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»So ist es besser«, sagte Hazelius. »Danke, Wyman.«
Sie schwiegen einen Moment lang, und dann stellte Hazelius nüchtern fest: »Die werden mich umbringen, das ist Ihnen doch klar.«
»Nicht, wenn ich es verhindern kann.« Ford tastete nach seiner Waffe. Gleich darauf berührte Hazelius’ Hand die seine. »Nein. Niemand soll mehr sterben. Abgesehen davon, dass wir zahlenmäßig hoffnungslos unterlegen sind, wäre es einfach falsch.«
»Es ist nicht falsch, wenn diese Leute die Absicht haben, Sie umzubringen.«
»Wir sind alle eins«, sagte Hazelius. »Sie zu töten wäre, als töteten Sie sich selbst.«
»Bitte kommen Sie mir jetzt nicht mit diesem religiösen Scheiß.«
Hazelius seufzte. »Wyman, ich bin enttäuscht von Ihnen. Von meinem gesamten Team sind Sie der Einzige, der das Erstaunliche, was uns widerfahren ist, nicht akzeptieren will.«
Ford legte ihm eine Hand auf die Brust. »Hören Sie auf zu reden, und legen Sie sich hin.«
Ford duckte sich hinter den grob aufgeschichteten Wall, Hazelius dicht neben sich. Es roch nach Staub und Moder. Die Stimmen näherten sich, Schritte und andere leise Geräusche des Mobs hallten nun durch die steinernen Gänge. Gleich darauf drang der trübe Schein ihrer Fackeln und Taschenlampen in die staubige Höhle vor. Ford konnte vor Anspannung kaum mehr atmen.
Der Lärm wurde lauter, die Verfolger kamen näher. Plötzlich waren sie da. Eine scheinbare Ewigkeit lang schleppte Eddys Horde sich an ihnen vorbei, offenbar eher darauf konzentriert, einen Ausgang aus den Tunneln zu finden. Sie trotteten vorüber, ohne etwas zu bemerken, zu müde und verängstigt, um Ausschau nach ihnen und ihrem Versteck zu halten. Die Taschenlampen und Fackeln warfen höllische, orangerote Umrisse an die Decke, die Schatten der Männer schlichen verzerrt die Wände entlang. Der Lärm des Mobs wurde schwächer, verschwand in der Ferne, die flackernden Lichter erstarben. Die Dunkelheit kehrte zurück. Ford hörte ein langgezogenes, schmerzerfülltes Seufzen von Hazelius. »Mein Gott …«
Ford fragte sich einen verrückten Augenblick lang, ob Hazelius etwa betete.
»Sie halten mich … für den Antichrist …« Er gab ein leises, seltsames Lachen von sich.
Ford richtete sich auf und spähte in die Finsternis. Von Eddys Leuten war nichts mehr zu hören, es war vollkommen still, bis auf das gelegentliche Klappern fallender Steinchen.
»Vielleicht bin ich ja der Antichrist …«, keuchte Hazelius. Ford war nicht sicher, ob das Keuchen ein Schmerzenslaut oder ein Lachen war. Er fällt ins Delirium, dachte er. Er schob seine Furcht beiseite und überlegte, was sie nun tun sollten. Luft bewegte sich im Tunnel und brachte den Gestank brennender Kohle mit sich, außerdem ein unheimliches, tiefes, vibrierendes Knacken – Feuer.
»Wir müssen hier raus.«
Keine Antwort von Hazelius.
Er packte Hazelius unter den Achseln. »Kommen Sie. Helfen Sie mir ein bisschen. Wir können nicht hierbleiben. Wir müssen die anderen finden und diesen Flaschenzug erreichen.«
Eine dumpfe Explosion hallte durch die Stollen. Der Geruch nach brennender Kohle wurde stärker.
»Und jetzt werden sie mich umbringen …« Wieder dieses unheimliche, wahnhafte Lachen.
Ford warf sich Hazelius über die Schulter, packte ihn an beiden Armen und schleifte ihn weiter durch die Stollen.
»Welche Ironie«, nuschelte Hazelius. »Zum Märtyrer gemacht zu werden … welche Ironie. Menschen sind ja so dumm … so leichtgläubig … Aber ich habe es nicht bis zur letzten Konsequenz durchdacht … genauso dumm wie sie …«
Ford leuchtete mit der Taschenlampe voran. Der Stollen mündete in eine große Höhle.
»Jetzt werde ich dafür bezahlen … Antichrist haben sie mich genannt … Antichrist, allerdings!« Weiteres krampfhaftes Lachen. Ford mühte sich voran und erreichte die große Abbaukammer. Rechts von ihm herrschte ein Durcheinander aus eingestürzten Kohlebrocken, Gestein und zerbröckelndem Pyrit, das im Lichtkegel der Taschenlampe wie Gold glitzerte.
Er wankte mit dem nun bewusstlosen Mann auf seinem Rücken bis zum anderen Ende der Kammer. Der Entlüftungsschacht schälte sich aus der Dunkelheit, ein kreisrundes Loch von etwa einem Meter fünfzig Durchmesser in der hintersten Ecke. Ein Seil baumelte in dem Schacht.
Er legte Hazelius auf den Felsboden und bettete seinen Kopf auf die Jacke. Eine Explosion erschütterte die Kammer, und er hörte Schutt überall um sie herum von der Decke prasseln. Der Rauch brannte in seinen Augen. Jeden Moment konnte ihnen das heranrückende Feuer den Sauerstoff rauben – und das wäre das Ende.
Er packte das Seil. Es löste sich in seinem Griff auf, der untere Teil fiel herab, dröselte sich auf und verschwand in der Tiefe des Schachts. Gleich darauf hörte er etwas in Wasser platschen.
Er leuchtete mit der Taschenlampe nach oben und sah die glatten Wände so hoch hinaufreichen, wie er mit der Lampe kam. Das Ende des verrotteten Seils baumelte nutzlos hin und her. Von einem Flaschenzug war nichts zu sehen.
Er kehrte zu Hazelius zurück, der inzwischen wieder zu sich gekommen war und leise lachte. Ford hockte sich neben ihn und dachte scharf nach. Hazelius’ Gemurmel lenkte ihn ab, und dann hörte er einen Namen heraus: Joe Blitz.
Plötzlich war er hellwach. »Haben Sie gerade Joe Blitz gesagt?«
»Joe Blitz …«, nuschelte Hazelius. »Lieutenant Scott Morgan … Bernard Hubell … Kurt von Rachen … Captain Charles Gordon …«
»Wer ist Joe Blitz?«
»Joe Blitz … Captain B. A. Northrup … Rene Lafayette …«
»Wer sind all diese Leute?«, fragte Ford.
»Niemand. Sie … existieren nicht … Noms de plume …«
»Was, das sind Pseudonyme von Schriftstellern?« Ford beugte sich über Hazelius. Im schwachen Lichtschein sah er, dessen schweißnasses Gesicht. Seine Augen waren glasig. Doch der Mann besaß immer noch eine seltsame, beinahe übernatürliche Vitalität. »Wessen Pseudonyme?«
»Wessen schon? Die des großen L. Ron Hubbard … Kluger Mann … Nur haben sie ihn nicht als den Antichrist bezeichnet … Er hatte mehr Glück als ich, der Arsch.«
Ford war wie vom Donner gerührt. Joe Blitz? Ein Pseudonym von L. Ron Hubbard? Hubbard war ein Science-Fiction-Autor, der seine eigene Religion aufgemacht hatte. Hubbard hatte geglaubt, die größte Leistung, die ein Mensch vollbringen könne, bestehe darin, eine Weltklasse-Religion zu gründen, und das war ihm gelungen. L. Ron Hubbard hatte sich selbst zum Messias der Scientology gemacht.
War es möglich? War das die Frage, auf die Hazelius anspielte? War das der Grund für dieses handverlesene Team, das aus lauter Menschen mit tragischen Lebensgeschichten bestand? Der Grund für Isabella, das größte wissenschaftliche Experiment in der Geschichte der Menschheit? Für die Isolation? Die Mesa? Die Botschaften? Die Heimlichtuerei? Die Stimme Gottes?
Ford holte tief Luft und beugte sich vor. Er flüsterte: »Wolkonski hat eine Nachricht geschrieben, kurz vor … seinem Tod. Ich habe sie gefunden. Darin stand unter anderem: Ich habe den Wahnsinn durchschaut. Um es zu beweisen, gebe ich dir nur einen Namen: Joe Blitz.«
»Ja … Ja …«, entgegnete Hazelius. »Peter war klug … Klüger, als gut für ihn war … Da habe ich einen Fehler gemacht, ich hätte jemand anders aussuchen sollen …« Schweigen, dann ein langgezogenes Seufzen. »Meine Gedanken schweifen ständig ab.« Seine Stimme zitterte am Rand des Wahnsinns. »Wo war ich gleich wieder?«
Hazelius trieb zurück in Richtung Realität – aber nur ein Stückchen.
»Joe Blitz war L. Ron Hubbard. Der Mann, der seine eigene Religion erfunden hat. Steckt das hinter alledem?«
»Ich muss wohl irre geredet haben.«
»Aber das war Ihr Plan«, sagte Ford. »Nicht wahr?«
»Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.« Hazelius’ Stimme klang schärfer.
»Aber natürlich. Sie haben das alles inszeniert – den Bau von Isabella, die Probleme mit der Maschine, die Stimme Gottes. Das waren Sie, die ganze Zeit. Sie sind der Hacker.«
»Sie reden Unsinn, Wyman.« Nun klang Hazelius, als sei er wieder vollständig in der Wirklichkeit gelandet – und zwar unsanft.
Ford schüttelte den Kopf. Die Antwort lag seit einer Woche direkt vor seiner Nase – in seinen eigenen Unterlagen.
»Fast schon Ihr ganzes Leben lang«, sagte Ford, »haben Sie sich mit utopischen politischen Ideen beschäftigt, nicht wahr?«