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Ich wälzte mich einige Stunden auf meinem verschwitzten, zerwühlten Bett hin und her, bis ich um fünf Uhr morgens aufstand und mir eine Kanne starken schwarzen Kaffee machte, den ich mit einem Schuss Calvados verstärkte. Mit diesem Getränk wärmen sich die alten Männer in der Normandie an kalten Dezembertagen auf. Ich stellte mich ans Fenster, schaute auf die verlassene Straße in der Frühe und hatte das Gefühl, dass mein ganzes Leben sich plötzlich seltsam verändert hatte, als ob man mit dem Auto in einer Stadt, die man gut zu kennen glaubt, in die falsche Straße einbiegt und sich dann in einer fremden Gegend wiederfindet, wo die Gebäude dunkel und verfallen sind und die Leute unfreundlich und abweisend.
Um sechs konnte ich meine Neugierde nicht mehr bezwingen und rief das Elmwood Foundation Hospital an, um zu hören, ob Dr. Jarvis seinen Dienst begonnen hatte. Die ausdruckslose Stimme der Sprechstundenhilfe sagte mir, dass Dr. Jarvis keine Gespräche entgegennehme, aber sie notierte sich meine Nummer und versprach, dass er mich zurückrufen würde.
Ich setzte mich wieder auf mein Blumenmuster-Sofa und nippte weiter an meinem Kaffee. Ich hatte die ganze Nacht über alles nachgedacht, was in dem Haus 1551 Pilarcitos passiert war. Noch immer konnte ich nicht verstehen, was eigentlich vor sich ging. Eines war allerdings klar: Welche Kraft oder welcher Einfluss auch immer dieses Haus heimsuchte, es war nichts Wohlmeinendes. Ich zögerte wirklich, das Wort »Geist« zu benutzen, sogar wenn ich in der privaten Atmosphäre meines Apartments darüber nachdachte, aber was zur Hölle konnte es sonst sein?
Es hatten sich so viele seltsame Ereignisse begeben und sie schienen alle nichts miteinander zu tun zu haben. Ich hatte das Gefühl, dass Seymour Wallis wichtiger war, als er selbst wusste. Es war schließlich sein Haus, und er war der Erste, der das Atmen gehört hatte. Er hatte ja selbst gesagt, dass er vom Pech verfolgt wurde, seitdem er in diesem Park in Fremont gearbeitet hatte. Auch besaß er noch immer dieses eigenartige Souvenir aus Fremont, die Bärenfrau auf dem Treppenpfosten.
Ich spürte, und das sehr stark, dass alles, was passierte, nicht rein zufällig geschah. Es war wie der Anfang eines Schachspiels, bei dem die ersten Züge zufällig und beziehungslos erscheinen, aber alle Teil einer wohlüberlegten Strategie sind. Die Frage war nur, wessen Strategie! Und wozu?
Wie Bryan Corders schrecklicher Unfall und Dan Machins unheimliche Gehirnerschütterung allerdings in Verbindung gebracht werden konnten, begriff ich nicht. Ich wollte aber auch nicht zu intensiv darüber nachdenken, weil ich ständig die schrecklichen Bilder von Bryans fleischlosem Kopf vor mir sah, und der Gedanke daran, dass er immer noch lebte, ließ meine Gänsehaut noch schlimmer werden. Auch in meinen besten Zeiten hatte ich schon nicht den stärksten Magen. Ich gehörte zu den empfindlichen Leuten, die den Tintenfisch auf der Meeresfrüchteplatte nicht essen können und die die Frühstückseier stets hart gekocht bestellen.
Das Telefon läutete und Angst kroch mir prickelnd den Nacken hoch. Ich nahm den Hörer und sagte: »John Hyatt. Wer ist am Apparat?«
»John? Ich bin es, Jane.«
Ich nahm einen Schluck Kaffee. »Du bist aber früh auf«, bemerkte ich. »Konntest du nicht schlafen?«
»Konntest du denn?«
»Nun ja, nicht so richtig. Ich muss immer wieder an Bryan denken. Ich habe eben das Krankenhaus angerufen, aber sie haben noch keine Neuigkeiten. Ich hoffe nur, dass er tot ist.«
»Ich weiß, was du meinst.«
Ich trug das Telefon zum Sofa hinüber und streckte mich lang aus. Gerade jetzt wurde ich müde. Vielleicht war es auch nur die Erleichterung, mit jemand Nettem reden zu können. Ich trank den Kaffee aus, wobei ich etwas Kaffeesatz in den Mund bekam, den ich während des übrigen Gespräches von meiner Zunge zu pflücken versuchte.
»Ich rufe an, weil ich etwas herausgefunden habe«, sagte Jane.
»Hat es etwas mit Bryan zu tun?«
»Nicht ganz. Aber etwas, das mit Seymour Wallis’ Haus zu tun hat. Du kennst doch diese ganzen Zeichnungen vom Mount Taylor und Cabezon Peak?«
»Sicher. Darüber habe ich mir auch schon Gedanken gemacht.«
»Also, ich habe darüber in den Büchern im Laden nachgeschlagen. Mount Taylor liegt in den San Mateo Mountains, Höhe knapp 3500 Meter, und Cabezon Peak liegt im Nordosten im San Doval County, Höhe etwas über 2500 Meter.«
Ich spuckte Kaffeesatz. »Das liegt in New Mexico, richtig?«
»Das stimmt. Echtes Indianergebiet. Und es gibt Dutzende von Legenden über diese beiden Berge, meistens Navaho-Geschichten über Big Monster.«
»Big Monster? Wer zum Teufel ist Big Monster?«
»Big Monster war ein Riese, der über etliche Jahrhunderte den Südwesten terrorisiert haben soll. Er hauste auf dem Mount Taylor. Er hatte ein blau-schwarz gestreiftes Gesicht und trug eine Rüstung aus Feuersteinen – sie war mit den Eingeweiden der Leute und Tiere zusammengewebt, die er niedergemetzelt hatte.«
»Das klingt aber nicht gerade friedfertig.«
»Das war er auch nicht. Er war einer der wildesten Riesen aller Legenden und aller Kulturen. Ich habe ein Buch aus dem 18. Jahrhundert vor mir liegen. Darin steht, dass er alle menschenvernichtenden Dämonen unter sich vereinte und dass ihn kein Sterblicher vernichten konnte. Er wurde jedoch von zwei tapferen Göttern erschlagen, die man die Zwillinge nannte. Sie lenkten seine Pfeile mit einem Regenbogen ab und enthaupteten ihn dann mit einem Blitzschlag. Seinen Kopf warfen sie nach Nordosten, und daraus entstand dann der Cabezon Peak.«
Ich räusperte mich. »Das ist eine sehr nette Geschichte. Doch was hat sie mit Seymour Wallis’ Haus zu tun? Abgesehen natürlich von all den Zeichnungen vom Mount Taylor und Cabezon Peak.«
»Tja, ich bin mir da nicht ganz sicher«, sagte Jane. »Aber hier wird eine Anspielung gemacht auf den Ersten, der Worte zur Gewalt benutzte. Das verstehe ich nicht so ganz. Wer oder was auch immer derjenige war, der als Erster Worte zur Gewalt benutzte, er war anscheinend mächtig genug, um Big Monsters goldenes Haar abzuschneiden und ihn dadurch zum Gespött zu machen … Und da ist noch etwas. Der Erste, der Worte zur Gewalt benutzte, war ewig und unsterblich, und sein Motto gegenüber allen Göttern und Menschen, die ihn vernichten wollten, war ein Navaho-Spruch, den ich nicht aussprechen kann, der aber etwa so viel bedeutet wie »Zurückkommen auf dem Pfad der vielen Teile.«
»Jane, Schatz, das ergibt alles aber wenig Sinn.«
»John, Liebling, es gibt noch ein anderes Wort für ›zurückkommen‹! Falls du es vergessen hast: ›Rückkehr‹.«
Ich schwang meine Beine vom Sofa und setzte mich gerade hin. »Jane, du klammerst dich an völlig unwahrscheinliche Strohhalme. Ich gebe zu, ich weiß nicht, warum Seymour Wallis diese ganzen Bilder vom Mount Taylor und Cabezon Peak in seinem Haus hängen hat. Ich vermute, sie hingen schon da, als er einzog. Aber du kannst jeden Berg im ganzen Südwesten nehmen und du findest eine Indianerlegende, die über ihn berichtet. Da ist nichts dran, wirklich. Ich meine, wir haben es vielleicht mit einer übernatürlichen Kraft zu tun. Irgendeine unerkannte Macht, die sich bisher im Verborgenen hielt und sich jetzt plötzlich als kinetische Kraft offenbart. Aber mit Navaho-Monstern hat das nichts zu tun. Ich bin überzeugt, so etwas gibt es nicht.«
Jane war nicht beleidigt. »Ich glaube, dass wir dem doch noch etwas nachgehen sollten. Bei dir besteht nur das Problem, dass du zu rational bist.«
»Rational? Ich arbeite für das Gesundheitsamt und du hältst mich für zu rational?«
»Ja, das tue ich. John Hyatt, der vernünftige Staatsbürger – du bist so nüchtern, dass man sogar eine Hotelkette nach dir benannt hat.«
Ich musste lachen. »Hör mal, tu mir bitte einen Gefallen. Rufe für mich im Büro an. Sprich mit Douglas P. Sharp und sage ihm, ich wäre krank. Ich will heute Morgen gern ins Elmwood-Krankenhaus gehen, um mit Dr. Jarvis zu sprechen.«
»Sollen wir uns zum Mittagessen treffen?«
»Warum nicht? Ich komme zum Buchladen und hole dich ab.«
»Rufst du mich an, wenn du weißt, wie es Bryan geht? Ich wäre dir dankbar.«
»Na klar.«
Ich legte den Hörer auf. Eine Weile dachte ich über das nach, was Jane mir gesagt hatte, aber dann schüttelte ich den Kopf und lächelte. Sie liebte Geister, Zauberei und Monster. Sie hatte mich einmal mitgezerrt, um die ganzen alten, originalen Horrorfilme wie Dracula mit Bela Lugosi und Frankenstein mit Boris Karloff anzusehen. Irgendwie war der Gedanke, dass Jane an Geister und Monster im Haus 1551 Pilarcitos glaubte, sehr beruhigend. Das weckte den gutherzigen männlich-väterlichen Chauvinisten in mir. Vielleicht hatte ich sie allein aus diesem Grunde mit dorthin genommen. Wenn Jane an so etwas glaubte, dann konnte es nicht wahr sein.
Das Telefon läutete wieder, als ich mich gerade rasierte. Mit schaumbedecktem Kinn nahm ich den Hörer ab, wie der Weihnachtsmann, der eine Bestellung für das Spielzeug des nächsten Winters entgegennimmt.
»John? Ich bin’s, James Jarvis. Sie wollten zurückgerufen werden.«
»Oh, hallo. Ich wollte nur wissen, wie es Bryan Corder geht.«
Einen Moment blieb es still. »Sein Herz schlägt noch immer.«
»Glauben Sie nicht, dass er weiterleben kann?«
»Das ist schwer zu sagen. Ich wünsche es ihm besser nicht. Auf keinen Fall könnte er wieder in die Welt hinausgehen. Er müsste den Rest seines Lebens unter einem keimfreien Sauerstoffzelt liegen. Das gesamte Gehirn liegt frei, und jede Infektion würde ihn umgehend töten.«
Mit dem Handrücken wischte ich mir den Schaum vom Mund. »Können Sie nicht den Stecker herausziehen und ihn einfach sterben lassen? Ich glaube, dass ich Bryan gut genug kenne, um zu sagen, dass er so nicht weiterleben möchte.«
»Nun«, sagte Dr. Jarvis, »das haben wir.«
»Sie haben was?«
»Wir haben die Systeme zur Lebenserhaltung entfernt. Er bekommt kein Plasma, kein Blut, keine intravenöse Ernährung oder Beruhigung, kein Adrenalin, keinen elektronischen Herzschrittmacher, nichts mehr. Medizinisch müsste er schon seit Stunden tot sein.«
Er schwieg wieder und ich hörte jemanden sein Büro betreten und etwas Unverständliches sagen. Dann meinte Dr. Jarvis: »Das Problem ist, John, dass sein Herz noch immer schlägt und nicht aufhört. Wie schwer seine Verletzungen auch immer sind, ich kann seinen Tod nicht bestätigen, bevor er nicht tot ist.«
»Wie ist es mit Euthanasie?«
»Das ist ungesetzlich. Und so schwer Bryans Verletzungen auch sind, ich kann es nicht tun. Ich nehme schon genug Risiko auf mich, indem ich ihn von den Lebenserhaltungsgeräten trenne. Das kann mich meine Lizenz kosten.«
»Hat seine Frau Moira ihn gesehen?«
»Sie weiß, dass er einen Unfall hatte, mehr nicht. Wir tun natürlich alles, um sie fernzuhalten.«
»Was ist mit Dan Machin? Irgendeine Besserung?«
»Er liegt immer noch im Koma. Aber warum kommen Sie nicht her und sehen sich das selbst an? Ich könnte etwas moralische Unterstützung gebrauchen. Ich konnte hier mit niemandem über die vergangene Nacht reden. Die sind alle so verdammt vernünftig, sie würden doch glauben, dass ich zu einer Sekte oder so was gehöre.«
»Okay. Geben Sie mir eine halbe Stunde.«
Ich rasierte mich, zog mir meine ausgewaschenen Jeans und ein rotes Hemd an, dann bespritzte ich mich mit etwas Rasierwasser. Es ist erstaunlich, was ein Kleiderwechsel für die geistige Verfassung bedeuten kann. Ich machte noch mein Bett, spülte das Kaffeegeschirr, warf Dolly Partons Bild, das in meiner kleinen Diele hing, einen Kuss zu und ging hinunter auf die Straße.
Es war einer von diesen strahlenden Morgen, an denen man die Augen weit aufreißt, um mehr zu sehen. Der blaue Himmel und die vereinzelten weißen Wolken stärkten in mir ganz deutlich die Gewissheit, dass das Leben auch ganz normal sein kann und dass der Unfall in der letzten Nacht nur eine abseitige, bittere Laune der Natur gewesen war.
Ich ging bis zur Straßenecke und winkte mir ein Taxi. Ich hatte früher mal selbst ein Auto besessen, aber all die anfallenden Kosten vom Gehalt eines Angestellten bei der Gesundheitsbehörde bezahlen zu wollen, war wie der Versuch, einen verstopften Kanal mit einer Zahnbürste zu reinigen. Am Ende hatte das Inkassoinstitut einen Mitarbeiter gesandt, der an einem dunstigen Morgen erschien und mit meinem metallicblauen Monte Carlo im Nebeltreiben verschwand. Erst als er fort war, stellte ich fest, dass ich meine Evel-Knievel-Sonnenbrille im Handschuhfach vergessen hatte.
Als wir die Fulton Street hinauf zum Krankenhaus fuhren, einem der höchsten Teak-und Betongebäude mit Sicht auf den Ozean, sagte der Taxifahrer: »Schauen Sie mal die verdammten Vögel da. Haben Sie so etwas schon jemals gesehen?«
Ich sah von meiner Ausgabe des Examiner auf – ich hatte nach irgendeiner Meldung über den Unfall von Bryan Corder gesucht. Wir fuhren gerade zwischen sauber geschnittenen Hecken in den weiten Vorhof des Krankenhauses ein und zu meiner Verwunderung und Beunruhigung wimmelte es auf den Dächern der Gebäude von grauen Vögeln. Es war nicht nur so ein Vogelschwarm, der sich kurz niedergelassen hatte, da saßen Tausende von ihnen. Überall auf der Silhouette des Hauptgebäudes und jedem Nebentrakt, auf der Klinik und den Garagen.
»Das nenne ich sonderbar«, sagte der Taxifahrer, während er den Wagen durch den Vorhof fuhr und am Haupteingang hielt. »Sonderbar mit einem Ausrufezeichen.«
Ich stieg aus dem Wagen und blieb einen Augenblick stehen, um die flatternden grauen Massen zu betrachten. Diese Art Vögel kannte ich nicht. Sie waren groß wie Tauben, aber grau wie gewitterschwerer Himmel, grau wie die stürmische See. Was aber noch schlimmer war: Sie waren ganz still. Sie zwitscherten nicht, sangen nicht. Sie saßen auf dem Dach des Krankenhauses, die warme Brise des Pazifiks spielte mit ihrem dunklen Gefieder, geduldig und lautlos wie Vögel auf einem Grabstein aus Granit.
»Haben Sie den Hitchcock-Film gesehen?«, fragte der Taxifahrer. »Den, wo die Vögel verrückt werden?«
Ich hustete. »Daran musste ich jetzt nicht erinnert werden, danke.«
»Tja, vielleicht ist es das«, sagte der Taxifahrer. »Vielleicht starten die Vögel von hier. Stellen Sie sich das vor.«
Ich bezahlte den Mann und ging durch die automatischen Türen in den kühlen Bereich des Krankenhauses. Alles hier drinnen war sehr geschmackvoll ausgestattet – italienische Holzpaneele auf dem Boden, Gemälde von David Hockney, Palmenbäume und leise Musik. Ins Elmwood Foundation Hospital kam niemand, dessen Krankenversicherung nicht einen ziemlich hohen Beitrag kostete.
Am Empfang saß ein dralles Mädchen in einem engen weißen Kleid. Sie hatte dichtes schwarzes Haar, auf dem die Schwesternhaube wie ein sauber gelegtes Ei thronte.
»Hi«, sagte sie. »Ich bin Karen.«
»Hi, Karen, ich heiße John. Was haben Sie heute Abend vor?«
Sie lächelte. »Heute ist Mittwoch. Mein Abend zum Haarewaschen.«
Ich schaute auf ihre zu einem Bienenkorb hochgesteckten Haare. »Sie meinen, Sie waschen das Ding da? Ich dachte, so etwas würde einfach nur immer wieder frisch lackiert.«
Jetzt war sie beleidigt und drückte einen Knopf, um Dr. Jarvis zu rufen. »Einige von uns achten noch auf gutes Benehmen«, meinte sie sauer.
Etwas verlegen und stumm stand ich da, bis kurz darauf Dr. Jarvis erschien. Er kam mit ausgestreckter Hand auf mich zu.
»John! Ich bin froh, dass Sie da sind!«
Ich schaute in Richtung der dunkelhaarigen Schwester. »Ich bin ebenso froh …«
Dr. Jarvis führte mich zum Aufzug und wir fuhren zum fünften Stock hinauf. Leise Musik plätscherte beruhigend aus den Lautsprechern: Moon River.
Wir landeten auf einem sauberen Flur, der von trüben Deckenlampen erhellt wurde und an dessen Wänden mittelmäßige Lithografien der Gegend von Mill Valley und Sausalito hingen. Dr. Jarvis ging auf zwei breite Mahagoni-Flügeltüren zu und drückte sie auf. Ich folgte willig und stand dann in einem Beobachtungsraum mit einer durchgehenden Glaswand, die den Blick in die trüben, bläulich erleuchteten Tiefen einer Intensivstation freigab.
Dr. Jarvis meinte: »Treten Sie ruhig näher heran«, also ging ich über den gefliesten Boden und schaute durch das Glas.
Bryans Anblick in diesem bläulichen Raum, wo er mit seinem blanken Schädel auf einem Kopfkissen lag, den voll erhaltenen Körper in einem grünen OP-Kittel, war grausam und furchterregend. Obwohl ich ihn schon zuvor gesehen und den Schock erlebt hatte, als ich versuchte, ihn aus dem Kamin zu ziehen, war dieser Anblick des grinsenden Skelettes zu viel für mich. Noch schlimmer war jedoch der elektrische Bildschirm neben seinem Bett, denn der zeigte, dass sein Herz langsam, aber regelmäßig schlug – kleine wandernde Lichtpunkte, die bedeuteten: »Ich lebe noch immer.«
»Ich glaube es nicht«, flüsterte ich. »Ich kann es mit meinen eigenen Augen sehen, aber ich glaube es einfach nicht.«
Dr. Jarvis kam näher und stellte sich neben mich. Er war sehr blass und die dunklen Ringe unter seinen Augen ließen seine Müdigkeit erkennen. »Ich auch nicht. Aber es passiert wirklich. Sein Herzschlag ist sehr langsam, aber regelmäßig und stark. Falls wir ihn jetzt töten würden, so bestünde kein Zweifel daran, dass wir tatsächlich einen Mord begingen.«
Ein junger Assistenzarzt, der neben uns stand, meinte: »Er kann das nicht mehr viel länger durchhalten, Sir. Er ist wirklich krank.«
Dr. Jarvis zuckte die Achseln: »Er ist nicht nur krank, Perring. Er ist tot. Oder zumindest müsste er es sein.«
Ich starrte vier oder fünf Minuten lang auf Bryans hellen, glänzenden Kopf. Die leeren Augenhöhlen sahen aus wie finstere, höhnische Augen, und die Wangen waren zu einem knochigen Grinsen entblößt. Dr. Jarvis neben mir sagte nichts, aber ich sah aus den Augenwinkeln seine Hände, die während der ganzen Zeit nervös mit dem Kugelschreiber spielten.
In den Tiefen dieses bläulichen Zimmers pochte das Herz immer weiter und weiter, die Lichtsignale huschten beharrlich über den Kontrollbildschirm, hielten Bryan Corder lebendig in einer schrecklichen Hölle, die er niemals sehen oder verstehen würde.
»Ich habe eine Theorie. Möchten Sie sie hören?«, fragte Dr. Jarvis mit rauer Stimme.
Ich war glücklich, meine Augen von der durchsichtigen Glaswand zu lösen. »Klar. Reden Sie. Jane hat auch einige Theorien, aber ich muss Ihnen gestehen, dass sie reichlich seltsam sind.«
»Ich vermute, dass meine nicht weniger seltsam ist.«
Ich griff nach seinem Arm. »Gibt es hier die Möglichkeit, irgendwie an einen Drink zu kommen? Ich könnte wirklich einen gebrauchen.«
»Ich habe einen Kühlschrank in meinem Büro.«
Dankbar verließen wir den Beobachtungsraum und gingen den Flur entlang zu Dr. Jarvis’ Büro. Es war ziemlich eng, gerade genügend Raum für einen Schreibtisch, einen kleinen Kühlschrank und eine schmale Couch; der Blick aus dem Fenster war nur für jemanden eindrucksvoll, der gerne auf die Rückansichten von Gebäuden starrt. Abgesehen von einer billigen Schreibtischlampe, einem Stapel medizinischer Zeitschriften und einer Fotografie, die Dr. Jarvis auf einer altertümlichen Brücke mit einem sommersprossigen, jungen Mädchen zeigte, war der Raum schmucklos und kahl.
Dr. Jarvis zeigte auf das Foto: »Meine Tochter von meiner Ex-Frau, Gott segne sie.« Und mit einem verunglückten Grinsen fügte er hinzu: »Ich nenne den Raum den Besenschrank. Die besten Büros liegen alle auf der Westseite, mit Ausblick auf das Meer, aber man muss mindestens ein Jahrhundert hier arbeiten, um endlich eines davon zu erhalten.«
Aus der Schreibtischschublade nahm er eine Flasche Gin und aus dem Mini-Kühlschrank Tonic und Eiswürfel und mixte für uns beide einen Drink. Anschließend setzte er sich bequem hin und streckte die Füße auf seinem Schreibtisch aus. Einer seiner Schuhe hatte eine durchgelaufene Sohle.
»Jane meint, dass die Ereignisse in Wallis’ Haus etwas mit Indianer-Legenden zu tun haben«, sagte ich. »Mount Taylor soll demnach der Sitz eines riesigen Ungeheuers gewesen sein, Big Monster, und Cabezon Peak ist sein Kopf. Er wurde ihm von einem Blitz abgeschlagen.«
Dr. Jarvis zündete sich eine Zigarette an und bot mir auch eine an. Ich rauchte sehr wenig, aber jetzt hatte ich das Gefühl, die ganze Packung rauchen zu können. Es wurde mir jedes Mal übel, sobald ich an Bryan Corders leere Augenhöhlen dachte, die ins Nichts starrten.
»Tja, ich kenne mich mit Legenden nicht aus«, sagte Dr. Jarvis, »aber es scheint irgendeine Verbindung zwischen dem zu bestehen, was mit Machin geschah, und dem, was Corder passiert ist. Denken Sie einmal darüber nach. Beide wollten in dem Haus in 1551 Pilarcitos ein Geräusch erforschen und beide erzeugen heute das Geräusch, das sie gehört haben. Machin atmet wie das Atmen, das er in Seymour Wallis’ Büro gehört hat, und Corders Herz schlägt genauso wie das Schlagen, das er in Wallis’ Kamin gehört hat.«
Ich schlürfte an meinem Gin Tonic. »Und die Theorie lautet?«
Dr. Jarvis verzog das Gesicht. »Das ist sie. Das ist die ganze Theorie. Die Theorie besteht darin, dass der Einfluss oder die Macht, die dieses Haus beherrscht, sich nach und nach und Stück um Stück aus dem Hause stiehlt.«
»Ja, stimmt«, sagte ich lakonisch. »Und was folgt als Nächstes? Kommen jetzt Beine und Arme? Nasen und Ohren?«
Aber während ich diese Worte laut aussprach, dachte ich etwas ganz anderes. Ich erinnerte mich daran, was Jane mir vor nur ein oder zwei Stunden am Telefon gesagt hatte: Ein Navaho-Spruch, den ich nicht aussprechen kann, der aber etwa so viel bedeutet wie »zurückkommen auf dem Pfad der vielen Teile«.
Und auf dem Türklopfer stand: »Rückkehr.«
»Was ist los?«, fragte Dr. Jarvis. »Sie sehen ganz krank aus.«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht bin ich es. Aber irgendetwas, das Jane über diese Indianerlegende gesagt hat, passt zu dem, was Sie gerade sagten. Es gab da einen Dämon oder so etwas, der fähig war, Big Monster zu erledigen, obwohl Big Monster fast unzerstörbar durch Menschen oder Dämonen oder sonst jemanden war. Diesen Dämon nannte man den Ersten, der mit Worten Gewalt ausübte, oder so ähnlich.«
Dr. Jarvis trank seinen Gin Tonic aus und goss sich noch einen ein. »Ich sehe da keine Verbindung«, meinte er.
»Die Verbindung besteht darin, dass das Motto dieses Dämons ein indianisches Sprichwort war, das bedeutete: ›Zurückkommen auf dem Pfad der vielen Teile‹.«
Dr. Jarvis furchte die Stirn. »Und?«
»Und das ist es! Sie sagten, welche Macht auch immer von Wallis’ Haus Besitz ergriffen hätte, sie würde sich nach und nach und Stück um Stück herausschleichen – zuerst das Atmen und jetzt der Herzschlag!«
Dr. Jarvis sah mich lange und unbewegt an, er hob noch nicht einmal sein Glas vom Tisch.
Ich sagte fast verlegen: »Es ist ja nur ein Gedanke. Es schien mir einfach mehr als ein reiner Zufall.«
»Sie wollen also andeuten, dass diese Geräusche in Wallis’ Haus etwas mit einem Dämon zu tun haben, der allmählich von Leuten Besitz ergreift? Stückchenweise?«
»Ist das nicht das, was Sie andeuten wollten?«
Dr. Jarvis seufzte und rieb sich die Augen. »Ich weiß nicht genau, was ich eigentlich meine. Wir sollten vielleicht im Haus anrufen und Mr. Wallis fragen, ob der Herzschlag jetzt auch verschwunden ist.«
»Ja, eine gute Idee. Ich habe den ganzen Tag noch nichts von ihm gehört.«
»Er hinterließ eine Nachricht, dass er angerufen hat«, sagte Dr. Jarvis. »Er wollte sich wahrscheinlich nach Corder erkundigen.«
Dr. Jarvis fand die Nachricht auf seinem Block und wählte Wallis’ Nummer. Er ließ es klingeln, klingeln und klingeln. Schließlich legte er den Hörer auf: »Keine Antwort. Ich vermute, er war so klug und hat das Haus verlassen.«
Ich trank mein Glas aus. »Würden Sie denn dort bleiben? Also ich nicht. Aber ich werde heute am Nachmittag mal dort vorbeischauen. Ich werde mir den Tag freinehmen.«
»Wird San Francisco denn seinen begabtesten Beamten im Gesundheitsamt nicht vermissen?«
Ich drückte meine Zigarette aus. »Ich habe mir bereits Gedanken über einen Wechsel gemacht. Vielleicht gehe ich in die Medizin. Ich habe den Eindruck, dass man dort ein ziemlich idyllisches Leben verbringen kann.«
Er lachte.
Ich trank noch etwas. »Haben Sie die Vögel gesehen?«
»Vögel? Was für Vögel? Ich habe die ganze Nacht bei Corder gewacht.«
»Ich bin überrascht, dass es Ihnen noch niemand erzählt hat. Ihr gesamtes verfluchtes Krankenhaus sieht aus wie ein Vogelschutzgebiet.«
Dr. Jarvis hob eine Augenbraue. »Was denn für Vögel?«
»Keine Ahnung – ich bin kein Ornithologe. Sie sind ziemlich groß und grau. Sie sollten mal rausgehen und sich das ansehen. Machen einen ziemlich düsteren Eindruck. Wäre ich weniger feinfühlig, dann würde ich sagen, es sind Geier, die darauf warten, dass Elmwoods reiche und unglückselige Patienten sterben.«
»Sind es viele?«
»Tausende. Zählen Sie sie mal.«
In diesem Augenblick klingelte Dr. Jarvis’ Telefon. Er nahm den Hörer ab und sagte: »Jarvis.«
Er hörte einen Moment zu und erwiderte dann: »Okay. Ich komme sofort.« Dann knallte er den Hörer hin.
»Stimmt was nicht?«, fragte ich.
»Es geht um Corder. Ich weiß wirklich nicht, wie zur Hölle er es geschafft hat, aber Dr. Crane sagt, dass er versucht haben soll, sich hinzusetzen.«
»Hinzusetzen? Machen Sie doch keine Scherze! Der Mann ist doch so gut wie tot!«
Wir ließen die Drinks stehen und liefen eilig durch den Flur zurück zum Beobachtungsraum. Dr. Crane war dort zusammen mit dem bärtigen Pathologen Dr. Nightingale und einer gut gebauten schwarzen Dame, die mir als Dr. Weston vorgestellt wurde, Spezialistin für Gehirnschäden. Obwohl sie so gut gebaut war, sprach und benahm sie sich wirklich wie ein Spezialist für Gehirnschäden, und mein Interesse schwand dahin. Eines Tages würde sie sicher einen gut aussehenden Neurologen treffen und heiraten.
Was mich erstarren ließ, war das Geschehen hinter der Glasscheibe in den blauen Tiefen der Intensivstation. Ich hatte dasselbe atemlose Empfinden wie jemand, der in ein Schwimmbecken steigt, das zehn Grad zu kalt ist.
Bryan Corder hatte seinen Kopf von uns fortgedreht; wir sahen nur noch den Hinterschädel und die frei liegenden Muskelstränge seines Nackens, rot und sehnig und überzogen von Adern. Doch er bewegte sich, er bewegte sich wirklich – streckte ständig seinen Arm nach vorne, als wolle er nach etwas greifen oder etwas zurückstoßen, und unter dem Bettlaken zuckten seine Beine.
Dr. Jarvis sagte: »Mein Gott, können wir ihn nicht ruhigstellen?«
Dr. Crane, ein bebrillter Facharzt mit einem Kopf, der im Verhältnis zu seinem Körper zwei Nummern zu groß erschien, sagte: »Wir haben schon Beruhigungsmittel verabreicht. Es scheint aber keine Wirkung zu haben.«
»Dann müssen wir ihn aufs Bett schnallen. Wir können ihn nicht umherirren lassen. Es ist doch grotesk!«
Dr. Weston, die schwarze Dame, unterbrach ihn: »Es mag vielleicht grotesk sein, Dr. Jarvis, aber es ist ein einmaliger Vorgang. Vielleicht sollten wir ihn ganz einfach tun lassen, was er möchte. Er wird auf jeden Fall nicht überleben.«
»Um Himmels willen!«, fluchte Dr. Jarvis. »Das ist einfach unmenschlich!«
Wie unmenschlich es wirklich war, das begriff von uns zunächst keiner – bis Bryan sich plötzlich auf einen Ellbogen aufstützte und langsam aus dem Bett schob.
Dr. Jarvis starrte auf die steife Gestalt in dem grünen OP-Kittel mit dem grauenhaften Knochenschädel auf ihren Schultern. Sie stand da allein und hilflos in einem Licht, blau wie ein Blitz, blau wie der Tod.
Dann schrie er seinem Assistenzarzt zu: »Er muss zurück ins Bett! Los, helft mir!«
Der Assistent blieb blass und zu Tode erschrocken stehen, aber Dr. Jarvis drückte die Tür zwischen dem Beobachtungsraum und der Intensivstation auf und ich folgte ihm.
Es roch fremd, seltsam kalt hier drinnen. Es war wie eine Mischung aus Äthylalkohol und etwas Süßem. Bryan Corder – der Rest von Bryan – stand nur vier oder fünf Schritte von uns entfernt, ruhig und unbeweglich, sein Schädel vom gierigen Tod blank gefressen.
»John«, sagte Dr. Jarvis ruhig.
»Ja?«
»Ich möchte, dass Sie seinen linken Arm nehmen und ihn zurück an das Bett führen. Zwingen Sie ihn, rückwärtszugehen. Wenn er das Bett erreicht, können wir ihn zurückdrücken, damit er sich setzt. Dann brauchen wir nur noch seine Beine aufs Bett zu legen, damit er wieder liegt. Sehen Sie die Gurte unter dem Bett? Sobald wir ihn hingelegt haben, werden wir ihn festbinden. Haben Sie mich verstanden?«
»Klar.«
»Haben Sie Angst?«
»Darauf können Sie sonst was wetten.«
Dr. Jarvis leckte sich nervös über die Lippen. »Okay, John, also los!«
Bryans Herzschlag, der in ständigen Lichtpunkten durch die Drähte auf seiner Brust auf den Monitor übertragen wurde, hatte immer noch den langsamen Rhythmus von 24 Schlägen in der Minute. Aber mein Herzschlag verlangsamte sich sicher noch mehr. Mein Mund war trocken vor Angst, meine Beine wurden zu den weichen Beinen von jemandem, der durch Wasser läuft.
Dr. Jarvis und ich näherten uns Bryan, die Hände erhoben, die Augen auf den fleischlosen Schädel gerichtet. Irgendwie spürte ich, dass Bryan noch sehen konnte, obwohl seine Augenhöhlen leer waren. Er schob seine Füße einen Schritt auf uns zu und die rohen Muskeln seines Kiefers begannen sich zu bewegen.
»Mein Gott«, flüsterte Dr. Jarvis, »er versucht etwas zu sagen!«
Einen Augenblick lang glaubte ich, dass ich nicht die Nerven besaß, Bryans Arm zu fassen und ihn zurück zum Bett zu drängen. Angenommen, er würde sich wehren? Angenommen, ich müsste diesen nackten, lebenden Schädel anfassen? Aber dann rief Dr. Jarvis: »Jetzt!« und ich ging unsicher und schwerfällig vorwärts, mein Herz in der Hose. Ich glaube, dass ich sogar laut aufgeschrien habe. Ich schäme mich dessen nicht.
Bryan fiel uns in die Arme. Anstatt ihn zurückzuzwingen, mussten wir ihn ziehen und hoben ihn wie einen Mehlsack auf das Bett zurück. Dr. Jarvis hielt Bryans Hinterschädel, um jede Verletzung zu vermeiden. So legten wir ihn vorsichtig nieder, die Arme an den Körper gelegt, und banden ihn mit den elastischen Gurten fest. Anschließend standen wir da, schauten uns über den lang gestreckten Körper an und grinsten in unterdrückter Furcht.
Dr. Jarvis überprüfte Bryans Herzschlag und seine Lebenszeichen – sie waren immer noch unverändert. 24 Schläge in der Minute, weiterhin kräftig. Atmung langsam, aber regelmäßig. Ich atmete tief durch und wischte mir mit dem Handrücken über die Stirn. Ich schwitzte und zitterte, ich vermochte kaum zu sprechen.
Dr. Jarvis krächzte: »Das übertrifft alles. Dieser Mann muss tot sein. Jeder Lehrsatz der Medizin bestätigt, dass er tot ist. Aber er lebt und atmet und er läuft sogar herum.«
In diesem Augenblick trat Dr. Weston ein. Sie schaute auf Bryan Corder und sagte: »Vielleicht ist es ein Wunder.«
»Ja, vielleicht ist es eines«, entgegnete Dr. Jarvis. »Aber vielleicht ist es auch ein verdammt übler Trick Schwarzer Magie.«
»Schwarze Magie, Dr. Jarvis?«, sagte Dr. Weston. »Ich hätte nicht geglaubt, dass ihr Weiße an so etwas glaubt.«
»Ich weiß nicht, was ich glauben soll«, brummte er. »Die ganze Sache ist total irre.«
»Irre oder nicht, ich muss meine Untersuchung fortführen«, sagte sie. »Danke, dass Sie ihn so gut festgemacht haben. Und Ihnen auch vielen Dank, Mr. Hyatt.«
Ich hustete: »Ich kann nicht sagen, dass es mir ein Vergnügen war.«
Wir verließen Dr. Weston und ihre Assistenten, damit sie ihre Gehirntests an Bryans entfleischtem Schädel machen konnten, und gingen in den Flur. Dr. Jarvis stand lange an einem der Fenster und starrte über den Parkplatz des Krankenhauses. Dann griff er in die Tasche seines weißen Arztkittels und zog eine Schachtel Zigaretten heraus.
Ich stand etwas abseits, beobachtete ihn und schwieg. Ich nahm an, dass er jetzt lieber allein sein wollte. Er wurde plötzlich mit etwas konfrontiert, das seine grundlegenden Überzeugungen über die Medizin völlig umkrempelte, und jetzt versuchte er den bizarren Schrecken zu begreifen, der sich nur mit abergläubischen Auffassungen erklären ließ.
Er zündete sich eine Zigarette an. »Sie hatten recht mit den Vögeln.«
»Sind sie immer noch da?«
»Tausende davon, überall auf dem Dach.«
Ich trat zum Fenster und schaute hinaus. Da saßen sie, aufrecht, ihre Federn fächelten wild im Wind des Pazifiks.
»Sie sind wie so eine Art verfluchtes Omen«, meinte er. »Was ist los mit ihnen? Sie zwitschern ja nicht einmal.«
»Sie sehen aus, als ob sie auf etwas warten. Ich hoffe nur, dass es nichts Unheilvolleres als ein Paket Vogelfutter ist.«
»Wir sollten uns Machin noch mal anschauen. Ich könnte jetzt etwas Entspannung gebrauchen«, schlug Dr. Jarvis vor.
»Sie nennen das, was Dan passiert ist, entspannend?«
Er zog noch einmal tief an seiner Zigarette und drückte sie dann zwischen Finger und Daumen aus. »Nach dem, was hier gerade eben passiert ist, wäre sogar eine Beerdigung eine Entspannung.«
Wir gingen den Flur entlang bis zu Dans Zimmer. Dr. Jarvis schaute durch das kleine runde Fenster in der Tür und öffnete sie dann.
Dan lag immer noch bewusstlos da. Eine Schwester saß neben seinem Bett – sein Puls, seine Atmung und sein Blutdruck wurden genau überwacht. Dr. Jarvis ging hinüber und untersuchte ihn, hob seine Augenlider, um zu sehen, ob irgendeine Reaktion erfolgte. Dans Gesicht war unnatürlich weiß und er atmete noch immer in diesem tiefen, traumlosen Rhythmus, der auch das Atmen in Seymour Wallis’ Haus charakterisiert hatte.
Während Dr. Jarvis Dans Körpertemperatur überprüfte, sagte ich: »Angenommen …«
»Angenommen, was?«, meinte er zerstreut.
Ich trat näher an Dans Bett heran. Der junge Mann aus Mittelamerika war so ruhig und bleich, dass er wie tot wirkte, abgesehen von diesem hohlen, regelmäßigen Atmen.
»Angenommen, Bryan hat versucht hierherzukommen, um Dan zu besuchen.«
Dr. Jarvis schaute auf: »Warum sollte er das beabsichtigen?«
»Na ja, jeder von ihnen ist Träger der Geräusche, die in Seymour Wallis’ Haus gespukt haben. Vielleicht haben die beiden genügend Gemeinsames, dass sie sich zusammentun möchten. Wissen Sie, dieses ganze indianische Zeug, von dem Jane gesprochen hat, über das Zurückkommen auf dem Pfad der vielen Teile, vielleicht bedeutet das eine Art Wiedergeburt über mehrere verteilt.«
»Ich verstehe nicht.«
»Es ist ganz einfach. Wenn diese Kraft oder dieser Einfluss oder was immer in Seymour Wallis’ Haus herumspukt, völlig auseinandergerissen war, ja, also das Atmen an einem Ort und der Herzschlag an einem anderen, dann versuchen sie vielleicht, wieder zusammenzukommen.«
»John, Sie drehen durch.«
»Sie haben Bryan ohne Kopfhaut herumgehen sehen, und Sie wollen mir sagen, dass ich spinne?«
Dr. Jarvis notierte Dans Temperatur auf seinem Block, dann richtete er sich gerade auf. »Es gibt keinen Grund, nach widersinnigen Antworten zu suchen. Was immer auch vor sich geht, es muss eine einleuchtende Erklärung dafür geben.«
»Und wie soll die aussehen? Ein Mann wird verrückt und ein anderer verliert die Haut auf seinem Kopf, und wir sollen dafür eine logische Erklärung finden? James, hier geht etwas nach einem Plan und mit einer Absicht vor. Jemand will, dass das alles passiert. Es steckt eine Absicht dahinter.«
»Dafür gibt es keinen Beweis. Außerdem wäre es mir lieber, wenn du mich Jim nennst.«
Ich seufzte: »In Ordnung, wenn du es nüchtern, logisch und medizinisch sehen willst, dann mache ich dir keinen Vorwurf. Aber ich habe das Gefühl, jetzt mit Jane und Seymour Wallis reden zu müssen. Jane hat eine Theorie, die man sich mal genau anhören sollte, und ich wette zwei Flaschen Whisky darauf, dass Seymour Wallis mehr weiß, als er uns gesagt hat.«
»Ich mag keinen Whisky.«
»Das ist ja okay.«
Ich nahm mir ein Taxi und fuhr direkt zum Buchladen. Es war inzwischen zwölf Uhr. Als wir von dem Krankenhaus fortfuhren, konnte ich mir einen Blick zurück auf die Vögel nicht verkneifen. Aus der Entfernung wirkten sie wie eine graue, schuppige Verkrustung, als ob das Gebäude selbst an einer ungesunden Hauterkrankung leiden würde. Ich fragte den Taxifahrer, ob er wüsste, was für eine Vogelgattung das sei, aber er wusste nicht einmal etwas mit dem Begriff ›Gattung‹ anzufangen.
Überraschenderweise war Jane nicht da, als ich den dunkelrot gestrichenen Laden auf der Brannan Street betrat. Ihr junger, bärtiger Kollege erklärte: »Ich weiß auch nicht, Mann. Sie sprang einfach auf und ging, vor ungefähr einer halben Stunde. Sie hat noch nicht mal Tschüss gesagt.«
»Wissen Sie nicht, wohin sie gegangen ist? Ich war zum Mittagessen mit ihr verabredet.«
»Sie hat kein Wort gesagt, Mann. Aber sie ist da lang gelaufen.« Er deutete auf den Embarcadero, die Küstenstraße.
Ich ging wieder hinaus. Ein Muster aus Sonnenstrahlen fiel auf den Bürgersteig und ich wurde von der Menge hin und her geschubst, die zu ihrem Mittagessen eilte. Ich schaute mich um, konnte Jane jedoch nirgendwo entdecken. Selbst wenn ich den Embarcadero entlanglief, würde ich sie wahrscheinlich verfehlen. Also ging ich zum Buchladen zurück und sagte dem Jungen, dass Jane mich zu Hause anrufen solle. Dann winkte ich mir wieder ein Taxi herbei und bat den Fahrer, mich zur Pilarcitos Street zu fahren.
Ich war etwas verstimmt, aber auch besorgt. So wie die Dinge in den letzten Tagen gelaufen waren, durch die Dan Machin und Bryan Corder im Krankenhaus lagen, wollte ich besser zu niemandem den Kontakt verlieren. Ich vermochte das unbestimmte Gefühl nicht loszuwerden, dass alles, was geschah, nach einem Plan ablief – als hätte Dan nach 1551 Pilarcitos gehen müssen, und auch, als sei Bryan wohlüberlegt dorthin geführt worden. Ich hätte mich nicht gewundert, wenn mir etwas ähnlich Schreckliches zugestoßen wäre.
Das Taxi stoppte vor dem Haus und ich bezahlte den Fahrer. Im Sonnenlicht sah das Gebäude schäbig und so grau wie die Vögel auf dem Krankenhausdach aus. Ich öffnete das schmiedeeiserne Törchen und stieg die Stufen hoch. Der Türklopfer grinste mich wölfisch an, aber heute, im hellen Mittagslicht, spielte er mir keinen bösen Streich. Er bestand aus schwerer Bronze, mehr nicht.
Ich klopfte dreimal ziemlich laut. Dann wartete ich und pfiff Moon River. Ich hasste den Song, aber jetzt ging er mir nicht mehr aus dem Kopf.
Ich klopfte noch einmal, aber auch jetzt antwortete niemand. Vielleicht war Seymour Wallis spazieren gegangen. Ich wartete einige Minuten, knallte den Klopfer ein letztes Mal auf die Tür und drehte mich um, um zu gehen.
Doch als ich gerade die Stufen hinuntergehen wollte, hörte ich ein quietschendes Geräusch. Ich schaute zurück: Die Haustür hatte sich ein klein wenig geöffnet. Mein letztes Klopfen musste sie aufgedrückt haben. Sie war offensichtlich weder verschlossen noch hatte man die Kette vorgelegt. Wenn man bedachte, wie viele Riegel, Ketten und Sicherheitsschlösser Wallis an dieser Tür angebracht hatte, dann entsprach es absolut nicht seiner Art, sie völlig unverschlossen zu lassen.
Ich starrte auf die Tür und fragte mich: Was stimmt hier nicht? Aus irgendeinem Grund, den ich nicht erklären kann, lief mir ein Schauder über den Rücken und ich spürte Angst in mir aufsteigen. Aber noch schlimmer war, dass ich genau wusste, dass ich die Tür nicht einfach offen stehen lassen und fortgehen konnte. Ich musste in dieses Haus gehen – das alte Haus, das atmete und in dem Herzschläge zu hören waren – und feststellen, was da vor sich ging.
Langsam stieg ich die Stufen wieder hinauf. Fast eine Minute stand ich vor der halb offenen Tür und versuchte, in dem Stück Dunkelheit, das ich sehen konnte, Schatten und Formen zu erkennen. Der Türklopfer blickte jetzt an mir vorbei, die Straße hinauf, aber sein Lächeln war genauso hochmütig und feindselig wie bisher.
Ich schaute auf den Klopfer und sagte: »Okay, Klugscheißer. Welche scheußlichen Fallen hast du dir diesmal wieder einfallen lassen?«
Der Türklopfer grinste und erwiderte nichts. Ich hatte das auch nicht wirklich erwartet – ich glaube, ich wäre wahnsinnig geworden, hätte er sich gerührt. Doch irgendwie war es schon eine unheimliche Situation, zu erkennen, ob ein Spuk ein Spuk ist und nicht nur ein ordinärer Türklopfer oder ein Schatten oder ein Hutständer …
Ich streckte die Arme aus und stieß die Tür etwas weiter auf, wie ein Mann, der sich über eine abgrundtiefe Grube beugt. Sie erzitterte und knarrte etwas stärker. Drinnen in der Diele hingen Staub und Dunkelheit, auch der modrige Geruch war immer noch stark zu riechen.
Ich schluckte tief, trat ein und rief: »Mr. Wallis? Seymour Wallis?«
Es kam keine Antwort. Sobald ich die Diele betreten hatte, wurden die Geräusche von der Straße dumpfer und schwächer. Ich stand da und hörte nur noch mein eigenes heftiges Atmen.
»Mr. Wallis?«, rief ich noch einmal.
Ich ging zur Treppe. Die Bärenfrau stand noch immer mit geschlossenen Augen auf dem Pfosten des Treppengeländers. Ich blinzelte hoch in die Dunkelheit des ersten Stockes, konnte aber absolut nichts erkennen. Um ganz ehrlich zu sein, ich war auch absolut nicht geneigt hinaufzugehen. Ich beschloss, einen Blick in Seymour Wallis’ Büro zu werfen, und sollte er nicht zu Hause sein, dann würde ich schleunigst von hier verschwinden.
So leise wie möglich ging ich auf Zehenspitzen über den verschlissenen Teppich zu der Tür unter dem verstaubten Hirschkopf. Das Büro war verschlossen, aber der Schlüssel steckte im Schloss. Langsam drehte ich ihn um und hörte das laute Schnappen des Schließmechanismus in der undurchdringbaren Stille der toten Luft, die das Haus scheinbar seit all den Jahren, in denen es hier stand, ausfüllte.
Ich legte meine Hand um den Messingknopf der Tür und drehte ihn. Die Bürotür öffnete sich. Drinnen war es finster, denn die Vorhänge waren noch vorgezogen. Ich griff neben den Türrahmen, um den Lichtschalter zu finden. Meine Finger tasteten über die kühle Tapete und ich drückte den Lichtschalter nach unten, aber es passierte nichts. Die Birne musste durchgebrannt sein.
Nervös drückte ich die Tür weiter auf und trat ein. Ich schaute fast panisch hinter die Tür, um mich zu vergewissern, dass sich dort nichts und niemand versteckte – ein kurzer Schock durchzuckte mich, als ich den Bademantel von Seymour Wallis dort hängen sah. Dann strengte ich meine Augen an und starrte auf die dunklen Umrisse von Seymour Wallis’ Schreibtisch und Stuhl.
Eine Weile konnte ich nicht erkennen, ob dort irgendetwas war oder nicht. Während sich meine Augen langsam an die Dunkelheit gewöhnten, bildete sich ein Umriss. »Oh Gott.« Die Worte klangen wie ein Röcheln.
Ein riesiger, aufgedunsener Mann saß auf Seymour Wallis’ Stuhl. Sein Kopf war ganz schwarz und aufgebläht, seine Arme und Beine waren zum doppelten Umfang angeschwollen. Sein Gesicht war so dick, dass die Augen nur noch schmale Schlitze bildeten, und seine Finger quollen wie fette, purpurne Schnecken aus den Hemdsärmeln.
Ich hätte ihn niemals erkannt, doch seine Kleidung verriet ihn. Ich zog die Vorhänge ein Stück beiseite. Es war Seymour Wallis. Eine aufgeblähte, angeschwollene, groteske Karikatur von Seymour Wallis.
Ich konnte die Worte kaum aussprechen: »Mr. W-Wallis?«
Die Kreatur rührte sich nicht.
»Mr. Wallis, leben Sie?«
Das Telefon stand auf seinem Schreibtisch. Ich musste sofort Dr. Jarvis anrufen und vielleicht auch Lieutenant Stroud, aber das bedeutete, dass ich an diesem aufgeblähten Körper vorbeimusste. Ich ging vorsichtig auf ihn zu und schaute und schaute, um mir darüber klar zu werden, ob er tatsächlich tot sei. Ich vermutete, dass es so war. Er bewegte sich nicht und es sah aus, als ob jede Vene und Arterie seines Körpers ein Bluterguss sei.
»Mr. Wallis?«
Ich trat ganz nahe heran und ging etwas in die Knie, um ihm direkt in das bläuliche, aufgeblähte Gesicht sehen zu können. Er schien nicht zu atmen. Ich schluckte wieder, um mein Herz zurück in die Brust zu drücken, wohin es gehörte, und beugte mich langsam und nervös vor, um den Telefonhörer abzunehmen.
Ich wählte die Nummer des Elmwood Foundation Hospitals. Es schien Jahrhunderte zu dauern, bevor sich die Telefonistin meldete: »Elmwood-Krankenhaus. Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Rufen Sie Dr. Jarvis ans Telefon«, flüsterte ich. »Es ist ein Notfall.«
»Sprechen Sie bitte etwas lauter. Ich kann Sie nicht verstehen.«
»Dr. Jarvis!«, sagte ich heiser. »Sagen Sie ihm, dass es dringend ist!«
»Einen Moment bitte.«
Sie schaltete mich in die Warteschleife, um Dr. Jarvis zu informieren, und eine schmalzige Musik ertönte. Ich blickte besorgt auf Seymour Wallis’ blutunterlaufenes Gesicht und hoffte und betete, dass er nicht plötzlich aufsprang und nach mir griff.
Die Musik verstummte und die Telefonistin sagte: »Es tut mir leid, aber Dr. Jarvis ist gerade beim Mittagessen, und wir wissen nicht, wo er ist. Möchten Sie mit einem anderen Arzt sprechen?«
»Nein, danke. Dann komme ich selbst ins Krankenhaus.«
»Dann benutzen Sie bitte den Südeingang. Momentan sind die Leute vom Gesundheitsamt im Haus, um einige Vögel zu verjagen.«
»Sind die Vögel noch immer da?«
»Oh ja. Sie sitzen überall.«
Ich legte den Hörer auf und ging vorsichtig rückwärts fort von Seymour Wallis. Ich war erst zwei oder drei Schritte auf die Tür zugegangen, als sein Drehstuhl plötzlich herumschwenkte und sein mächtiger Körper seitlich auf den Teppich fiel, aufs Gesicht, und so liegen blieb. Der Schock war so heftig, dass ich wie gelähmt dastand, unfähig wegzulaufen, unfähig zu denken. Aber dann wurde mir klar, dass er entweder tot oder hilflos war, und ich ging hin und kniete mich neben ihn.
»Mr. Wallis?« Ich muss zugeben, dass ich keine Hoffnung auf eine Antwort hatte.
Er blieb regungslos liegen, angeschwollen wie ein Mensch, der wochenlang im Meer herumgetrieben war.
Ich stand wieder auf. Auf seinem Schreibtisch lag ein einfaches Stenoheft, in das er offensichtlich Eintragungen gemacht hatte. Ich nahm es und blätterte einige Seiten zurück. Die Schrift war ziemlich unsicher, wie von einem Kind, das verbissen das Schreiben lernt. Es sah so aus, als hätte Seymour Wallis darum gerungen, seine Notizen zu vervollständigen, bevor die Schwellung ihm das Schreiben unmöglich machte.
Ich hielt das Heft etwas seitlich, damit das Licht von draußen auf die Seiten fallen konnte. Da stand: »Ich weiß jetzt, dass alle diese unseligen Ereignisse in Fremont nur der Beginn eines viel schrecklicheren Geschehens waren. Was wir entdeckten, war nicht das Wesen selbst, sondern ein Talisman, der das Wesen zu neuem Leben anregte. Vielleicht war das Datum für seine Rückkehr schon immer vorherbestimmt. Möglicherweise waren all diese grausigen Ereignisse noch Zufälle, aber über eines bin ich mir ganz sicher: Von dem Tage an, an dem ich den Talisman in Fremont entdeckte, hatte ich gar keine andere Wahl, als das Haus Nummer 1551 zu kaufen. Die uralten Einflüsse waren viel zu stark für jemanden, der so schwach wie ich war und ohne Kenntnis über diese Macht, um Widerstand zu leisten.«
So endete es. Ich verstand es überhaupt nicht. Vielleicht dachte Seymour Wallis, dass sein Unglück bei dem Fremont-Auftrag ihn endgültig eingeholt hätte – nach seinem Zustand zu urteilen, konnte ich ihm gar nicht unrecht geben. Aber in diesem Augenblick hatte ich nur noch den einen Gedanken, raus aus diesem Haus zu kommen und mit Dr. Jarvis zu sprechen. Ich war nun endgültig davon überzeugt, dass in diesem Haus ein feindseliges, brütendes Übel hockte. Wenn bereits drei Leute so qualvoll hatten leiden müssen, weil sie versucht hatten, diesem Übel auf die Spur zu kommen, dann war mir klar, dass ich leicht das vierte Opfer werden könnte.
Ich ging durch die Diele und warf noch schnell einen Blick die Treppe hinauf, für den Fall, dass dort oben etwas Entsetzliches stehen würde, und schlich mich an dem Türklopfer vorbei zum Ausgang. Als ich mich umdrehte, um die Tür zu schließen, sah ich jedoch etwas, was mich fast mehr traf und ängstigte als alles, was vorher passiert war.
Auf dem Treppenpfosten fehlte die Figur. Die Bärenfrau war fort.
Vor dem Krankenhaus versuchten die Männer des Gesundheitsamtes, die grauen Vögel mit lauten Gewehrschüssen zu vertreiben. Ich kannte einen von ihnen, Innocenti, und ging zu ihm, um zu fragen, ob sie Erfolg hätten.
Innocenti deutete angeekelt auf die immer noch reihenweise dahockenden, stummen Vögel, die sich an den Gewehrsalven überhaupt nicht störten.
»Solche Vögel habe ich noch nie gesehen. Sie sitzen einfach da. Auch wenn wir rufen, bleiben sie sitzen. Wenn wir schreien, bleiben sie sitzen. Wir haben Henriques mit einer Holzklapper aufs Dach geschickt, und was tun sie? Sie bleiben sitzen. Vielleicht sind sie schwerhörig. Vielleicht ist es ihnen egal. Sie hocken da und sie scheißen noch nicht einmal.«
»Habt ihr herausgefunden, was es für Vögel sind?«
Innocenti zuckte die Achseln. »Tauben, Raben, Enten, wer kennt sich denn mit Vögeln aus? Ich bin kein Ornithologe.«
»Vielleicht haben sie eine besondere Eigenart?«
»Aber sicher: Sie sind so stinkfaul, dass sie nicht einmal fortfliegen.«
»Nein, aber vielleicht sind sie eine besondere Vogelgattung.«
Innocenti blieb unbeeindruckt. »Hören Sie, Mr. Hyatt, von mir aus können sie sein, was sie wollen, verdammt. Ich weiß nur, dass ich sie irgendwie vom Dach kriegen muss, denn solange ich sie hier nicht herunterhabe, muss ich hierbleiben und versäume deshalb das Abendessen. Wissen Sie, was es heute zu Abend gibt?«
Ich winkte ihm freundlich zu und ging zum Eingang des Krankenhauses hinüber.
»Osso bucco!«, brüllte er mir nach. »Das gibt es heute Abend!«
Ich betrat das Krankenhaus und ging durch das mit italienischen Hölzern ausgelegte Foyer direkt auf die Aufzüge zu. Die stilvolle Metalluhr an der Wand zeigte 19 Uhr an. Es war inzwischen vier Stunden her, seitdem ich Dr. Jarvis aus einer Telefonzelle angerufen und endlich erreicht hatte. Vier Stunden, seitdem der Krankenwagen eingetroffen war und man Seymour Wallis’ entstellten Körper auf einer Bahre aus dem Haus getragen hatte – abgedeckt von einem grünen Tuch, damit kein Passant diesen für einen normalen Menschen viel zu großen Körper sah. Vier Stunden, seitdem Dr. Jarvis und Dr. Crane mit der Leichenöffnung begonnen hatten.
Ich fuhr rauf bis zum fünften Stock und lief dann durch den Flur zu James Jarvis’ Büro. Ich ging hinein, nahm die Ginflasche aus seinem Schreibtisch und ein Tonicwasser aus dem Kühlschrank. Dann setzte ich mich, lehnte mich zurück und trank etwas von dem starken, erfrischenden Getränk, und beim heiligen Antonius und der heiligen Theresa, ich brauchte das.
Den ganzen Nachmittag hatte ich versucht, Jane zu finden. Ich hatte jeden gemeinsamen Freund oder Bekannten angerufen, der mir eingefallen war, bis ich schließlich kein Kleingeld und keine Energie mehr besaß. Währenddessen hatte ich mich bei McDonald’s mit einem Cheeseburger und einer Tasse schwarzem Kaffee gestärkt und dann aufgemacht in Richtung Elmwood. Ich fühlte mich hilflos, verloren, frustriert und verängstigt.
Ich füllte gerade mein Glas mit einem zweiten Gin Tonic, als Dr. Jarvis eintrat und seinen Mantel über den Stuhl warf.
»Hi«, sagte er, etwas kurz angebunden.
Ich hob mein Glas. »Ich habe mich hier häuslich niedergelassen. Ich hoffe, du bist nicht böse.«
»Ach, wieso denn? Mach mir auch einen fertig, wenn du schon dabei bist.«
Ich ließ zwei Eiswürfel in ein weiteres Glas fallen und fragte: »Seid ihr mit Wallis’ Obduktion fertig?«
Er nahm schwerfällig Platz und rieb sich über das Gesicht. »Ja, sind wir. Wir haben die Leichenöffnung abgeschlossen.«
»Und?«
Er sah mich durch seine gespreizten Finger an. Seine Augen waren rot vor Müdigkeit und Konzentration. »Willst du es wirklich wissen? Willst du wirklich in die Sache hineingezogen werden? Du brauchst es nicht, das weißt du. Du bist ja nur Beamter beim Gesundheitsamt.«
»Sicher, es ist wohl so, aber ich stecke doch schon mittendrin. Nun erzähl schon, Jim. Dan Machin und Bryan Corder waren meine Freunde. Und jetzt Seymour Wallis. Ich fühle mich verantwortlich.«
Dr. Jarvis nahm sein Päckchen Zigaretten aus der Tasche. Zitternd zündete er sich eine an und schob die Schachtel zu mir herüber. Ich ließ sie dort liegen. Bevor ich mich entspannte, wollte ich wissen, was vor sich ging.
Er seufzte und schaute hoch zur Zimmerdecke, als befände sich dort oben ein Teleprompter, auf dem der Text steht, den er sagen musste. »Wir haben jede Möglichkeit in Erwägung gezogen. Ich meine, jede. Aber die körperliche Ausdehnung wurde durch einen Faktor hervorgerufen, allein einen Faktor, und was wir auch immer als Erklärungsversuch ansetzten, wir kamen immer zu demselben Schluss.«
Ich nippte an meinem Gin Tonic. Ich unterbrach ihn nicht. Er würde es mir jetzt sagen, was auch immer.
»Ich schätze, dass die Todesursache offiziell Blutkrankheit lauten wird. Das ist wohl eher eine fromme Lüge, andererseits aber auch die volle Wahrheit. Seymour Wallis litt an einer schweren Blutkrankheit. Er hatte keinen Mangel an roten Blutkörperchen und es gab auch keine Anzeichen für irgendeine Krankheit oder Anämie. Es ist ganz einfach Tatsache, dass er zu viel davon hatte.«
»Zu viel davon?«
Er nickte. »Ein normaler Mensch hat etwa sechs Liter Blut, die durch seinen Kreislauf zirkulieren. Wir haben das Blut aus Seymour Wallis’ Körper geleert und es nachgemessen. Seine Arterien und Venen sowie Kapillaren waren so angeschwollen, weil er 15 Liter Blut darin hatte.«
Ich konnte es kaum glauben. »15 Liter?«
Dr. Jarvis blies den Zigarettenrauch aus. »Ich weiß, dass es verrückt klingt, aber so ist es nun mal. Glaube mir, wenn ich könnte, würde ich diese ganze Sache unter den Teppich kehren und das überschüssige Blut einfach in den Ausguss schütten.«
Er saß eine Weile still da und starrte auf seinen unordentlichen Schreibtisch. Ich vermutete, dass ihm bei all den Schwierigkeiten mit Seymour Wallis und dessen vermaledeitem Haus keine Zeit mehr für den Papierkram geblieben war.
»War die Polizei schon hier?«, fragte ich.
»Man hat sie informiert.«
»Und was sagt sie dazu?«
»Sie wartet auf das Ergebnis der Leichenöffnung. Das Problem ist nur, dass ich nicht weiß, was ich den Beamten erzählen soll.«
Ich trank mein Glas aus. »Wieso? Erzähl ihnen einfach, dass er eines natürlichen Todes gestorben sei.«
Dr. Jarvis brummte grimmig: »Natürlicher Tod? Mit 15 Litern Blut in sich? Und außerdem ist da ja noch was.«
»Noch was?«
Er schaute mich nicht an, aber ich merkte, wie verwirrt und besorgt er war. »Wir haben das Blut natürlich analysiert, es in die Zentrifuge gesteckt. Dr. Crane ist einer der besten Pathologen. Zumindest wird er danach bezahlt. Er sagt, und das ohne den geringsten Zweifel, dass das Blut, das wir in Seymour Wallis’ Körper fanden, kein menschliches Blut ist.«
Wir schwiegen. Dr. Jarvis zündete sich die nächste Zigarette an der ersten an.
»Es besteht absolut kein Zweifel, dass die gesamten 15 Liter von einer Hundespezies stammen. Was auch immer Seymour Wallis zugestoßen ist, das Blut, mit dem er starb, war nicht sein eigenes.«