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Hazelius hielt dem Blick stand, und sein Gesichtsausdruck wirkte milde, alles andere als bedrohlich. »Mr. Greer, ich trage die Verantwortung für eine Vierzig-Milliarden-Dollar-Maschine im Inneren dieses Berges, und wir sind mitten in einem entscheidenden wissenschaftlichen Experiment. Sie wollen doch sicher nicht, dass irgendetwas schiefgeht – vor allem, wenn ich dann den Inspektoren vom Energieministerium sagen müsste, dass ich gezwungen war, die Maschine unbeaufsichtigt zu lassen, weil Sie darauf bestanden haben. Ich muss heute Nacht mindestens drei Teammitglieder im Berg lassen. Sie werden Ihnen morgen früh zur Verfügung stehen.«
Eine lange Pause, dann nickte Greer knapp. »Schön.«
»Wir sind um sieben im alten Handelsposten«, sagte Hazelius. »Das ist das große Blockhaus – Sie können es nicht verfehlen.«
Ford ging zurück zum Jeep und stieg ein. Kate folgte ihm. Er startete den Wagen und lenkte ihn wieder auf die Straße.
»Ich kann das gar nicht glauben«, sagte Kate mit zitternder Stimme und bleichem Gesicht. Sie kramte in ihrer Tasche, holte ein Taschentuch heraus und wischte sich die Augen. »Wie schrecklich«, sagte sie. »Ich kann es … einfach nicht fassen.«
Während der Jeep die Straße entlangbrummte, erhaschte Ford einen letzten Blick auf die beiden Kojoten, die ihr Mahl beendet hatten und jetzt das Treiben beobachteten und sich außer Reichweite herumdrückten, in der Hoffnung auf einen Nachschlag.
Trotz ihrer Schönheit, dachte er, war die Red Mesa ein erbarmungsloser Ort.
Um Punkt sieben Uhr folgte Lieutenant Joseph Bia den Agenten Greer und Alvarez in den ehemaligen Nakai-Rock-Handelsposten. Er kannte diesen Ort noch aus seiner Kindheit; damals war der alte Weindorfer der Händler hier gewesen. Nostalgie überkam ihn. Im Geiste konnte er den alten Laden noch vor sich sehen – die Mehltonne, die zum Verkauf gestapelten Ofenrohre, die Halfter und Lassos, die Gläser voller Süßigkeiten. Im Hinterzimmer wurden damals die Teppiche gestapelt, die Weindorfer als Tauschware nahm. Durch die Dürre im Winter 1954/55 kam die Hälfte aller Schafe auf der Mesa um, doch vorher hatten sie das Land regelrecht geschält. Damals holte Peabody Coal fast zwanzigtausend Tonnen Kohle pro Tag aus diesem Berg. Die Stammesregierung hatte Geld von dem Kohlekonzern bekommen; davon zahlten sie allen, die auf der Mesa wohnten, eine Entschädigung und quartierten sie in die sozialen Wohnbausiedlungen in Blue Gap, Piñon und Rough Rock um. Seine Eltern hatten zu denen gehört, die nach unten umgesiedelt wurden. Bia war heute zum ersten Mal seit fünfzig Jahren wieder hier. Das Haus sah völlig anders aus, aber er konnte noch den alten Duft nach Holzrauch, Staub und Schafwolle riechen.
Die Wissenschaftler hatten sich eingefunden, neun insgesamt, und alle warteten angespannt. Sie sahen völlig fertig aus, und Bia hatte das Gefühl, dass hier, abgesehen von Wolkon skis Tod, noch etwas nicht in Ordnung war. Und zwar schon seit einer ganzen Weile. Er wünschte nur, sie hätten den Fall nicht Greer übertragen. Greer war früher einmal ein guter Agent gewesen, bis ihm das passiert war, was allen guten Agenten irgendwann passierte: Er war zum leitenden Special Agent befördert und dadurch ruiniert worden, dass er die meiste Zeit über nur noch Papier von A nach B schieben musste.
»Guten Abend, Leute«, sagte Greer, nahm seine dunkle Brille ab und ermahnte Bia mit einem Blick, dasselbe zu tun.
Bia ließ seine auf. Er schätzte es nicht, wenn ihm jemand sagen wollte, was er zu tun hatte. Er war schon immer so gewesen – das lag ihm im Blut. Sogar seinen Nachnamen, Bia, verdankte er der Tatsache, dass sein Großvater sich geweigert hatte, seinen Familiennamen zu nennen, als er zwangsweise ins Internat verfrachtet wurde. Deshalb notierten sie damals »BIA« – für Bureau of Indian Affairs, schlicht die Abkürzung der zuständigen Behörde. Viele andere Navajos hatten es genauso gemacht, so dass Bia nun im Reservat ein verbreiteter Name war. Und er war stolz auf diesen Namen. Obwohl all die Bias nicht miteinander verwandt waren, hatten sie etwas gemeinsam – sie ließen sich nicht gern herumschubsen.
»Wir wollen das so rasch wie möglich hinter uns bringen«, sagte Greer. »Einer nach dem anderen, in alphabetischer Reihenfolge.«
»Haben Sie denn schon Fortschritte gemacht?«, fragte Hazelius.
»Einige«, erwiderte Greer.
»Wurde Dr. Wolkonski ermordet?«
Bia wartete gespannt auf Greers Antwort. Sie kam nicht. Mit dieser Frage hatten sie sich von Anfang an befasst, aber sie würden die Laborergebnisse abwarten. Und den Bericht des Gerichtsmediziners. Ging alles nach Flagstaff. Er selbst würde wohl kaum mehr als eine Zusammenfassung zu sehen bekommen. Er war überhaupt nur deshalb hier, weil irgendein FBIBürokrat einen Namen brauchte, den er an einer bestimmten Stelle in ein Formular eintragen musste – als Nachweis, dass die Stammespolizei »einbezogen« worden war, wie das bei denen gerne hieß.
Bia sagte sich, dass ihn dieser Fall sowieso nicht interessierte. Das waren nicht seine Leute.
»Melissa Corcoran?«, sagte Greer.
Eine sportliche Blondine stand auf, die eher wie ein Tennisprofi aussah denn wie eine Wissenschaftlerin.
Bia folgte den dreien in die Bibliothek, wo Alvarez einen Tisch und Stühle zurechtrückte und ein Aufnahmegerät bereitstellte. Greer und Alvarez führten die Befragung durch; Bia hörte zu und machte sich Notizen. Es ging schnell, einer nach dem anderen wurde vernommen. Bald ließ sich eine übereinstimmende Linie erkennen: Alle standen unter großem Druck, es lief nicht gut, Wolkonski war leicht erregbar und hatte sich alles besonders zu Herzen genommen, er hatte zu trinken begonnen, und es herrschte der Verdacht, er habe auch zu härteren Drogen gegriffen. Corcoran sagte aus, er habe eines Nachts betrunken an ihre Tür gehämmert und mit ihr schlafen wollen. Innes, der Teampsychologe, sprach über die Isolation hier oben und erklärte, Wolkonski sei depressiv gewesen und habe es nicht wahrhaben wollen. Wardlaw, der für die Sicherheit zuständig war, behauptete, der Russe habe sich unberechenbar verhalten und Sicherheitsregeln missachtet.
Die Durchsuchung von Wolkonskis Privaträumen hatte all das bestätigt: leere Wodkaflaschen, Spuren von Methamphe tamin-Pulver in einem Mörser, überquellende Aschenbecher und Porno-DVDs, und all das in einem erbärmlich schmutzigen, zugemüllten kleinen Haus.
Die Geschichten der anderen stimmten überein und wirkten glaubhaft, die Widersprüche wiesen darauf hin, dass die Aussagen nicht abgesprochen waren. Bei seiner Arbeit im Reservat hatte Bia schon viele Selbstmorde gesehen, und dieser Fall schien ganz klar zu sein, abgesehen von ein paar Kleinigkeiten. Es war gar nicht so einfach, sich selbst zu erschießen und gleichzeitig sein Auto einen Abhang hinunterstürzen zu lassen. Andererseits: Wenn es Mord war, hätte der Täter das Auto sicher in Brand gesteckt. Außer, er war besonders schlau. Die meisten Mörder waren das nicht.
Bia schüttelte den Kopf. Er dachte nach, statt zuzuhören. Das war eine sehr schlechte Angewohnheit.
Um halb neun war Greer fertig. Hazelius begleitete sie zur Tür, wo Bia, der bisher nichts gesagt hatte, noch einmal stehenblieb. Er nahm seine Brille ab und tippte sich damit auf den Daumen der anderen Hand. »Eine Frage, Dr. Hazelius.«
»Ja?«
»Sie sagten, Wolkonski habe unter großem Stress gestanden, wie Sie alle hier. Woran liegt das eigentlich?«
Hazelius antwortete gelassen: »Weil wir eine Maschine gebaut haben, die vierzig Milliarden Dollar gekostet hat, und wir das verdammte Ding nicht richtig zum Laufen kriegen.« Er lächelte. »Beantwortet das Ihre Frage, Lieutenant?«
»Ja, danke. Oh, da ist noch etwas, wenn Sie nichts dagegen haben?«
»Lieutenant«, sagte Greer, »meinen Sie nicht, dass wir genug erfahren haben?«
Doch er fuhr fort, als habe er nichts gehört. »Werden Sie einen neuen Mitarbeiter einstellen, der Mr. Wolkonskis Aufgabengebiet übernimmt?«
Kurze Pause, dann: »Nein. Rae Chen und ich schaffen das schon.«
Bia setzte die Sonnenbrille wieder auf und wandte sich zum Gehen. Irgendetwas an diesem Fall gefiel ihm nicht, aber er kam ums Verrecken nicht dahinter, was.
17
Es war drei Uhr morgens. Ford öffnete leise die Hintertür seines Häuschens und schlüpfte mit seinem Rucksack hinaus in die Dunkelheit. In der Ferne war ein Chor kläffender Kojotenstimmen zu hören, der gleich wieder verstummte. Der Mond war fast voll, und die Wüstenluft in dieser Höhe so klar, dass das Licht jede Einzelheit der Landschaft in silbrigem Relief hervorhob. Eine herrliche Nacht, dachte Ford. Ein Jammer, dass er keine Zeit hatte, sie zu genießen.
Er ließ den Blick über die kleine Siedlung schweifen. Die anderen Häuser waren dunkel, bis auf das letzte ganz am Ende der Kurve: Hazelius’ Haus. Gelber Lichtschein aus dem hinten gelegenen Schlafzimmer schimmerte durch die Vorhänge.
Wolkonskis Haus lag gut vierhundert Meter weit in der anderen Richtung.
Ford rannte durch den vom Mond beschienenen Garten und erreichte den Schatten der Pappeln. Er bewegte sich nur langsam voran und wich den Mondlicht-Pfützen im Wäldchen aus, bis er Wolkonskis Haus erreichte. Er beobachtete das Grundstück, sah oder hörte jedoch nichts.
Er ging hinter das Haus und drückte sich neben der Hintertür in den Schatten. Die Tür war wegen der Ermittlungen amtlich versiegelt. Er öffnete seinen Rucksack und holte Lederhandschuhe und ein Messer heraus. Dann drehte er am Türknauf – natürlich abgeschlossen. Ganz kurz dachte er an die Folgen, die es haben konnte, wenn er das Siegel brach, entschied aber dann, dass es das wert war.
Er schlitzte das Siegel auf, holte ein kleines Handtuch aus seinem Rucksack, wickelte es um einen Stein und drückte es kräftig gegen die Scheibe in der Tür, bis das Glas erschauernd nachgab. Vorsichtig zupfte er die letzten Splitter aus dem Rahmen, griff hinein, entriegelte die Tür und schlüpfte ins Haus.
Der Geruch von Wolkonskis Verzweiflung schlug ihm entgegen: schaler Zigaretten-und Marihuanarauch, billiger Fusel, Zwiebeldunst und ranziges Bratfett. Er zog eine LED-Taschenlampe aus dem Rucksack, richtete sie auf den Boden und schwenkte den Strahl herum. Die Küche war eine Schweinerei. Grünlich grauer Schimmel wucherte auf einem Pappteller mit gekochtem Kohl und Peperoni, der offenbar schon seit Tagen hier herumstand. Bierflaschen und Mini-Wodkaflaschen quollen aus dem überfüllten Mülleimer. Einige Flaschen waren auch auf dem Fliesenboden zerbrochen, die Scherben in eine Ecke gefegt worden.
Er ging weiter ins Wohn-und Esszimmer. Der Teppich war klebrig vor Dreck, das Sofa voller Flecken. An den Wänden hing keinerlei Dekoration, bis auf ein paar Kinderzeichnungen, die mit Tesafilm an eine Tür geklebt waren. Eine zeigte ein Raumschiff, die andere die pilzförmige Wolke einer Atombombenexplosion. Es gab keine Fotos von Wolkonskis Frau oder Kindern, keinerlei Erinnerungsstücke.
Warum hatte Wolkonski die Zeichnungen nicht mitgenommen? Vermutlich war er kein besonders guter Vater. Ford konnte sich ihn kaum als Vater vorstellen.
Die Tür vom Flur zum Schlafzimmer stand offen, dennoch roch die Luft im Zimmer abgestanden. Das Bett sah aus wie eines, das nie gemacht wurde, die Bettwäsche, als sei sie nie gewechselt worden. Schmutzige Wäsche hing aus dem übervollen Wäschekorb. Im Kleiderschrank, noch halbvoll mit Klamotten, fand Ford einen Anzug. Er betastete den Stoff – feine Wolle – und besah sich alles, was noch an der Stange hing. Wolkonski hatte eine Menge Kleidung mit in die Wildnis gebracht, einiges davon sogar recht schick, wenn auch auf billige, protzige Art. Offenbar war ihm nicht klar gewesen, was ihn hier erwartete, zumindest, was das gesellschaftliche Leben anging. Aber warum hatte er die Sachen nicht mitgenommen, als er weggefahren war?
Ford ging den Flur entlang zum zweiten Schlafzimmer, in dem ein Büro eingerichtet war. Der Computer fehlte, doch die ausgesteckten USB-und Fire-Wire-Kabel lagen noch da, außerdem ein Drucker, ein spezielles High-Speed-Modem und eine WLAN-Basis. CDs lagen überall verstreut. Es sah aus, als hätte sie jemand hastig durchwühlt und die unerwünschten einfach liegenlassen.
Er öffnete die oberste Schublade des Schreibtischs und fand weiteres Chaos vor: ausgelaufene Stifte, angekaute Bleistifte und Stapel von ausgedruckten Programmcodes in Assemblersprache, für deren Analyse man vermutlich Jahre brauchen würde. In der nächsten Schublade fand er einen unordentlichen Haufen Aktenmappen. Er sah sie rasch durch – weitere ausgedruckte Codefragmente, Notizen auf Russisch, Programm ablaufpläne. Er holte den ganzen Stapel heraus, und darunter kam ein Umschlag zum Vorschein, verschlossen, mit Briefmarke, ohne Adresse, und mittendurch gerissen.
Ford holte die zwei Hälften hervor, faltete sie auf und fand in dem Umschlag nicht etwa einen Brief, sondern einen hexadezimalen Computercode. Handgeschrieben. Das Datum darüber war vom Montag, dem Tag von Wolkonskis Abreise. Sonst nichts.
Fragen schwirrten Ford durch den Kopf. Warum hatte Wolkonski das geschrieben und es dann zerrissen? Warum hatte er den Umschlag frankiert, aber nicht adressiert? Warum hatte er ihn hier zurückgelassen? Was hatte der Code zu bedeuten? Und vor allem, warum hatte er ihn mit der Hand geschrieben? Niemand notierte Computercodes per Hand. Das dauerte ewig, und man machte viel zu leicht Fehler.
Ford kam ein Gedanke: In einer Computerumwelt mit so hoher Sicherheitsstufe wie dem Isabella-Projekt konnte man keinerlei Daten kopieren, ausdrucken, übermitteln oder per E-Mail verschicken, ohne dass der Vorgang aufgezeichnet wurde. Aber wenn man etwas handschriftlich kopierte, bekam der Computer natürlich nichts davon mit. Er stopfte sich die beiden Zettelhälften in die Tasche. Was auch immer das sein mochte, sie waren wichtig.
Von der Hintertür her hörte er das leise Knirschen von Kies unter einem Schuh.