172323.fb2 Das Dorf der verschwundenen Kinder - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 13

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Neun

Sie sind lang, die Tage des Hochsommers, und ihre endlos erscheinende Helligkeit und Wärme geben all jenen, die sich entspannt darauf einlassen können, eine Ahnung jener ewigen Glückseligkeit, die wir besaßen, ehe der Große Grundstücksmakler des Himmels unser erstes Heim mit Garten zurückforderte.

Auf solche Gedanken kamen die Polizisten in Danby nicht. Sie hatten nicht einmal dieses Gefühl zunehmender Dringlichkeit, das die nahende Nacht in einem Suchtrupp normalerweise weckt, oder empfanden Ärger darüber, die Suche aufgrund der Dunkelheit mehrere Stunden unterbrechen zu müssen. Ein Gefühl der Lähmung hatte sich ihrer bemächtigt, der Sinnlosigkeit ihres Tuns. Wie Pascoe vermutete, beruhte das auf der engen Verbindung dieser Gemeinde zu Dendale und damit auf einer Art kollektiven Erinnerung an die Geschehnisse vor fünfzehn Jahren.

Nach außen hin kämpfte Andy Dalziel gegen diese Stimmung an, doch in Pascoes Augen schien er dafür sogar einer der Hauptauslöser zu sein. Er vermittelte nicht etwa den Eindruck mangelnder Betriebsamkeit oder gar Betroffenheit. Im Gegenteil, er wirkte persönlich betroffener als bei jedem anderen Fall, an den Pascoe sich erinnern konnte. Anscheinend spürte er aber, daß die ganze technische und bürokratische Struktur der Untersuchung – die Suchtrupps, die Einsatzzentrale, die Ermittlungen von Haus zu Haus – eine Art Mechanismus war, der lediglich die öffentliche Moralvorstellung befriedigte.

Für Pascoe war dieser Mechanismus ein Trost. Durch ihn wurden mosaiksteinartig Informationen gesammelt – einige unwichtig, wie etwa die Durchsuchung von Garten und Schuppen, andere wichtig. Man setzte diese Informationen an die richtige Stelle, verband sie sorgfältig miteinander wie die numerierten Punkte in einem Kindermalbuch, und mit etwas Glück erkannte man irgendwann das Bild.

Er wünschte, Wieldy wäre hier. Wenn es darum ging, in einem Haufen Punkte ein Bild zu erkennen, war niemand besser als Sergeant Wield. Aber er und sein Lebensgefährte waren übers Wochenende in die Borders gefahren, um Bücher einzukaufen. Zumindest war es das, was der Lebensgefährte, Buchantiquar Edwin Digweed, tun wollte. Wields Interesse an Büchern begann und endete mit den Werken von H. Rider Haggard. Als Andy Dalziel von Wields Abwesenheit erfuhr, hatte er mit seiner ihm eigenen Derbheit darauf getippt, daß er nur als Appetithappen mitgenommen worden war.

Um acht Uhr erschien Dalziel in der Zentrale und teilte Pascoe mit, er habe die Suche für diesen Tag abbrechen lassen.

»Es ist doch noch ein paar Stunden hell«, entgegnete Pascoe überrascht.

»Wir sind zuwenig Leute«, erwiderte Dalziel. »Und kaputt. In der Dämmerung werden sie anfangen, nachlässig zu werden, an zu Hause zu denken, ein Rauchpäuschen einzulegen, und als nächstes haben wir hier noch einen Heidebrand, und alle müssen die ganze Nacht über löschen. Nein, danke. Ich war eben bei den Dacres und hab’s ihnen gesagt.«

»Wie haben sie reagiert?«

»Was denken Sie wohl?« gab der Dicke barsch zurück. Dann fügte er etwas milder hinzu: »Ich habe mich an die ›keine Nachricht ist gleich gute Nachricht‹-Taktik gehalten. Sprich nicht vom Tod, bevor du eine Leiche hast.«

»Aber Ihr Gefühl sagt Ihnen etwas anderes, oder?« fragte Pascoe vorsichtig. »Sie sind von Anfang an sicher gewesen, daß sie nicht wieder auftaucht, stimmt’s?«

»Meinen Sie? Tja, dann wird’s wohl so sein. Zeigen Sie mir, daß ich unrecht habe, mein Junge, und ich geb Ihnen ’nen dicken nassen Kuß.«

Auch mit solcherlei Drohungen konfrontiert, wagte Pascoe kühn einen weiteren Vorstoß. »Es könnte eine Entführung gewesen sein. Wir haben noch einige nicht überprüfte Aussagen über auffällige Fahrzeuge.«

Das Greifen nach dem berühmten Strohhalm. Alle Aussagen über früh am Morgen gesichtete Fahrzeuge waren bereits überprüft worden – bis auf drei: ein ortsansässiger Bauer hatte einen blauen Wagen mit einem Affenzahn, wie er sich ausdrückte, die Straße zum Highcross Moor hinauffahren sehen; mehreren Leuten war eine weiße Limousine aufgefallen, die am Rand des Ligg Common abgestellt gewesen war; und eine Mrs. Martin, eine kurzsichtige Dame, die früh zur St. Michael’s Church aufgebrochen war, um ihrem Blumendienst nachzukommen, meinte, sie habe ein Auto den Leichenpfad hinauffahren hören.

»Den Leichenpfad?« wiederholte Dalziel.

»Ja, so nennen sie den Bergpfad, der …«

»… der über den Neb nach Dendale führt und auf dem sie früher ihre Toten zum Begräbnis rüber nach Danby brachten, bevor sie ihre eigene Kirche bauten«, beendete Dalziel den Satz. »Kommen Sie mir nicht als Lokalhistoriker, mein Junge; hier bin ich schon ein verdammter Experte.«

Er kratzte sich bedächtig am Kinn und sagte dann: »Lust auf ’nen Spaziergang? Wird Ihnen guttun, Sie seh’n ein bißchen blaß aus.«

»Spaziergang? Wohin denn?«

»Sie werden schon seh’n. Kommen Sie.«

Draußen tauchte der Dicke in seinen Kofferraum, aus dem er einen kleinen Rucksack hervorzog und Pascoe zuwarf.

»Sie tragen ihn rauf, ich trag ihn runter.«

»Rauf?« echote Pascoe mit mulmigem Gefühl.

»Ja. Rauf«

Mit Pascoe im Schlepptau marschierte Dalziel durch ein niedriges Tor auf den Friedhof, zwischen den grün und grau bemoosten Grabsteinen hindurch, an der Kirche vorbei und durch das überdachte Eingangstor an der gegenüberliegenden Seite hinaus. Vor ihnen schlängelte sich ein malerischer Feldweg zwischen alten Ulmen und Eiben hindurch. Zumindest waren die ersten fünfundzwanzig Meter malerisch, dann wurde es immer steiler und steiniger.

»Wenn hier was raufgefahren ist, dann nur mit Vierradantrieb. Oder vielleicht war’s ein Traktor«, keuchte Pascoe. »Der Boden ist zu hart, als daß man Spuren erkennen könnte.«

»Danke für die Belehrung, Lederstrumpf«, sagte Dalziel. »Und was ist das da gewesen? Eine Kuhherde in Gummistiefeln?«

An einer kleinen Lichtung neben dem Feldweg, wo die Bäume auffallend spärlicher standen, deutete er auf das niedergetretene Gras und den staubigen Boden, in dem stellenweise deutlich Reifenspuren zu sehen waren.

»Ja, nun … hm«, sagte Pascoe. »Hier ist etwas gewesen. Gut erkannt, Sir.«

Er drehte sich um und kehrte auf dem Weg zurück, den sie gekommen waren.

»He, Sonnenschein, warum die Eile? Wir sind noch gar nicht da!«

Pascoe blickte Dalziel nach, der weiter den Hügel hinaufstieg. Der Feldweg entfernte sich nun von den Bäumen und wand sich über den offenen Hang.

»Aber warum … ? Ich dachte, Sie wollten mir nur … Ach, verdammt!« schimpfte Pascoe und stapfte wieder bergan.

Der Pfad schlängelte sich sanft den Hügel hinan. Zumindest befanden sie sich an der östlichen Flanke des Neb, außerhalb der Reichweite der untergehenden Sonne. Trotzdem war Pascoe schweißgebadet, als er den sonnenerhellten Kamm endlich erklommen hatte.

»Fünfundvierzig Minuten«, sagte Dalziel, der gemütlich an einen Felsen gelehnt dasaß. »Man sollte meinen, daß ein drahtiger junger Bursche wie Sie den Weg in einer halben Stunde schafft.«

Pascoe ließ sich neben ihm nieder, sehr darauf bedacht, nicht laut zu schnaufen.

»Dann mal her mit dem Sack«, forderte der Dicke.

Pascoe wand seine Schultern aus den Riemen und reichte den Rucksack hinüber.

Dann blickte er auf Dendale hinunter.

Erst jetzt wurde ihm klar, wie der Neb den früheren Talbewohnern als Grenze erschienen sein mußte. Der Abhang war auf dieser Seite viel steiler, und die sanften Windungen des Leichenpfads auf dem Hang von Danby wurden hier von scharfen Zickzacklinien abgelöst. Und während Danby eigentlich schon zu der großen fruchtbaren Nutzlandschaft von Mid-Yorkshire gehörte, war das schmale Gletschertal von Dendale ganz und gar den wilden Moorgebieten der Grafschaft zuzuordnen.

Er vermutete, daß genau diese Wildheit und schroffe Abgeschiedenheit des Tals die Strategen der Wasserbehörde verlockt hatte, es zum Stausee umzufunktionieren. Pascoe wußte nichts über ihre Planung oder die Kriterien für die endgültige Entscheidung, aber er vermutete, daß diese mit vielen unerquicklichen Phrasen gespickt gewesen war, etwa im Hinblick auf den größten Nutzen für die größte Anzahl von Leuten und der Schwierigkeit, Omelettes zu backen, ohne Eier zu zerschlagen, deren Inhalt sich dann wie heiße Lava über sämtliche Häuser und Höfe und alles Leben ergoß.

Ohne Zweifel hatte es eine öffentliche Umfrage gegeben. Die gab es ja immer. Irgendein sprachwissenschaftlicher Archäologe des nächsten Zeitalters, der ein Lexikon über den Sprachgebrauch des späten zwanzigsten Jahrhunderts erstellen würde, käme wahrscheinlich zu der Feststellung, daß die Zeitspanne zwischen dem Beschluß einer Sache und ihrer endgültigen Durchführung von einem überalterten Ritual festgelegt wurde, das öffentliche Umfrage hieß.

Hier war er also, der berühmte Stausee – mit öffentlichen Geldern für das öffentliche Wohl geschaffen in einer Zeit, als die Privatisierung öffentlicher Einrichtungen nichts weiter war als das düstere Leuchten in den Augen eines Dämons. Inzwischen war sie allerdings Dreh- und Angelpunkt im großen Meisterplan der Mid-Yorkshire Wasser-AG, die für die nächsten hundert Jahre ihre Verbraucher (Verzeihung: Kunden) naß und ihre Teilhaber reich zu halten hoffte.

Doch die Natur hatte all diese Pläne zunichte gemacht, indem sie einfach ein paar Monate lang unverwandt ihr großes gelbes Auge vom Himmel starren ließ.

Um die dunklen Wasser des Stausees verlief ein breiter, blasser Streifen von ausgewaschenem Fels und getrocknetem Schlamm, auf dem grundrißartig die Spuren ehemaliger Hausmauern zu sehen waren und daneben verschieden große Haufen glattgespülter Mauersteine, die aufzeigten, wo Teile des ertränkten Dorfs nach Luft schnappend wieder hochgekommen waren.

»Woll’n Sie das Bier oder nicht?«

Pascoe drehte sich um und sah, daß der Dicke ihm eine Dose Bitter entgegenstreckte.

»Tja, ich habe es raufgetragen,« erwiderte Pascoe, »da kann ich es ebensogut wieder runtertragen.«

Er nahm einen langen, erfrischenden Zug. Dalziel hatte mittlerweile seine eigene Dose abgestellt und ein Fernglas aus dem Rucksack gezogen, mit dem er das Tal absuchte.

Was habe ich hier noch alles raufgeschleppt? überlegte Pascoe. Eintopf und Schnellkochplatte?

»Hier hat alles angefangen, mein Junge«, sagte Dalziel. »Ich wollte nur, daß Sie’s mit eigenen Augen seh’n.«

»Danke, daß Sie daran gedacht haben, Sir«, entgegnete Pascoe. »Soll ich mir irgend etwas Spezielles ansehen oder nur ganz allgemein auf die schöne Landschaft trinken?«

»Hör ich da etwa Sarkasmus in Ihrer Stimme?« erkundigte sich Dalziel. »Der Spott der Intellektuellen, wie? Aber geben Sie sich keine Mühe, das prallt an mir ab. Ich wollte nur, daß Sie ’ne Vorstellung davon bekommen, wie’s vor fünfzehn Jahren da unten ausgeseh’n hat, als man denen sagte, sie müßten ihr Tal verlassen. Ich vermute, einem von denen hat’s ganz und gar die Sicherung rausgehau’n. Ich weiß genau, daß Sie jetzt denken, ich hätte mir die Zähne mit Whiskey geputzt oder so was, aber wenn mich schon jemand für ’nen Schwachkopf hält, dann soll der wenigstens ’ne schwache Ahnung davon haben, was ich denke. Können Sie mir folgen, mein Junge?«

»Ich versuche es, Sir.«

»Tun Sie Ihr Bestes!«

»Ich hab mir immer vorgenommen, wenn der Teufel mich mal auf einen hohen Berg führt, daß ich dann ohne Widerworte alles glauben werde, was er mir erzählt, bis ich heil wieder unten bin«, sagte Pascoe. »Also schießen Sie los. Spielen Sie Fremdenführer.«

»Nicht nötig«, sagte Dalziel. »Ich hab ’ne Landkarte. Sie war in der Dendale-Akte, die übrigens bei mir im Wagen liegt. Sie können sie nachher mit nach Hause nehmen und gründlich durchlesen. Hier.«

Er überreichte Pascoe ein Blatt Zeichenpapier. Pascoe betrachtete es schmunzelnd.

»Diese saubere Hand kenne ich doch? Ja, da sind sie! Die magischen Initialen E. W.«

»Hm, die ist von Wieldy. Sie müssen allerdings berücksichtigen, daß seine gemalten Häuser heute nix weiter sind als die Schutthaufen da unten.«

»Kam das vom Wasser?« wollte Pascoe wissen.

»Nein. Die Wasserbehörde hat sie abreißen lassen. Die dachten wohl, wenn sie die Häuser als Ganzes unter Wasser stehen lassen, müßten sie auf ewige Zeiten die Witwenrenten der Hinterbliebenen irgendwelcher Unterwasser-Freaks bezahlen. Sogar die Häuser, die nicht überflutet wurden, haben sie plattgewalzt. Damit ja keiner zurückschleicht und sich heimlich einnistet.«

Pascoe studierte die Landkarte. Dalziel reichte ihm sein Fernglas.

»Fangen Sie mitten im Dorf an«, riet er. »Wenn Sie den Leichenpfad nach unten verfolgen, sehen Sie, daß er an einem großen Felsen endet, dem Shelter Crag. Der heißt so, weil sie da immer ihre Toten abgelegt haben, bevor die ihre Reise über den Hügel nach St. Michael’s antraten. Als sie ihre eigene Kirche bauen konnten, war das natürlich der logischste Platz dafür, und jetzt ist diese Kirche der große Steinhaufen neben dem Felsen.«

Mit der Sorgfalt und Präzision eines Briefträgers, der die Runde zu oft gemacht hatte, um sie je zu vergessen, führte Dalziel seinen Kollegen durch das verunstaltete Tal. Hatte man die ehemalige Kirche erst einmal ausfindig gemacht, waren die Überbleibsel des Dorfkerns einigermaßen gut zu erkennen. Weiter entfernt gelegene Gebäude waren nicht so leicht zu unterscheiden. Hobholme, der Hof, auf dem das erste Mädchen gelebt hatte, war nicht allzu schwierig auszumachen, aber der Stang-Hof mit der Dorftischlerei schien in alle Winde verstreut. Heck, das Haus der Wulfstans, erstreckte sich als Steinruine vom neuen Ufer bis hin zum alten Rand des schwindenden Dorfsees, und weiter hinten war der langgezogene Rundhügel zu erkennen, an dem einst Low Beulah gestanden hatte, der Hof des Mädchens, das davongekommen war.

Neb Cottage allerdings, der Wohnort des Hauptverdächtigen Benny Lightfoot und Schauplatz des letzten Angriffs, war nur schwer zu finden – vielleicht, weil es so weit oben lag, daß es die letzten fünfzehn Jahre nicht unter Wasser gestanden hatte. Vielleicht aber war es, ebenso wie sein Bewohner, wieder in den Schoß der Erde zurückgekehrt, dem seine Steine entrissen worden waren.

Pascoe teilte diesen Gedanken des Dicken nicht und richtete das Fernglas auf den Staudamm.

Irgendwo gab es ein Tal – im Lake District? –, dessen naive Bewohner einer Legende zufolge eine Mauer bauten, um den Kuckuck einzufangen und dadurch für immer im Frühling leben zu können. In diesem Tal hier war die Absicht wissenschaftlich fundierter, allerdings nicht viel erfolgreicher gewesen. Zwei Drittel der Staumauer waren mit getrocknetem Schlamm bedeckt, und auf das mittlere Drittel leckten sonnengefleckte Wellen, die nicht einmal eine Streichholzschachtel zum Kentern gebracht hätten. Der Damm wirkte genauso fehl am Platz wie ein Fußballstürmer in einer Ballettschule.

Pascoe folgte mit den Augen der sanften Krümmung bis hinauf zum Geländer, wo er einen Mann erblickte, der ganz gemütlich auf dem Damm entlangspazierte. Aus dieser Entfernung und diesem Blickwinkel war es schwer, sein Gesicht zu erkennen, aber er war groß und hatte langes, glatt zurückgekämmtes schwarzes Haar.

»Da unten ist jemand«, sagte Pascoe.

»Ach ja? Ein bißchen früher, und Sie hätten Dutzende von Leuten geseh’n. Lokalhistoriker, Vogelkundler, Bergwanderer … Die Wasserbehörde hat keine Chance, die Schaulustigen ohne bewaffnete Armee fernzuhalten«, erwiderte Dalziel.

Er nahm Pascoe das Fernglas ab und blickte kurz über den Damm.

»Er ist weg, oder Sie hatten Halluzinationen. Allerdings ist jemand oben auf Beulah Height.«

Er starrte auf den Hang unterhalb des zweifachen Gipfels.

»Beulah Height. Und Low Beulah. Da muß jemand ziemlich optimistisch gewesen sein«, meinte Pascoe.

»Soll ich jetzt etwa warum fragen?« wollte Dalziel wissen. »Tja, das brauch ich nicht, Sie Schlaumeier. ›Du sollst heißen Hephzibah‹ – das bedeutet ›Meine Lust an ihr‹ – ›und dein Land Be-ulah‹ – das bedeutet ›liebes Weib‹ oder ›Vermählte‹. Jesaja 62,4. Und in der ›Pilgerfahrt‹ von John Bunyan ist das Land Beulah die letzte Station vor’m Himmel, ›wo die Sonne scheint bei Nacht und Tag‹. So ungefähr, glaub ich. Manche sagen sogar, das Wort käme ursprünglich aus dem Angelsächsischen. Beorh-loca oder so ähnlich. Heißt Bergeinschluß. Da oben steh’n die Überbleibsel irgendeiner alten Bergfestung, vermutlich noch aus der Steinzeit. Irgendwann später nutzten Bauern die Steine, um unterhalb vom Sattel einen Schafpferch zu bauen.«

»Sind Sie zur Abendschule gegangen, Sir?« fragte Pascoe erstaunt.

»Ich bin noch nicht fertig. Möglicherweise gab der Pferch selbst den Namen. Bought oder bucht bedeutet Stall, und law heißt Berg.«

»Dann ist Height ja eigentlich tautologisch, oder?« naseweiste Pascoe. »Und außerdem klingt alles ein bißchen schottisch.«

»Denken Sie denn, wir hätten keine Missionare geschickt, um euch Schweinebacken zu zivilisieren?« entgegnete Dalziel in Anspielung auf seinen schottischen Vater. »Wie dem auch sei – andere wiederum sagen, es heiße eigentlich Baler Height, und bale bedeutet Feuer, weil sie da 1588 ein Leuchtfeuer angezündet haben, um vor der Armada zu warnen. Sie haben das alles bestimmt im College gelernt – oder durften sie euch da nix über die Zeiten erzählen, wo wir die Toreros und Itaker und so weiter verdroschen haben?«

Leicht verschnupft, weil ihre üblichen Rollen vertauscht waren, erwiderte Pascoe: »Und Low Beulah? Haben sie dort etwa ein kleines Leuchtfeuer entfacht, um die Enten zu warnen?«

»Tun Sie nicht so blöd. Ein low ist so was wie ein Grabhügel. Und der kleine Berg da neben dem Hof ist wahrscheinlich einer.«

Pascoe wußte, wann er sich geschlagen geben mußte.

»Ich bin beeindruckt«, sagte er. »Sie haben Ihre Hausaufgaben vor fünfzehn Jahren wirklich gemacht.«

»Klar. Was immer es über Dendale gab, hab ich auswendig gelernt«, sagte Dalziel ernst. »Und wissen Sie was? Genau wie all die Daten, die ich in der Schule lernen mußte, hab ich keinen Fatz davon profitiert.«

Er richtete sich auf, mit finsterem Blick gen Dendale. Wie ein römischer Feldherr, fand Pascoe, der zum Bezwingen einer rebellischen Provinz ausgesandt worden war und nun entdeckte, daß an einem solchen Ort gegen solche Feinde die klassischen Taktiken der Infanterie keinen Pfifferling wert waren.

Aber er würde einen Weg finden. Römische Feldherren und Andy Dalziel fanden immer einen Weg.

Nur daß er in diesem Fall eigentlich ins falsche Tal starrte.

Wie als Antwort auf diesen kritischen Einwand sagte Dalziel: »Ich weiß, daß das da unten alter Bockmist ist, mein Junge. Und das unten in Danby ist ein neuer Fall. Aber vor fünfzehn Jahren hab ich eins gelernt, das mir jetzt energisch ins Gewissen läutet.«

»Und das wäre, Sir?« fragte Pascoe pflichtschuldig.

»Ich hab gelernt, daß an diesem Ort und bei diesem Wetter der Schweinehund, der das erste Mädchen umbrachte, nicht aufhörte, vielleicht nicht aufhören konnte, bis er zwei weitere erwischte und es noch bei einem dritten versuchte. Das ist der Grund, warum ich Sie hergebracht hab – um das in Ihre Birne zu kriegen. Es gibt Dinge, die kann man nicht aus Büchern lernen. Nehmen Sie die Dendale-Akte trotzdem mit nach Hause. Ich werd Sie morgen abfragen.«

»Bleibe ich am Fall dran, auch wenn ich den Test nicht bestehe?«

»An diesem Fall, denke ich, werden wir alle noch bis lange nach dem Schlußläuten dranbleiben«, erwiderte Dalziel düster. »Und jetzt geh’n wir lieber runter, solange es noch hell genug ist, um zu seh’n, wie tief wir fallen können.«

Er stapfte in Richtung Leichenpfad davon.

Pascoe warf einen letzten Blick ins Tal. Die untergehende Sonne füllte die Senke zwischen den beiden Gipfeln von Beulah Height wie eine Schüssel mit Gold. »Letzte Station vor dem Himmel.« An einem Abend wie diesem konnte man das sogar glauben.

»Heda!«

»Komme«, rief er.

Und folgte seinem großen Führer in die Dämmerung.