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Als sie die kleine Ruine erreichten, blieben sie auf dem Felsvorsprung vor dem Eingang stehen, um zu verschnaufen.
»Sehen Sie.« Hazelius zeigte auf die Stelle, wo ein ehemaliger Bewohner des Hauses eine Schicht Lehmputz über die steinerne Wand gelegt hatte. Der Großteil dieses Putzes war erodiert, doch in der Nähe des hölzernen Türsturzes waren noch Handabdrücke und Reste eines Streifenmusters im getrockneten Lehm zu erkennen.
»Wenn Sie genau hinsehen, erkennen Sie sogar die Schleifen und Bögen in den Fingerabdrücken«, erklärte Hazelius. »Sie sind tausend Jahre alt, und dies ist alles, was von diesem Menschen geblieben ist.«
Er wandte sich dem Horizont zu. »So ist das mit dem Tod. Eines Tages, wumm. Alles weg. Erinnerungen, Hoffnungen, Träume, Häuser, geliebte Menschen, Besitz, Geld. Unsere Verwandten und Freunde verdrücken ein Tränchen, halten eine hübsche Feier ab und leben ihr Leben weiter. Wir werden zu ein paar verblassenden Fotos in einem Album. Und dann sterben jene, die uns geliebt haben, und jene, die sie geliebt haben, und bald ist auch die Erinnerung an uns ausgelöscht. Sie haben sicher schon diese alten Fotoalben in Antiquitätenläden gesehen, voller Leute, die nach der Mode des neunzehnten Jahrhunderts gekleidet sind – Männer, Frauen, Kinder. Niemand weiß mehr, wer diese Menschen sind. Wie der Mensch, der diesen Handabdruck hinterlassen hat. Fort und vergessen. Wozu?«
»Ich wünschte, ich wüsste es«, sagte Ford.
Obwohl der Tag allmählich recht warm wurde, lief Ford ein Schauer über den Rücken, als sie sich wieder an den Abstieg machten; ein Gefühl für seine eigene Sterblichkeit hatte ihn im Innersten berührt.
30
Als Ford zu Hause ankam, schloss er die Tür ab, zog die Vorhänge zu, holte den Aktenkoffer aus dem Schrank und gab die Kombination ein.
Schlaf, du Idiot, du sollst schlafen, schrie sein Körper. Stattdessen holte er den Laptop und Wolkonskis Zettel aus der Aktentasche. Er hatte bisher keinen Augenblick freie Zeit gehabt, um sich an der Entschlüsselung der Notiz zu versuchen. Im Schneidersitz, den Rücken ans Kopfteil gelehnt, setzte er sich aufs Bett und legte sich den Computer auf den Schoß. Er öffnete ein Hex-Editor-Programm und begann, die Ziffern und Buchstaben einzugeben. Erst mussten die hexadezimalen Daten dem Programm zur Verfügung stehen, ehe er damit arbeiten konnte.
Hinter dem Code konnte alles Mögliche stecken: ein kurzes Computerprogramm, eine Zahlen-oder Textdatei, ein kleines Bild, die ersten Noten von Beethovens Sinfonie Nr. 5. Er könnte sogar der private Schlüssel eines RSA-Kryptosystems sein – dann wäre er nutzlos, weil das FBI Wolkonskis privaten Computer mitgenommen hatte.
Ford nickte ein und neigte sich dabei so weit vornüber, dass schließlich der Laptop von seinem Schoß kippte. Er raffte sich auf, ging in die Küche und kochte Kaffee. Er hatte seit fast achtundvierzig Stunden nicht mehr geschlafen.
Als er den letzten Löffel Kaffeepulver in den Filter gab, spürte er einen Stich im Magen und dachte an den vielen Kaffee, den er seit Tagen in seinen Körper hineinschüttete. Also schob er die Kaffeemaschine beiseite, kramte im Schrank herum und fand ganz hinten eine Schachtel grünen Tee. Zwei Beutel, zehn Minuten ziehen lassen – und er kehrte mit einem Becher grüner Flüssigkeit ins Schlafzimmer zurück. Während er noch mehr von dem Code eingab, trank er den heißen, bitteren Tee mit großen Schlucken.
Er wollte schnell fertig werden, damit er noch ein wenig schlafen konnte, bevor er hinunter nach Blackhorse fuhr, um vor dem Protestritt ein letztes Mal mit Begay zu sprechen. Aber ihm verschwamm alles vor den Augen, während er ständig zwischen dem Blatt Papier und dem Bildschirm hin und her blickte, und er ertappte sich immer wieder dabei, wie er Fehler machte.
Er zwang sich, langsamer zu arbeiten.
Um halb elf war er fertig. Er lehnte sich zurück und glich die eingegebenen Daten ein letztes Mal mit Wolkonskis Notiz ab. Er speicherte das Dokument und ließ den Hex-Editor das Ganze von hexadezimalem in binären Code umwandeln.
Augenblicklich wurde der Code in binären Daten angezeigt – ein großer Haufen Nullen und Einsen.
Aus dem Bauch heraus aktivierte er den Modus, der binären in ASCII-Code verwandelte, und zu seiner Überraschung erschien eine kurze Botschaft in Plaintext auf dem Bildschirm.
Gratuliere, wer immer du sein magst. Haha! Deine IQ ist wenigstens bisschen besser als von normale menschliche Idiot.
Also. Ich schaffe meine dürre Arsch raus von diese Irrenhaus und gehe nach Hause. Ich hocke mit eine Flasche eiskalte Wodka und eine Joint vor die Fernseher und gucke
Affen in Affenhaus wie gegen Gitter schlagen. Haha! Und vielleicht ich schreibe lange Brief an Tante Natascha.
Ich kenne die Wahrheit, du Idiot. Ich habe die Wahnsinn durchgeschaut.
Um zu beweisen, ich gebe dir nur eine Name: Joe Blitz. Haha!
P. Wolkonski
Ford las die Botschaft zweimal durch und lehnte sich zurück. Das klang wie das irre Geschwätz eines gehetzten Menschen, der gerade den Verstand verlor. Welchen Wahnsinn hatte er gemeint? Die Malware? Isabella? Die Wissenschaftler selbst? Warum versteckte er die Botschaft in einem Code, statt einfach eine Nachricht zu hinterlassen?
Und Joe Blitz?
Ford gab den Namen bei Google ein und bekam eine Million Treffer. Er sah die ersten durch, erkannte aber keinerlei Zusammenhang.
Er holte das Satellitentelefon aus dem Koffer und starrte es an. Er hatte Lockwood in die Irre geführt. Nein, er hatte ihn belogen. Und jetzt hatte er Hazelius sogar versprochen, die Malware nicht zu erwähnen.
Verdammte Scheiße. Warum hatte er sich eingebildet, dass er nach zwei Jahren im Kloster einfach so wieder zu den Lügen und Täuschungsmanövern seiner CIA-Zeit zurückkehren könnte? Zumindest von dieser Botschaft konnte er Lockwood doch berichten. Vielleicht hatte der sogar eine Ahnung, was es mit diesem mysteriösen Joe Blitz auf sich hatte. Er wählte die Nummer.
»Ihre vierundzwanzig Stunden sind längst um«, sagte Lockwood gereizt, ohne sich Zeit für eine kurze Begrüßung zu nehmen. »Was haben Sie getrieben?«
»Ich habe neulich Nacht in Wolkonskis Haus eine Nachricht gefunden und dachte, sie wüssten vielleicht gern davon.«
»Warum haben Sie das gestern nicht erwähnt?«
»Es war nur ein abgerissenes Blatt Papier mit Computercode darauf. Ich wusste nicht, dass es wichtig ist. Aber jetzt ist es mir gelungen, den Code zu entschlüsseln.«
»Und? Wie lautet die Nachricht?«
Er las am Telefon die kurze Botschaft vor.
»Wer zum Teufel ist Joe Blitz?«, fragte Lockwood.
»Ich hatte gehofft, dass Ihnen der Name etwas sagt.«
»Ich setze meine Leute darauf an. Und auf diese Tante Natascha.«
Ford legte zögernd auf. Ihm war noch etwas aufgefallen: Die Nachricht klang nicht so, als hätte sie ein Mann verfasst, der im Begriff war, sich umzubringen.
31
Nach einem kurzen Nickerchen und einem späten Mittagessen ging Ford hinüber zum Stall. Er musste etwas Wichtiges mit Kate besprechen: Sie war offen zu ihm gewesen, und jetzt war es an ihm, ihr die Wahrheit zu sagen.
Sie füllte gerade mit dem Wasserschlauch die Pferdetränken und blickte zu ihm auf, als er eintrat. Ihr Gesicht war immer noch blass, beinahe durchscheinend vor Sorge.
»Danke, dass du dich vorhin für mich verbürgt hast«, sagte Ford. »Es tut mir leid, dass ich dich in eine so unangenehme Situation gebracht habe.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nichts zu danken. Ich bin nur erleichtert, dass ich jetzt nichts mehr vor dir verbergen muss.«
Er stand immer noch in der Tür und versuchte, den Mut aufzubringen und es ihr zu sagen. Sie würde es nicht gut aufnehmen – da war er sicher. Der Mut verließ ihn. Er würde es ihr später sagen, unterwegs.
»Dank Melissa glauben jetzt alle, dass wir miteinander ins Bett gehen.« Kate sah ihn an. »Sie ist unmöglich. Erst hat sie Innes nachgestellt, dann Dolby, und jetzt hat sie es auf dich abgesehen. Was die braucht, ist ein guter Fick.« Sie rang sich ein schwaches Lächeln ab. »Vielleicht solltet ihr Jungs euch mal zusammensetzen und Streichhölzchen ziehen.«
»Nein, danke.« Ford ließ sich auf einem Heuballen nieder. Es war kühl im Stall, und Staubflocken tanzten durch die Luft. Auf der kleinen Stereoanlage lief auch heute Blondie.
»Wyman, es tut mir leid, dass ich dich hier nicht besonders herzlich aufgenommen habe. Ich möchte dir nur sagen, ich bin froh, dass du da bist. Ich war nie ganz glücklich damit, wie wir uns damals getrennt haben.«
»Es war ziemlich hässlich.«
»Wir waren jung und dumm. Ich bin seitdem viel vernünftiger und erwachsener geworden – ich habe wirklich viel dazugelernt.«