Gelegenheit, um die Amerikaner daran zu erinnern, dass die USA in der Kernphysik dem Forschungsstand der Europäer weit hinterherhinkten. Er erklärte immer wieder, dass Isabella billige Lösungen für das Problem des weltweiten Energiebedarfs liefern könnte – und sämtliche Patente und alles Knowhow wären dann in amerikanischen Händen. Damit war ihm das Unmögliche gelungen: Er hatte dem Kongress trotz des defizitären Budgets vierzig Milliarden Dollar aus dem Kreuz geleiert.

Er war offenbar ein Meister der Überredungskunst, der still im Hintergrund agierte, ein vorsichtiger Visionär, bereit, ein gewagtes, wenn auch kalkuliertes Risiko einzugehen. Das war der Hazelius, den Ford hier kennenlernte.

Isabella war Hazelius’ geistiges Kind, sein Baby. Er war durch das ganze Land gereist und hatte sich aus der Elite der Physiker, Ingenieure und Programmierer ein handverlesenes Team zusammengestellt. Alles war glatt vorangegangen. Bis jetzt.

Ford schloss die Akte und grübelte darüber nach. Er hatte das Gefühl, dass er immer noch nicht die untersten Schichten abgelöst und das wahre menschliche Wesen dahinter entdeckt hatte. Genie, Selbstdarsteller, Musiker, utopischer Träumer, liebender Ehemann, arroganter Elitewissenschaftler, brillanter Physiker, geduldiger Lobbyist. Welcher von ihnen war der wah re Mensch? Oder steckte hinter all diesen Persönlichkeiten noch eine schattenhafte Gestalt, die all die Masken manipulierte?

Teilweise unterschied sich Hazelius’ Leben gar nicht so stark von seinem eigenen. Sie hatten beide auf tragische Weise ihre Ehefrau verloren. Als Fords Frau gestorben war, war die Welt, wie er sie kannte, mit ihr in die Luft geflogen, und er war ziellos durch die Ruinen geirrt. Doch Hazelius hatte genau gegensätzlich reagiert: Der Tod seiner Frau hatte ihm anscheinend einen neuen Fokus gebracht. Für Ford hatte das Leben seinen Sinn verloren; für Hazelius hatte es einen neuen Sinn bekommen.

Er fragte sich, was wohl in seinem eigenen Dossier stehen mochte. Zweifellos existierte es irgendwo – und Lockwood hatte es gelesen, genau wie er jetzt die Dossiers der anderen las. Wie würde seines aussehen? Privilegierte Herkunft, Privatschule, Harvard, MIT, CIA, Heirat. Und dann: Bombe.

Nach Bombe, was stand da? Kloster. Und schließlich: Advanced Security and Intelligence, Inc., der Name seiner neuen Detektei. Der erschien ihm auf einmal lächerlich, anmaßend. Wem wollte er etwas vormachen? Er hatte die Firma vor vier Monaten gegründet und bisher genau einen Auftrag bekommen. Zugegeben, der war phantastisch, aber man hatte ihn ja auch aus ganz speziellen Gründen dafür ausgewählt. An seinem großartigen Lebenslauf lag es jedenfalls nicht.

Er warf einen Blick auf die Uhr: Er würde zu spät zum Frühstück kommen, und hier saß er und verschwendete seine Zeit mit Grübelei und Selbstmitleid.

Er schob das Dossier zu den anderen in den Aktenkoffer, schloss ihn ab und machte sich auf den Weg zum Speisesaal. Die Sonne war gerade über dem Felsenkamm aufgegangen, ihre Strahlen schossen durch die Blätter der Pappeln und ließen sie leuchten, als bestünden sie aus grünem und gelbem Glas.

Im Speisesaal duftete es nach Zimtbrötchen und Speck. Hazelius saß an seinem angestammten Platz am Kopf der langen Tafel, in ein Gespräch mit Innes vertieft. Kate saß am anderen Ende, bei Wardlaw, und schenkte sich gerade Kaffee ein.

Bei ihrem Anblick spürte Ford ein Ziehen in der Magengegend.

Er ließ sich auf dem letzten freien Platz neben Hazelius nieder und nahm sich Rührei und Speck von einer großen Platte.

»Morgen«, sagte Hazelius. »Gut geschlafen?«

»Großartig.«

Alle waren da, bis auf Wolkonski.

»Sagt mal, hat jemand Peter gesehen?«, fragte Ford. »Sein Auto steht nicht in der Einfahrt.«

Die Unterhaltungen am Tisch erstarben.

»Dr. Wolkonski scheint uns verlassen zu haben«, sagte Wardlaw.

»Verlassen? Warum?«

Zunächst sprach niemand. Dann sagte Innes mit unnatürlich lauter Stimme: »Als Teampsychologe kann ich vielleicht ein wenig Licht in diese Sache bringen. Ohne meine berufliche Schweigepflicht zu verletzen, kann ich wohl behaupten, und ihr werdet mir sicher beipflichten, dass Peter hier nie glücklich war. Er hatte Schwierigkeiten damit, sich an die Isolation und den Arbeitsdruck hier oben anzupassen. Er hat seine Frau und sein Kind in Brookhaven sehr vermisst. Es überrascht mich nicht, dass er beschlossen hat, zu gehen.«

»Mr. Wardlaw, Sie sagten, er scheint uns verlassen zu haben?«

Hazelius sprang geschickt ein: »Sein Wagen ist weg, sein Koffer und ein Großteil seiner Kleidung ebenfalls – daher unsere Annahme.«

»Er hat niemandem etwas davon gesagt?«

»Das scheint Sie zu beunruhigen, Wyman«, bemerkte Hazelius und warf ihm einen recht eindringlichen Blick zu.

Ford bremste sich. Er war zu schnell vorangeprescht, und einem so scharfsinnigen Mann wie Hazelius musste das auf-fallen.

»Nicht beunruhigt«, sagte Ford. »Nur überrascht.«

»Ich fürchte, ich habe so etwas kommen sehen«, sagte Hazelius. »Peter war nicht für dieses Leben geschaffen. Wir werden sicher von ihm hören, sobald er zu Hause angekommen ist. Also, Wyman, erzählen Sie uns von Ihrem gestrigen Be-such bei Begay.«

Alle wandten sich ihm zu.

»Begay ist wütend. Er hat eine ganz Liste von Beschwerden über das Isabella-Projekt.«

»Zum Beispiel?«

»Sagen wir nur, es wurden eine Menge Versprechungen gemacht, aber nicht eingehalten.«

»Wir haben niemandem irgendetwas versprochen«, erwiderte Hazelius.

»Anscheinend hat das Energieministerium alles Mögliche versprochen, Arbeitsplätze und wirtschaftliche Vorteile.«

Hazelius schüttelte angewidert den Kopf. »Ich habe keine Kontrolle über das Energieministerium. Haben Sie es wenigstens geschafft, ihm diesen Protestritt auszureden?«

»Nein.«