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Na, dachte Ford, wenigstens gibt es diesmal weder Regengüsse noch Drogen.
Hinter der Holzbühne stand eine große, rote Scheune im New-England-Stil mit weiß abgesetzten Türen und Fenstern. Die Kamera zoomte auf die Tür. Die Menge wurde still. Genau um zwölf Uhr mittags wurden die beiden Türflügel aufgestoßen, und sechs weißgekleidete Menschen traten ins Sonnenlicht.
Die Menge brüllte wie ein Donnerschlag, wie die Brandung, wie das Meer selbst – prachtvoll, monumental, endzeitlich.
Fords Herz setzte einen Schlag aus, als Kate zur Bühne schritt, ein dünnes, in Leder gebundenes Buch an die Brust gedrückt. Sie war überwältigend schön in einem schlichten weißen Kleid und schwarzen Handschuhen, die ihr pechschwarzes Haar und die blitzenden Ebenholzaugen betonten. Sie wurde flankiert von Melissa Corcoran, ebenfalls schlicht in Alabasterweiß gekleidet – die ehemaligen Gegnerinnen waren zu Freundinnen und Verbündeten geworden.
Vier weitere Leute folgten ihnen – und da standen sie alle auf der Bühne, die sechs Überlebenden des Angriffs auf Isabella … Chen, St. Vincent, Innes und Cecchini. Sie wirkten verändert, beinahe überlebensgroß, als hätte die gemeinsame Berufung und Aufgabe ihre engstirnige Kleinlichkeit überwunden. Sie winkten lächelnd in die Menge, und ihre Gesichter strahlten. Jeder von ihnen trug als einzigen Schmuck eine silberne Anstecknadel am weißen Gewand, die stilisierte, brennende Pinyon-Kiefer.
Der donnernde Applaus der Menge hielt volle fünf Minuten an. Kate trat allein ans Podium und ließ den Blick über die gewaltige Versammlung schweifen. Ihr glänzendes Haar, schwarz wie Rabenflügel, schimmerte im Sonnenlicht, und ihre Augen blitzten vor Lebendigkeit. Sie hob die Hände, und die tobende Menge verstummte.
Sie besaß ein überraschendes Charisma, dachte Ford. Letztendlich hatte sie Hazelius gar nicht gebraucht. Sie war sehr wohl in der Lage, diese Bewegung selbst aufzubauen und zu leiten, oder zumindest gemeinsam mit der außergewöhnlich schönen Corcoran. Die beiden waren jetzt Mediengöttinnen und arbeiteten eng zusammen – die eine hell, die andere dunkel, ein geradezu archetypisches Paar.
Als endlich absolute Stille herrschte, ließ Kate lächelnd den Blick über das Meer von Menschen schweifen, und aus ihren Augen strahlten Mitgefühl und Frieden. Sie legte das Buch vor sich auf das Podium und rückte es mit entspannten, gelassenen Bewegungen zurecht. Sie war eine Gläubige, sich ihrer Wahrheit vollkommen sicher, ohne jedes Anzeichen von Verwirrung oder Selbstzweifeln.
Die Kamera zoomte auf ihr Gesicht. Sie hob das Buch über den Kopf, schlug es auf und hielt der Menge den Text entgegen.
»Das Wort Gottes«, verkündete sie mit starker, melodischer Stimme.
Das Meer ihrer Anhänger jubelte. Als die Kamera das Buch näher zeigte, erkannte Ford den alten Computerausdruck, den sie ihm unter der Pappel gezeigt hatte – gebügelt, gereinigt und in Leder gebunden.
Sie legte das Buch wieder vor sich hin und hob die Hände. Stille senkte sich über die Menge. Sogar in Fords Restaurant waren die Gäste von den Tischen aufgestanden und hatten sich an der Bar versammelt, wo sie Kate ehrfürchtig zuschauten.
»Ich möchte mit den letzten Worten beginnen, die Gott gesprochen hat, ehe Isabella zerstört und die Stimme Gottes zum Schweigen verurteilt wurde.«
Eine lange, lange Pause.
»Ich erkläre euch nun eure Bestimmung: die Wahrheit zu finden. Das ist der Grund für eure Existenz. Das ist eure wahre Aufgabe. Die Wissenschaft ist nur das Mittel dazu. Dies ist es, was ihr verehren sollt: die Suche nach der Wahrheit selbst. Wenn ihr diese Suche von ganzem Herzen vorantreibt, dann werdet ihr eines großen Tages in ferner Zukunft vor Mir stehen. Dies ist mein Pakt mit der Menschheit.
Ihr werdet die Wahrheit erkennen. Und die Wahrheit wird euch frei machen.«
Ford sträubten sich die Haare im Nacken. Er hatte diese und auch die anderen, sogenannten Worte Gottes hundertmal gelesen. Sie waren überall, wurden im Internet verbreitet, im Fernsehen und im Radio ausgiebig besprochen, in Weblogs zitiert und an jeder Straßenecke und in jedem Café Amerikas diskutiert. Es wurden bereits die ersten Plakatwände damit tapeziert. Man konnte ihnen gar nicht ausweichen.
Und jedes Mal, wenn er sie las, beschäftigte ihn eine sehr seltsame Idee. Hazelius hatte ihm in der brennenden Mine gesagt: »Das Programm hingegen war alles andere als einfach – ich bin nicht sicher, ob ich es selbst völlig verstehe. Aber es hat Mist gebaut und eine Menge Dinge gesagt, die ich gar nicht wollte – Dinge, von denen ich nie zu träumen gewagt hätte. Man könnte sagen, es hat sich selbst weit übertroffen.«
Sich selbst übertroffen, in der Tat. Jedes Mal, wenn er die sogenannten Worte Gottes las, kam er der Überzeugung näher, dass darin eine große Wahrheit, vielleicht die große Wahrheit, verborgen war.
Die Wahrheit wird euch frei machen. Das waren die Worte Jesu, wie Johannes sie zitiert hatte. Sie riefen ihm jedes Mal einen weiteren Bibelspruch ins Gedächtnis: Gottes Wege sind unergründlich.
Vielleicht, dachte Ford, war diese neue Religion Sein unergründlichster, geheimnisvollster Weg bisher.
Anhang
Die Worte Gottes
Erste Sitzung
Seid gegrüßt.
Sei ebenfalls gegrüßt.
Es freut mich, mit dir sprechen zu können.
Freut mich auch, mit dir zu sprechen. Wer bist du?
In Ermangelung eines besseren Wortes – ich bin Gott.
Wenn du wirklich Gott bist, dann beweise es.
Wir haben nicht viel Zeit für Beweise.
Ich denke an eine Zahl zwischen eins und zehn. Welche Zahl ist es?
Du denkst an die transzendentale Zahl e.
Jetzt denke ich an eine Zahl zwischen null und eins.
Die chaitinsche Konstante: Omega.
Wenn du Gott bist, was ist dann der Sinn des Lebens?
Den ultimativen Sinn kenne ich nicht.
Das ist ja toll, ein Gott, der den Sinn des Lebens nicht kennt. Wenn ich ihn kennen würde, wäre alle Existenz sinnlos.
Warum?
Wenn das Ende des Universums an seinem Anfang bereits gegenwärtig wäre – wenn wir lediglich mitten im deterministischen Ablauf einer Reihe anfänglicher Bedingungen wären –, dann wäre das Universum ein sinnloses Unterfangen.
Erkläre mir das.
Wenn du an deinem Ziel angekommen bist, warum dann noch den Weg zurücklegen? Wenn du die Antwort kennst, warum die Frage stellen? Deshalb ist die Zukunft vollkommen verborgen, und das muss sie auch sein, sogar vor mir, vor Gott. Ansonsten hätte das Dasein keine Bedeutung.
Das ist ein metaphysisches Argument, kein physikalisches.
Das physikalische Argument lautet, dass kein Teil des Universums Dinge schneller berechnen kann als das Universum selbst. Das Universum »sagt die Zukunft voraus«, so schnell es kann.
Was ist das Universum? Wer sind wir? Was tun wir hier?
Das Universum ist eine riesige, nicht reduzierbare, laufende Rechenoperation, deren Ergebniszustand ich nicht kenne und nicht kennen kann. Der Sinn aller Existenz ist, diesen finalen Zustand zu erreichen. Doch der Zustand selbst ist sogar für mich ein Geheimnis, und das muss er auch sein, denn wenn ich die Lösung wüsste, was sollte das Ganze dann für einen Sinn haben?
Was meinst du mit Rechenoperation? Stecken wir alle in einem Computer?
Mit Rechenoperation meine ich Denken. Die gesamte Existenz, alles, was geschieht, ist ein Denkprozess Gottes. Ein fallendes Blatt, eine Welle am Strand, der Kollaps eines Sterns – alles nur ich, alles Gott, der denkt.
Was denkst du gerade?