172323.fb2 Das Dorf der verschwundenen Kinder - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 16

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Nina und der Nix

Es war einmal ein Nix, der lebte an einem Teich in einer Höhle unter einem Berg.

Er fraß, was immer in seinem Teich herumschwamm oder im Schlamm seines Ufers herumkroch.

Seine einzige Freundin war eine Fledermaus, die kopfunter hoch oben an der Decke seiner Höhle hing, und oftmals, wenn sie zu ihm sprach, schien ihre leise piepsige Stimme direkt aus seiner Schädeldecke zu kommen.

Wenn der Nix hinausgehen wollte, wartete er für gewöhnlich bis zur Nacht. Aber manchmal hörte er auch die Stimmen von Kindern, die unten im Dorf herumtollten, und dann schlich er sich bei Tag hinaus und suchte ein schattiges Plätzchen am Hügel, von wo er sie beobachten konnte.

Am schönsten war es, wenn sie im Teich der Dorfwiese planschten, sich gegenseitig naßspritzten und mit lautem Geschrei herumliefen, während ihre leuchtenden Gesichter und hellen Arme und Beine vor Wasser troffen.

Das Mädchen, das er am liebsten beobachtete, hieß Nina. Ihr Haar war so blond, wie seines schwarz war, und ihre Haut so weich wie seine schuppig.

Es kam ein Sommer, da die Sonne so heiß schien und der Himmel so wolkenlos blieb, daß nicht einmal der Gedanke an Nina den Nix hinaus in die Hitze und Helligkeit locken konnte. Er saß in seiner dunklen, nassen Höhle und wartete darauf, daß das Wetter sich änderte. Aber es änderte sich nicht, und nach ungefähr einer Woche, als er sich hinkniete, um aus seinem Teich zu trinken, merkte er, daß der Wasserspiegel gesunken war.

Ein trockener Tag folgte dem anderen. Die Sonne schien so heiß, daß der Nix ihre stickige Hitze sogar dort unten in seiner Höhle spüren konnte. Und ohne die Regentropfen, die durch die Ritzen des Berggesteins rinnen und seinen Teich füllen könnten, sank der Wasserspiegel immer weiter. Nach und nach starben die Tiere, die im Teich lebten, und es starben auch die, die in seinem schlammigen Ufer lebten, das immer breiter und immer trockener wurde. Und bald wurde der Nix sehr hungrig.

»Willst du etwa herumsitzen und Trübsal blasen, bis du verhungert bist?« fragte die Fledermaus.

»Ich weiß nicht, was ich sonst tun könnte«, erwiderte der Nix.

»Du kannst Futter suchen«, sagte die Fledermaus.

»Ich habe gesucht und gesucht, aber nichts ist mehr da, das ich fressen könnte«, sagte der Nix.

»Ich meinte nicht Futter für dich«, entgegnete die Fledermaus, »sondern für den Teich.«

»Hm?« fragte der Nix.

»Hast du’s denn nicht bemerkt? Der Teich im Dorf ist nicht viel kleiner geworden. Und weißt du auch, woher das kommt?«

»Nein«, sagte der Nix.

»Das kommt daher, weil die frechen kleinen Mädchen immer darin herumplanschen«, sagte die Fledermaus. »Hol dir eins von ihnen, und bald wirst du sehen, daß dein Teich wieder voller Wasser ist.«

Also stieg der Nix nach oben, um es mit eigenen Augen zu sehen. Es war so hell und heiß, daß er nur eine halbe Minute lang draußen bleiben konnte, aber es reichte, um zu sehen, daß die Fledermaus recht hatte. Der Dorfteich war noch immer voller Wasser, und die kleinen Kinder planschten noch immer darin herum.

Wieder unten in der Höhle angekommen, sagte er: »Du hast also recht, aber das hilft mir nicht viel. Wie soll ich eine von ihnen dazu bewegen, hierher zu kommen? Nachts sind sie alle in ihren Häusern eingesperrt, und wenn ich tagsüber hinausgehe, werde ich vertrocknen und sterben.«

»Dann muß sie eben zu dir kommen«, sagte die Fledermaus. »Geh heute nacht hinaus und sammle die schönsten Blumen, die du finden kannst, und pflanze sie vor den Eingang deiner Höhle. Dann setz dich hin und warte.«

In der Nacht schlich der Nix hinaus und wanderte kreuz und quer über Berg und Tal und riß alle Blumen aus der Erde, die er finden konnte, Margeriten und Stiefmütterchen, Aronstab und Labkraut, aber keinen Diptam, denn das ist eine Blume, die Nixe und derlei Wesen nicht leiden können. Und er pflanzte sie alle um den Eingang seiner Höhle.

Am nächsten Morgen machte Nina einen Spaziergang den Berg hinauf, bevor die Sonne zu heiß wurde. Sie wollte ein paar Blumen für ihre Mutter pflücken, aber es gab nicht viele, weil die Hitze den Boden ausgetrocknet und so hart gebacken hatte, daß selbst das Gras braun geworden war. Plötzlich erblickte sie eine Senke am Berghang, in der so viele Blumen blühten, daß sie wie ein Garten aussah. Sie eilte dorthin und hatte gerade die schönsten Blumen abgepflückt, als sie eine Stimme hörte: »Was glaubst du, was du da tust, kleines Mädchen? Stiehlst du denn immer Blumen aus anderer Leute Gärten?«

»Oh, tut mir leid«, rief Nina. »Ich wußte nicht, daß dies ein Garten ist, der jemandem gehört.«

»Nun, jetzt weißt du es«, sagte die Stimme.

Sie konnte nicht sehen, wer da sprach, aber die Stimme schien aus diesem Loch im Berg zu kommen. Also ging sie hin und sagte schüchtern: »Es tut mir wirklich leid. Ich lege sie hier vor die Höhle, ja?«

»Nein, wo du sie schon gepflückt hast, kannst du sie nun auch behalten«, sagte die Stimme.

»Das ist sehr nett von Ihnen«, sagte Nina. »Aber wollen Sie nicht in Ihren Garten hinauskommen, wo ich Sie sehen kann?«

»Nein, Mädchen. Ich vertrage die Hitze nicht«, antwortete die Stimme. »Und ich habe mir gerade einen Krug eisgekühlte Limonade gemacht. Möchtest du auch davon trinken?«

Nina war tatsächlich sehr durstig von der Hitze und antwortete eifrig: »Ja, gern.«

»Gut, ich schenke dir etwas ein. Komm nur herein und hol es dir.«

Sie schob also die Blumen beiseite, die den Eingang zur Höhle umrankten, und trat hinein.

Im nächsten Augenblick spürte sie, wie jemand sie an den langen blonden Haaren zog, das sie zu zwei Zöpfen geflochten trug, und noch ehe sie schreien konnte, wurde sie einen langen Gang entlang ins Innere der Erde gezogen.

Dort lag sie nun im stinkenden Dunkel und schluchzte herzzerreißend.

Schließlich versiegten ihre Tränen, und sie rieb sich die Augen, setzte sich auf und sah sich um.

Draußen war die Sonne so hell, daß ein wenig Licht durch den Gang drang. Bei seinem schwachen Schein sah sie, daß sie in einer Höhle saß. Auf dem Boden lagen überall Steine verstreut, und in der Mitte der Höhle war ein kleiner, stinkender Teich, an dessen Ufer ein Ungeheuer saß.

Sein Körper war lang und schuppig, seine Finger und Zehen hatten lange gebogene Nägel, sein Gesicht war hager und ausgezehrt, seine Nase krumm, sein Kinn spitz mit nadelspitzen Bartstacheln, seine Augen lagen tief in den Höhlen und starrten sie an, und sein Mund verzog sich zu einem spöttischen Grinsen, bei dem seine scharfen weißen Zähne sichtbar wurden.

»Wie geht es dir, Nina?« fragte das Ungeheuer.

»Wie geht es dir, Nix?« fragte sie leise zurück.

»Du weißt also, wer ich bin?« sprach der Nix.

»Ja. Meine Mutter hat mir von dir erzählt«, antwortete Nina.

Ihre Mutter hatte sie gewarnt, sie dürfe nie allein auf den Berg gehen, sonst käme der böse Nix, der im Berginnern lebt, um sie zu holen.

Jetzt wünschte sie mit aller Macht, sie hätte auf ihre Mutter gehört!

»Dann ist es aber nett von dir, daß du mich besuchen kommst, Nina«, sagte der Nix.

»Es ist nett von dir, daß du mich einlädst«, erwiderte Nina höflich, wie sie es gelernt hatte. »Aber ich möchte jetzt bitte wieder nach Hause gehen, denn es ist Zeit für mein Essen.«

»Für mein Essen ist die Zeit schon lang vorbei«, fauchte der Nix. Doch dann fuhr er mit seinem schrecklichen Grinsen fort: »Ich habe einen Vorschlag, Nina. Es ist so heiß – warum schwimmst du nicht noch ein wenig, bevor du gehst?«

Nina blickte auf den gräßlichen Teich und schüttelte den Kopf.

»Nein, danke«, sagte sie. »Mein Vater sagt, ich soll nie allein schwimmen gehen. Nur, wenn jemand auf mich aufpaßt, der größer ist als ich.«

»Keine Bange«, sagte der Nix und stand auf. »Ich bin größer als du, und ich werde auf dich aufpassen.«

Er ging um den Teich herum auf sie zu. In diesem Augenblick klang eine Stimme von weit draußen durch den Gang hinab.

»Nina! Nina!« rief die Stimme.

»Das ist mein Vater!« rief Nina. »Ich komme. Ich komme!«

Und sie rappelte sich auf, um durch den Gang hinauszulaufen, aber sie war nur ein kleines Stück vorangekommen, als diese schrecklichen Hände sie an den Knöcheln packten und wieder nach unten zogen.

Von oben konnte sie noch immer die Stimme ihres Vaters hören, aber sie klang schon schwächer, und bald war sie weit entfernt, und dann hörte sie gar nichts mehr.

Sie lag am Rande des Teichs, und der Nix stand drohend über ihr.

»Warte nur, bis mein Vater dich zu fassen kriegt«, schluchzte sie. »Er dreht dir den Hals um wie einem Huhn für die Suppe.«

»Dazu muß er mich erst fangen«, lachte der Nix. »Und nun laß uns schwimmen gehen.«

Nina blickte zu ihm auf und sah, daß er stark genug war, sie zu allem zu zwingen, was er von ihr wollte. Es hatte also keinen Sinn, sich zu wehren. Was sagte ihre Mutter immer? Der liebe Gott hat die Männer stark, uns Frauen aber schlau gemacht. Warum die Fäuste gebrauchen, wenn man einen Kopf hat? Und ihr Vater prahlte doch immer damit, daß sie ein ganz heller Kopf war.

Tja, nun war der Zeitpunkt gekommen zu beweisen, wie schlau sie wirklich war.

»Also gut«, sagte Nina. »Aber ich muß mich erst saubermachen.«

Sie stand auf und fing an, ihr Kleid abzuklopfen, das im Gang ganz staubig geworden war. Dann nahm sie die Bänder aus ihren Zöpfen, entflocht ihr Haar und kämmte es mit den Fingern, so daß es wie ein heller Wasserfall über ihre Schultern fiel.

Und die ganze Zeit beobachtete sie der Nix mit Augen wie glühende Kohlen.

»So«, sagte Nina. »Jetzt bin ich fertig, Aber du mußt mit mir reinspringen und mir beim Schwimmen helfen.«

»Nimm dich in acht, Nix«, piepste die Fledermaus. »Sie sind hinterhältig wie die Spinnen, diese jungen Dinger.«

Doch der Nix hörte nicht. Er war mit Augen und Gedanken ganz bei Nina.

Sie nahm seine Hand und ließ ihn neben sich auf einen großen Felsen klettern, der am Rand des Teiches stand.

Und sie sagte: »Ich zähle bis drei, und dann springen wir zusammen. Einverstanden?«

»Einverstanden«, sagte der Nix.

»Eins«, zählte Nina.

»Und zwei«, zählte Nina.

»Und drei«, zählte Nina.

Und sie sprangen.

Nur, während der Nix vorwärts in den Teich sprang, ließ Nina seine Hand los und sprang rückwärts auf den Boden.

Dann drehte sie sich um und rannte so schnell, wie sie noch nie in ihrem Leben gerannt war, den Gang hinauf.

Der Nix brauchte nur eine Sekunde, um ihren Trick zu durchschauen.

Dann, brüllend vor Wut und triefend vor übelriechendem Schlamm und Wasser, zog er sich aus dem Teich und setzte ihr nach.

Oh, sie war schnell, aber er war schneller.

Sie wagte nicht, sich umzudrehen und dabei Zeit zu verlieren, aber sie konnte ihn hinter sich hören – seine scharfen Nägel, die auf dem Felsen kratzten wie Kreide auf einer blanken Schiefertafel, und seinen stinkenden Atem, schnaufend wie der Blasebalg von Bert, dem Schmied.

Ihr langes blondes Haar wehte hinter ihr, und sie spürte, wie er es mit der ausgestreckten Hand berührte. Sie rannte noch schneller, noch schneller, bis sie die Hand nicht mehr spüren konnte. Aber der Nix war ihr immer noch dicht auf den Fersen, und ihre Kraft ließ allmählich nach. Jetzt spürte sie seine Hand wieder, diesmal nah genug, um eine Strähne zu fassen.

Sie spürte, wie sein Griff fester wurde, wie er sich die Strähne um die Hand schlang, um sie noch fester zu greifen, und über sich sah sie das Ende des Gangs als einen Kreis aus hellem Licht.

Aber es war zu spät. Er hatte ihr Haar fest gepackt. Er riß daran, so daß sie stehenbleiben mußte. Es war zu spät.

Sie reckte ihre Arme zum Licht und schrie: »Vater! Vater!«

Und gerade, als sie die Hoffnung aufgeben wollte und wußte, daß sie wieder in die Tiefe gezogen werden würde, spürte sie, daß sie jemand an den Händen faßte.

Einen Moment lang wurde sie auseinandergezogen wie ein Seil beim Tauziehen am Sportfest. Doch dann, genau wie beim Tauziehen, wenn beide Mannschaften einander so ebenbürtig erscheinen, daß sie wohl ewig im Gleichgewicht bleiben werden, aber dann eine von beiden plötzlich doch die Kraft zu einem letzten mächtigen Zug aufbringt und die andere hilflos zu Boden geht, so spürte auch Nina den Zug von oben stärker werden und den Zug von unten nachlassen.

Und im nächsten Augenblick war sie draußen am Berg im hellen, goldenen Sonnenlicht und lag im Gras vor den Füßen ihres Vaters.

Ach, wie sie sich umarmten und küßten, und sie hörte kein Schimpfen und kein Mahnen, daß sie ungehorsam gewesen war!

Als sie mit dem Umarmen und Küssen fertig waren, rollte ihr Vater einen riesigen Stein vor den Höhleneingang.

»So«, sagte er. »Nun bleibt der Nix da, wo er hingehört. Und jetzt gehen wir nach Hause zu deiner Mutter. Wir wollen ihr ein paar Blumen mitbringen, um das Haus zu verschönern.«

Also machten sie sich auf und pflückten Margeriten und Stiefmütterchen, Aronstab und Labkraut, und auf dem Heimweg fanden sie einen Hügel mit Diptam, den die Nixe hassen, und den pflückten sie auch.

Und bald darauf, als Ninas Mutter hinter ihr Häuschen lief und schon ängstlich den Berg hinaufblickte, hüpfte ihr Herz vor Freude, als sie ihren Mann und ihre kleine Tochter auf sich zukommen sah, mit leuchtenden Augen wie Sternenglanz und hellen, fröhlichen Stimmen und die Arme voller Blumen.