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Offensichtlich hatte er die ganze Zeit über eine finstere, gefährliche Dynamik innerhalb dieser Gruppe übersehen. Sogar bei Kate – vor allem bei Kate.
»Wyman, Wyman«, sagte Hazelius besänftigend. »Sie lassen sich von Ihren Gefühlen leiten. Wir hingegen denken. Das können wir nun mal am besten.«
Ford trat einen Schritt zurück. »Hier geht es nicht um Gott. Es geht um irgendeinen Hacker, der euch sagt, was ihr hören wollt. Und ihr lasst euch darauf ein.«
»Wir lassen uns darauf ein, weil es die Wahrheit ist«, sagte Hazelius. »Das sagt mir meine Intelligenz ebenso wie meine Knochen. Sehen Sie uns an: mich, Alan, Kate, Rae, Ken – uns alle. Können wir uns alle so täuschen? Wissenschaftliche Skepsis ist uns in Fleisch und Blut übergegangen. Wir haben sie uns zu eigen gemacht. Niemand kann uns Leichtgläubigkeit vorwerfen. Warum glauben Sie, Sie wüssten mehr als wir?«
Darauf hatte Ford keine Antwort.
Hazelius sagte: »Wir verlieren kostbare Zeit.« Ruhig wand-te er sich dem Bildschirm zu. »Bitte, fahre fort. Du hast unsere volle Aufmerksamkeit.«
Konnten sie recht haben? Konnte das wirklich Gott sein? Ford wandte sich voll düsterer Vorahnungen der nächsten Botschaft auf dem Visualizer zu.
58
Von seinem Hügel am Rand des Sammelplatzes aus, Doke an seiner Seite, beobachtete Eddy den Strom der ankommenden Fahrzeuge. In der vergangenen Stunde waren mehrere hundert über den Rand der Mesa gekrochen; sie quollen nur so aus dem Dugway hervor, zuerst Motocross-Maschinen und Geländefahrzeuge, Jeeps, dann Pick-ups, Motorräder, Minivans und Autos. Die Ankömmlinge brachten Berichte über Behinderungen und Widrigkeiten mit. Die Staatspolizei hatte Straßensperren errichtet, auf der I-40, der Route 89 durch Grey Mountain und auf der Route 160 bei Cow Springs, doch die Gläubigen hatten ihren Weg über die zahllosen unbefestigten Straßen gefunden, die kreuz und quer durch das Reservat verliefen.
Die Fahrzeuge waren wild durcheinander auf der Fläche am Ende des Dugway geparkt, doch, so überlegte Eddy, es war nicht wichtig, wie die Leute parkten. Niemand würde wieder nach Hause fahren. Sie würden auf anderem Wege heimkommen – auf dem Weg der Entrückung.
Manchmal wirkte die heranstürmende Horde anarchisch: laute Stimmen, heulende Kleinkinder, Betrunkene, sogar Leute, die auf Drogen waren. Doch jene, die früh angekommen waren, begrüßten die Neuen mit Gebeten, Bibelversen und dem Wort Gottes. Mindestens eintausend Gläubige drängten sich inzwischen auf dem offenen Feld vor seinem Hügel und warteten auf Anweisungen. Viele trugen Bibeln und Kreuze bei sich. Einige trugen Gewehre. Andere hatten an Waffen mitgebracht, was ihnen in die Hände gefallen war, von gusseisernen Bratpfannen und Küchenmessern bis hin zu Vorschlaghämmern, Äxten, Macheten und Sensen. Viele Jungen waren mit Steinschleudern, Luftgewehren und Baseballschlägern bewaffnet. Andere hatten Funkgeräte mitgebracht, die Eddy requirierte und an eine kleine Gruppe ausgab, die er als Kommandanten ausgewählt hatte; ein Walkie-Talkie behielt er selbst.
Eddy war überrascht, so viele Kinder zu sehen – sogar Mütter mit Säuglingen. Kinder in der Schlacht von Armageddon? Doch wenn man darüber nachdachte, erschien es selbstverständlich. Dies war die Endzeit. Alle würden sie gemeinsam in den Himmel entrückt werden.
»He«, sagte Doke und stupste Eddy an. »Streifenwagen.«
Eddy folgte seinem ausgestreckten Finger. Dort, in der Schlange der Fahrzeuge, die sich den Dugway heraufquälten, kroch ein Streifenwagen mit blitzendem Blaulicht zwischen den anderen entlang.
Er wandte sich wieder seinen neuen Schäfchen zu. Die versammelte Menge wogte, ihre murmelnden Stimmen klangen wie Regen. Taschenlampen blitzten hier und da auf, und er hörte das Klirren von Metall auf Metall – Waffen wurden bereitgemacht und durchgeladen. Ein Mann bastelte Fackeln aus toten Kiefernzweigen und verteilte sie. Die Disziplin der Leute war unglaublich.
»Ich versuche mir zu überlegen, was ich zu ihnen sagen soll«, erklärte Eddy.
»Man muss sehr vorsichtig sein, wenn man mit Cops redet«, stimmte Doke zu.
»Ich spreche von meiner Predigt. Für die Armee Gottes, bevor wir losziehen«, sagte Eddy.
»Ja, aber was wird mit dem Cop?«, fragte Doke. »Es ist nur ein Streifenwagen, aber der hat Funk. Könnte Ärger geben.«
Eddy beobachtete das Blaulicht und bemerkte überrascht, dass die Leute tatsächlich dort, wo Platz war, rechts ranfuhren, um den Streifenwagen vorbeizulassen. Alte Gewohnheiten wie der Gehorsam gegenüber der Regierung, der Autorität, würden schwer zu überwinden sein. Ja, genau darüber würde er sprechen. Dass ihr Gehorsam von jetzt an allein Gott gelten durfte.
»Er kommt aus dem Dugway«, sagte Doke.
Das Heulen der Sirene erreichte die Mesa, erst schwach, dann lauter. Die unruhige Menge unter Eddy vermehrte sich, breitete sich immer weiter aus und wartete auf Anweisungen. Viele beteten, und ihre Bittgebete stiegen in die Nachtluft auf. Andere Gruppen hielten sich mit gesenkten Köpfen an den Händen. Kirchenlieder drangen an seine Ohren. Das erinnerte Eddy an seine Vorstellung davon, wie das Volk sich zur Bergpredigt versammelt hatte. Genau, das war es. Da würde er mit seiner Predigt beginnen. Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder heißen … Nein, das war kein guter Bibelvers für den Anfang. Er brauchte etwas Feuriges: Weh denen, die auf Erden wohnen und auf dem Meer! Denn der Teufel kommt zu euch hinab und hat einen großen Zorn und weiß, dass er wenig Zeit hat. Der Antichrist. Darauf musste er sich konzentrieren. Auf den Antichristen. Er würde nur ein paar Worte sagen und dann seine Armee ins Feld führen.
Der Polizeiwagen, der nun den Rand der Klippe überwunden hatte, steckte immer noch zwischen den vielen Autos fest. Er verließ die asphaltierte Straße und hielt ein paar hundert Meter daneben. Eddy konnte das Emblem der Navajo Tribal Police auf der Tür erkennen. Ein Suchscheinwerfer auf dem Dach wurde herumgeschwenkt, die Tür ging auf. Ein großer Indianer stieg aus, ein Navajo-Polizist. Sogar aus hundert Meter Entfernung erkannte Eddy Bia mühelos.
Sogleich war der Polizist von Menschen umringt. Nach allem, was Eddy hören konnte, schien sich dort ein Streit anzubahnen.
»Was tun wir jetzt, Pastor Russ?«, riefen die Menschen.
»Wir warten«, sagte er mit leiser, kraftvoller Stimme, die so anders klang als seine gewöhnliche Stimme, dass er sich fragte, ob er wirklich selbst gesprochen hatte. »Gott wird uns den Weg zeigen.«
59
Lieutenant Bia stand vor der Menschenmenge, und seine Sorge wuchs. Er hatte einen Anruf bekommen, auf der Mesa gebe es irgendwelchen Ärger, und er war davon ausgegangen, dass es um den Protestritt ging. Als er den dichten Verkehr auf der Red Mesa Road gesehen hatte, war er einfach mitgeschwommen. Doch nun sah er sich um und merkte, dass diese Leute, wer immer sie auch sein mochten, nichts mit dem Protestritt zu tun hatten. Diese Leute trugen Gewehre und Schwerter, Kreuze und Äxte, Bibeln und Küchenmesser bei sich. Einige hatten sich Kreuze auf die Stirn oder die Kleidung gemalt. Das war eine Art seltsamer religiöser Versammlung – vielleicht hatte sie etwas mit diesem Fernsehprediger zu tun, von dem schon einige Leute gesprochen hatten. Zu seiner Erleichterung waren alle möglichen Hautfarben hier vertreten – Schwarze, Asiaten, sogar ein paar, die wie Navajo oder Apachen aussahen. Immerhin waren es nicht der Ku-Klux-Klan oder die Nazis von der Aryan Nation.
Er zog seinen Gürtel hoch, stemmte die Hände in die Hüften und setzte ein lockeres Lächeln auf in der Hoffnung, niemanden zu verschrecken. »Habt ihr Leute einen Anführer? Jemanden, mit dem ich reden könnte?«
Ein Mann in ausgebleichten Jeans und einem groben blauen Hemd trat vor. Er hatte ein mächtiges Gesicht, gebräunt von lebenslanger Feldarbeit, einen dicken Bauch, kurze, stämmige Arme, die ein wenig vom Körper abstanden, und schwielige Hände. Ein alter Colt M1917-Revolver mit Elfenbein im Griff steckte unter seinem nietenbesetzten Gürtel, an dessen Schnalle ein poliertes Messing-Kruzifix prangte. »Ja. Wir haben einen Anführer. Er heißt Gott. Wer sind Sie?«
»Lieutenant Bia, Tribal Police.« Innerlich sträubte er sich gegen den unnötig aggressiven Tonfall des Mannes. Doch er würde ganz cool bleiben und nicht auf Konfrontation gehen. »Welcher Mensch ist denn hier zuständig?«
»Lieutenant Bia, ich habe nur eine Frage an Sie: Sind Sie ein Christ, der zur großen Schlacht hier ist?«
»Schlacht?«
»Armageddon.«
Zur Verdeutlichung legte der Mann die Hand an den mit Elfenbein eingelegten Griff seiner Waffe.
Bia schluckte. Die Menge schloss sich dichter um ihn. Er wünschte, er hätte erst Verstärkung gerufen. »Ich bin Christ, aber ich habe nichts von einem Armageddon gehört.«
Die Menge verstummte.
»Sind Sie im Wasser des Lebens wiedergeboren worden?«, fuhr der Mann fort.
Aus der Menge erhob sich scharfes Gemurmel. Bia atmete tief durch. Es hatte keinen Sinn, sich auf einen religiösen Streit mit diesen Leuten einzulassen. Er musste sie beruhigen. »Erzählen Sie mir doch mehr über dieses Armageddon.«
»Der Antichrist ist hier. Hier auf der Mesa. Die große Schlacht des Allmächtigen steht bevor. Und Sie sind entweder für uns oder gegen uns. Die Endzeit ist jetzt. Entscheiden Sie sich.«
Bia hatte keine Ahnung, wie er darauf reagieren sollte. »Ich nehme an, Ihnen ist bewusst, dass Sie sich hier in der Navajo Nation befinden und Landfriedensbruch auf Grund und Boden begehen, der an die amerikanische Regierung verpachtet ist.«
»Sie haben meine Frage nicht beantwortet.«
Die Menge zog den Kreis um Bia noch enger zusammen. Er konnte ihre Aufregung spüren, sie in ihrem Schweiß riechen.
»Sir«, sagte er mit leiser Stimme, »nehmen Sie die Hand von der Feuerwaffe.«
Die Hand des Mannes rührte sich nicht.
»Ich sagte, nehmen Sie die Hand weg von der Waffe.«
Die Finger des Mannes schlossen sich um den Griff. »Sie sind entweder für uns oder gegen uns. Also, wie steht es?«
Der Mann sprach zu der Menschenmenge, ließ Bia aber nicht aus den Augen. »Er ist keiner von uns. Er ist hier, um für die andere Seite zu kämpfen.«
»Was soll man auch erwarten?«, rief jemand, und die Menge echote: »Klar doch, was sonst?«