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Er konnte zu keiner Tür hinaus – weder durch die Hintertür noch durch die Haustür –, ohne gesehen zu werden.
Ein weiteres Flüstern von leisen Sohlen, näher diesmal. Der Eindringling wusste, dass Ford hier war, und bewegte sich sehr langsam, zweifellos, um überraschend zuzuschlagen.
Lautlos schlich Ford über den Teppich zum hinteren Fenster und streckte den Arm aus. Er legte den Hebel um und drückte gegen die untere Fensterhälfte, um sie hochzuschieben. Sie klemmte.
Ihm blieb nicht mehr viel Zeit.
Ein kräftiger Ruck, und das Fenster bewegte sich. Keine Sekunde später griff der Eindringling an. Ford hechtete aus dem Fenster und zerriss dabei das Insektenschutznetz, im selben Moment, als zwei rasch hintereinander abgefeuerte Schüsse aus einer kleinkalibrigen Waffe mit Schalldämpfer die Fensterscheibe über ihm zerspringen ließen. Er rollte sich auf dem Boden ab, und um ihn herum regnete es Glassplitter.
Wie der Blitz war er auf den Beinen und rannte im Zickzack in den Schatten der Pappeln. Am anderen Ende des Wäldchens sprintete er über das offene Gelände aufwärts zum Rand des Tals. Der Mond schien so hell, dass er seinen Schatten neben sich herlaufen sah.
Im Laufen hörte er das typische dumpfe Pfeifen von Geschossen mit niedriger Mündungsgeschwindigkeit. Das musste Wardlaw sein – niemand sonst würde hier einen Schalldämpfer besitzen oder so gut schießen.
Ford sprintete auf den dunklen Umriss des Nakai Rock zu, bog hinter dem Felsen scharf links ab und rannte den Pfad entlang auf die Anhöhe dahinter. Das wespenartige Surren eines weiteren Geschosses schwirrte links an ihm vorbei. Er verließ den Pfad, kletterte über herabgestürzte Felsbrocken hinweg auf den niedrigen Felsenkamm zu und achtete darauf, stets Deckung zu haben. Gleich darauf kam er oben an. Seine Beine schmerzten von der Anstrengung, als er innehielt, um zurückzuschauen. Zweihundert Meter unter sich entdeckte er eine dunkle Gestalt, die ihm den felsigen Hang hinauf nachjagte.
Ford rannte weiter, einen Felsrücken entlang. Das Gestein war völlig kahl und bot keine Deckung – aber zumindest würde er hier keine Fußabdrücke hinterlassen. Vor sich sah er mehrere kleine, ausgetrocknete Bachbetten, die sich im Zickzack zum Rand der Mesa hin verzweigten. Kurz darauf hatte er den ersten Graben erreicht. Er sprang hinab und rannte das trockene Bachbett entlang, bis es eine scharfe Biegung beschrieb, schon dicht am Rand der Mesa. Er versteckte sich hinter einem Felsvorsprung und blickte zurück. Sein Verfolger war am Rand stehengeblieben und untersuchte den sandigen Boden mit einer Taschenlampe.
Es war unverkennbar Wardlaw.
Der Sicherheitschef erhob sich, schwenkte den Lichtstrahl im Bachbett hin und her, kletterte hinunter und bewegte sich mit gezogener Waffe in Fords Richtung weiter.
Ford kletterte im Schutz der Felsnase aus dem Bachbett. Als er den Rand der Schlucht erreichte und kurz seine Deckung aufgeben musste, folgten zwei weitere Schüsse dicht aufeinander; einer sprengte Splitter von einem nahen Felsen.
Ford rannte über den Sand und hoffte, das andere Ende der offenen Fläche zu erreichen, bevor der Sicherheitschef aus der Schlucht kletterte. Er lief aus voller Kraft, schnurgerade über den flachen Sandboden, er rannte so schnell, dass es sich anfühlte, als stieße ihm jemand ein Messer in die Lunge. Fast am Ende angekommen, bog er in Richtung einer kahlen Felsenplatte ab. Das war gefährlich offenes Gelände, aber dahinter kam ein Geröllfeld aus größeren Brocken, die ihm Deckung boten und zwischen denen er seinen Verfolger vielleicht würde abhängen können. Er sprang von der letzten Düne und rannte über die Felsenplatte, wo Wardlaw ihn im Augenblick nicht sehen konnte.
Plötzlich erkannte er eine Chance und änderte seinen Plan. Auf halbem Wege über die Felsenplatte befand sich eine ausgespülte Mulde, in die das Mondlicht nicht hineinfiel und die gerade tief genug war, um ihn zu verbergen. Er wirbelte dorthin herum, sprang hinein und drückte sich flach an den Fels. Das war kein großartiges Versteck – Wardlaw brauchte nur zufällig den Strahl seiner Taschenlampe in seine Richtung zu lenken, um ihn zu entdecken. Doch das würde er nicht tun. Nein, er würde davon ausgehen, dass Ford sich in die hervorragende Deckung der Geröllhalde dahinter geflüchtet hatte.
Ein paar Minuten vergingen – und dann hörte er Wardlaws schnelle Schritte auf dem Gestein, und keuchende Atemzüge hetzten an ihm vorüber.
Ford zählte bis sechzig und lugte dann vorsichtig über den Rand der Mulde. Drüben zwischen den Felsbrocken konnte er Wardlaws Lichtkegel tanzen sehen, der suchend immer tiefer in den Irrgarten des Geröllfelds vordrang.
Ford sprang auf und sprintete zurück zum Nakai Valley.
Nachdem Ford über Umwege nach Hause geschlichen war, näherte er sich vorsichtig seinem Häuschen. Er umkreiste das Grundstück und vergewisserte sich, dass Wardlaw es nicht überwachen ließ, dann schlüpfte er durch die Hintertür hinein. Der Mond war untergegangen, und im Osten graute der Morgen. Der ferne Schrei eines Berglöwen hallte über die Mesa.
Er ging ins Schlafzimmer in der Hoffnung, vor dem Frühstück noch ein wenig Schlaf zu bekommen. Abrupt blieb er stehen und starrte das Bett an.
Auf dem Kopfkissen lag ein Umschlag. Er hob ihn auf und zog die Nachricht heraus. Schade, dass ich Dich verpasst habe, stand da in großzügiger, schwungvoller Schrift. Unterzeichnet war das Briefchen mit Melissa.
Ford ließ den Brief zurück aufs Kissen fallen und dachte mit schiefem Lächeln, dass sich das wahre Ausmaß der Risiken bei diesem Einsatz allmählich erst herausstellte.
18
Eine Stunde später betrat Ford den Frühstücksraum und wurde vom belebenden Duft von Kaffee, Speck und Pfannkuchen empfangen. In der Tür blieb er stehen. Hier saß ein recht kleines Häuflein beisammen – mehrere Mitglieder des Teams waren unten im Bunker, andere wurden im Aufenthaltsraum vom FBI vernommen. Hazelius saß an seinem üblichen Platz am Kopf der Tafel.
Ford atmete tief durch und suchte sich einen Platz. Hatten die Wissenschaftler zuvor schon erschöpft gewirkt, so sahen sie jetzt aus wie Zombies. Sie aßen schweigend, die rotgeränderten Augen starrten ins Leere. Hazelius sah noch übler aus als die anderen.
Ford schenkte sich einen Becher Kaffee ein. Als Wardlaw ein paar Minuten später kam, beobachtete Ford ihn aus den Augenwinkeln. Im Gegensatz zu den anderen wirkte der Mann ausgeschlafen, gelassen und ungewöhnlich freundlich, denn auf dem Weg zum Tisch nickte er hierhin und dorthin.
Kate lief zwischen Tisch und Küche hin und her und brachte weitere Platten mit Essen. Ford bemühte sich, sie nicht anzustarren. Um ihn herum begann eine niedergeschlagene Unterhaltung über Nebensächlichkeiten. Niemand wollte über Wolkonski sprechen. Bloß nicht Wolkonski.
Corcoran setzte sich neben ihn. Er spürte ihren Blick, wandte sich ihr zu und sah das wissende Lächeln in ihrem Gesicht. Sie beugte sich zu ihm hinüber und fragte leise: »Wo warst du denn letzte Nacht?«
»Spazieren.«
»Schon klar.« Sie grinste anzüglich und ließ den Blick über Kate gleiten.
Sie glaubt, ich hätte was mit Kate.
Corcoran wandte sich der Gruppe zu und verkündete: »Wir kamen heute Morgen groß in den Nachrichten. Habt ihr es gesehen?«
Alle unterbrachen ihr Frühstück.
»Niemand?« Corcoran blickte sich triumphierend um. »Aber nicht das, was ihr denkt. In den Nachrichten kam nichts über Peter Wolkonski – zumindest noch nicht.«
Wieder ließ sie den Blick über die anderen schweifen und genoss die allgemeine Aufmerksamkeit. »Es geht um etwas anderes. Echt seltsam. Kennt ihr diesen Fernsehprediger Spates, der diese Riesenkirche drüben in Virginia hat? In der Times online war heute Morgen eine große Story über ihn und uns.«
»Spates?« Innes beugte sich über den Tisch. »Der Fernsehprediger, der mit diesen Prostituierten erwischt wurde? Was soll der denn mit uns zu tun haben?«
Corcorans Lächeln wurde breiter. »In seiner Predigt letzten Sonntag ging es nur um uns.«
»Aber warum denn?«, fragte Innes.
»Er hat behauptet, wir seien ein Haufen gottloser Wissenschaftler, die das Buch Genesis als Lüge hinstellen wollen. Auf seiner Website kann man sich die komplette Predigt als Video anschauen. ‹Seid gegrüßt im Namen unseres Herrn und Erlösers Jesus Christus‹«, zitierte sie, eine fast perfekte Imitation von Spates’ Südstaatenakzent, die wieder einmal ihr Talent zur Nachahmung bewies.
»Du machst wohl Witze«, sagte Innes.
Sie stupste Ford unter dem Tisch mit dem Bein an. »Hattest du davon noch nichts gehört?«
»Nein.«
»Wer von uns hat denn Zeit, im Internet herumzusurfen?«, bemerkte Thibodeaux mit lauter, gereizter Stimme. »Ich komme auch so schon kaum mit der Arbeit hinterher.«
»Ich verstehe das nicht«, sagte Dolby. »Wie kommt er darauf, wir wollten das Buch Genesis als Lüge hinstellen?«
»Wir erforschen den Urknall – eine säkular-humanistische Theorie, die behauptet, das Universum sei ohne göttliches Eingreifen entstanden. Wir sind jetzt ein Teil des Feldzugs gegen den christlichen Glauben. Wir sind Jesushasser.«
Dolby schüttelte angewidert den Kopf.
»Der Times zufolge hat die Predigt einen Aufruhr entfacht. Mehrere Kongressabgeordnete aus dem Süden fordern einen Untersuchungsausschuss und drohen damit, uns den Geldhahn zuzudrehen.«
Innes wandte sich an Hazelius. »Wussten Sie davon, Gregory?«
Hazelius nickte müde.
»Was werden wir dagegen unternehmen?«