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»Was?«
»Vorher muss ich dir etwas sagen. Bevor du … diesen Schritt tust.«
»Nämlich?«
»Es war …« Er verstummte. Wie sollte er es ihr beibringen?
Er zögerte.
»Du stehst doch auf unserer Seite, nicht wahr?«, fragte Kate.
Er fragte sich, ob er sich überhaupt dazu durchringen konnte, ihr die Wahrheit zu sagen. Aber er musste es versuchen. Sonst würde er nie wieder in den Spiegel schauen können. Oder doch? Er betrachtete ihr Gesicht, glühend vor Überzeugung und Glauben. Sie war verloren gewesen, und nun hatte Gott sie gefunden. Er konnte sich nicht einfach abwenden, ohne ihr zu sagen, was er wusste.
»Es war ein Betrug«, sagte er hastig.
Ihre Augen wurden schmal. »Wie bitte?«
»Hazelius hat das Ganze ausgeheckt. Es war von Anfang an so geplant, er wollte eine neue Religion begründen – so ähnlich wie Scientology.«
Sie schüttelte den Kopf. »Wyman … du wirst dich nie ändern, oder?«
Er griff nach ihrer Hand, doch sie zog sie heftig zurück. »Nicht zu fassen, dass du versuchst, uns das anzutun«, sagte sie, plötzlich zornig. »Ich kann es einfach nicht glauben.«
»Kate, Hazelius hat es mir gesagt. Er hat es zugegeben. Unten in der Mine. Das Ganze war ein Trick.«
Sie schüttelte den Kopf. »Du hast alles versucht, die Sache aufzuhalten und das, was hier passiert ist, in Misskredit zu bringen. Aber ich hätte nie gedacht, dass du so tief sinken würdest – zu einer solchen Lüge.«
»Kate …«
Sie stand auf. »Wyman, das wird nicht funktionieren. Ich weiß, dass du nicht akzeptieren kannst, was hier geschehen ist. Du kannst deinen christlichen Glauben nicht aufgeben. Aber du redest Unsinn. Wenn Gregory sich das Ganze ausgedacht hätte, hätte er das dann jemandem gestanden? Und ausgerechnet dir?«
»Er dachte, wir beide würden sterben.«
»Nein, Wyman. Was du da sagst, ergibt für mich keinen Sinn.«
Ford sah sie an. Ihre Augen glühten vor innigem Glauben. Er würde sie niemals überzeugen können.
Sie fuhr fort: »Hast du gesehen, wie er gestorben ist? Erinnerst du dich daran, was er gesagt hat, an seine letzten Worte? Sie haben sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Das Universum vergisst niemals. Und du glaubst, das sei nur Teil eines Betrugs gewesen? Nein, Wyman: Er ist als gläubiger Mensch gestorben. So etwas kann man nicht vortäuschen. Er hat im Feuer gestanden. Obwohl er schon brannte, mit einem zertrümmerten Bein, ist er stehen geblieben. Er ist nicht zusammengebrochen, nicht eingeknickt, er hat gelächelt bis zum Schluss und nicht einmal die Augen geschlossen. So stark war sein Glaube. Und du willst mir erzählen, das sei ein Betrug gewesen?«
Er sagte nichts. Vielleicht wollte er sie auch gar nicht von der Wahrheit überzeugen. Ihr Leben war so hart gewesen, sie hatte so viel verloren. Sie jetzt davon zu überzeugen, dass Hazelius ein Betrüger gewesen war, könnte sie endgültig zerstören. Und vielleicht brauchten die meisten Religionen ein gewisses Maß an Betrug, um erfolgreich zu sein. Schließlich beruhte Religion nicht auf Fakten, sondern auf dem Glauben. Ein Spiel um spirituelles Vertrauen.
Er sah sie an und empfand unsagbare Traurigkeit. Hazelius hatte recht gehabt: Ford, Wolkonski oder sonst jemand hätten nichts tun können, um das Ganze aufzuhalten. Nichts. Les jeux sont faits. Die Würfel sind gefallen. Und nun verstand er, warum Hazelius ihm seinen Betrug so offen eingestanden hatte – er hatte gewusst, dass Ford, selbst wenn er überleben sollte, nichts daran würde ändern können. Und deshalb war er so erstaunlich würdevoll und ruhig in den Tod gegangen. Es war der letzte Akt seines großen Dramas, und er war fest entschlossen gewesen, ihn gut zu spielen.
Er war als wahrhaft gläubiger Mensch gestorben.
»Wyman«, sagte Kate, »wenn du mich jemals geliebt hast, glaube und schließ dich uns an. Das Christentum ist am Ende.« Sie hielt ihm den Packen Papier hin. »Wie kannst du das nicht glauben, nach allem, was wir dafür durchgemacht haben?«
Er schüttelte den Kopf und brachte keine Antwort heraus. Ihre Leidenschaft ließ ihn neidisch werden. Wie wunderbar es wäre, so sicher zu sein, was die Wahrheit ist.
Sie ließ den Ausdruck fallen und nahm seine Hände. »Wir können es schaffen. Zusammen. Brich mit deiner Vergangenheit. Entscheide dich für ein neues Leben, mit mir.«
Ford senkte den Kopf. »Nein«, sagte er leise.
»Du kannst doch versuchen zu glauben. Im Lauf der Zeit wirst du ins Licht finden. Wende dich nicht einfach davon ab. Wende dich nicht von mir ab.«
»Es wäre wunderschön, eine Zeitlang. Nur, um mit dir zusammen zu sein. Aber es wäre nicht von Dauer.«
»Was wir im Berg erlebt haben, war die Hand Gottes. Ich weiß es.«
»Ich kann das nicht … Ich kann nicht leben, woran ich nicht glaube.«
»Dann glaub an mich. Du hast gesagt, dass du mich liebst und bei mir bleiben willst. Du hast es versprochen.«
»Manchmal ist Liebe nicht genug. Nicht für das, was du vorhast. Ich gehe jetzt. Grüß die anderen von mir.«
»Geh nicht.« Tränen liefen ihr übers Gesicht.
Er beugte sich vor und küsste sie zärtlich auf die Stirn. »Leb wohl, Kate«, sagte er. »Und … Gott segne dich.«
Einen Monat später
Epilog
Wyman Ford saß in Manny’s Buckhorn Bar and Grill in San Antonio, New Mexico, aß einen Chili-Cheeseburger und schaute in den Fernseher über der Bar. Ein Monat war vergangen, seit die Pressekonferenz in Flagstaff die Welt in Aufruhr versetzt hatte.
Nachdem er Lockwood in Washington Bericht erstattet und seine Geschichte schamlos so verbogen hatte, dass sie den neuen Mythos bestätigte, hatte er sich in seinen Jeep gesetzt und war nach New Mexico gefahren. Dort war er ein paar Wochen lang durch die Canyons nördlich von Abiquiú gewandert, ganz allein, um in Ruhe über die Geschehnisse nachzudenken.
Isabella war zerstört, die Red Mesa eine leblose, qualmende Mondlandschaft. Hunderte Menschen waren in dieser Hölle gestorben oder verschwunden. Das FBI hatte schließlich Russell Eddys Leichnam identifizieren können, dank DNA-Proben und Zahnstand, und den Endzeit-Prediger zum Haupttäter erklärt.
Die Red-Mesa-Story, ohnehin schon ein Medienspektakel, nahm nach Flagstaff epische Dimensionen an. Es war die größte Story seit zweitausend Jahren, verkündeten einige Experten.
Das Christentum hatte vier Jahrhunderte gebraucht, um das alte Rom zu erobern. Die neue Religion – die von ihren Jüngern als Die Suche bezeichnet wurde – brauchte ganze vier Tage, um sich quer durch die USA zu brennen. Das Internet erwies sich als perfekter Verteiler für das neue Credo – als sei es eigens für die Verbreitung des neuen Glaubens geschaffen worden.
Ford warf einen Blick auf die Uhr. Es war Viertel vor zwölf, und in fünfzehn Minuten würde die halbe Welt, die Gäste von Manny’s Buckhorn eingeschlossen, dem Großereignis beiwohnen, das von der Ranch eines Dotcom-Milliardärs in Colorado live übertragen wurde.
Der Fernseher war ziemlich leise gestellt, und Ford lauschte angestrengt. Hinter dem Nachrichtensprecher war das Kamerabild aus einem Hubschrauber eingeblendet; es zeigte eine ungeheure Menschenmenge, deren Größe von den Medien auf drei Millionen geschätzt wurde. Wie groß sie auch tatsächlich sein mochte, die Masse bedeckte die Prärie um die Farm, soweit das Auge reichte, und der schneebedeckte Gipfel des San Juan Mountain bildete den prächtigen Hintergrund.
Im vergangenen Monat hatte Ford viel nachgedacht. Er hatte Hazelius’ Brillanz erkannt. Das Red-Mesa-Debakel hatte es zu einer Religion gebracht und ihn selbst als den bedeutendsten Propheten und Märtyrer der neuen Bewegung etabliert. Die Red Mesa, Hazelius’ schrecklicher Opfertod und sein tragisches Erbe – das war der Stoff, aus dem Mythen und Legenden entstanden, eine Geschichte wie die von Buddha, Krishna, Medina und Mohammed, die Geburt in der Krippe, das Letzte Abendmahl, Kreuzigung und Auferstehung. Hazelius und die Geschichte von Isabella war nichts anderes, eine Geschichte, die alle Gläubigen miteinander teilten, eine Geschichte, die ihren Glauben belebte und ihnen sagte, wer sie waren und warum es sie gab.
Sie war zu einer der größten Geschichten geworden, die je erzählt worden waren.
Hazelius hatte seine Sache durchgezogen – und zwar brillant. Er hatte sogar recht behalten, was seinen Märtyrertod anging, seine feurige Verwandlung, die Gewissen und Vorstellungskraft der Menschen auf unvergleichliche Weise gepackt hatte. Im Tod war er eine moralische Instanz geworden, ein Prophet und spiritueller Anführer.
Es war schon fast Mittag, und der Barkeeper stellte den Fernseher lauter. Die Mittagsgäste an der Bar – Lastwagenfahrer, Rancher aus der Umgebung und ein paar Touristen – richteten ihre gebannte Aufmerksamkeit auf das Gerät.
Vom Nachrichtenstudio wurde zu einem Reporter vor Ort in Colorado umgeblendet. Der Mann stand in der riesigen Menge und umklammerte sein Mikrophon. Er schwitzte, und sein Gesicht strahlte mit derselben Inbrunst, die auch die anderen Menschen dort erfasst hatte. Sie war wohl ansteckend. Die Leute um ihn herum sangen und jubelten und schwenkten Banner, die eine verkrüppelte, brennende Pinyon-Kiefer zeigten.