172323.fb2 Das Dorf der verschwundenen Kinder - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 18

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Drei

»Wie oft?« fragte Pater Kerrigan.

»Fünfmal.«

»Gütiger Gott! Immer mit demselben Burschen, ja?«

»Ja, Vater«, antwortete Detective Constable Shirley Novello indigniert.

»Und auch am heiligen Sonntag?«

»Macht es das schlimmer?«

»Es macht es nicht besser. Fünfmal. Ich gebe dem heißen Wetter die Schuld. Ist es jemand aus meiner Gemeinde? Nein, sag’s nicht. Ich werde ihn schon an seinem gegrämten Gang erkennen. Ist das der Grund, weshalb ich dich gestern nicht im Gottesdienst gesehen habe? Warst du zu sehr damit beschäftigt, Unzucht zu treiben?«

»Nein, Vater. Ich habe es Ihnen gesagt. Wir haben gestern einen Ausflug ans Meer gemacht, und da ist es einfach irgendwie passiert.«

»Nein, mein Kind. Es kann ein Mal einfach irgendwie passieren, aber fünf Male bedürfen schon einer gewissen Inbrunst.«

Es ist nicht leicht, dachte Novello, als sie etwas später die Kirche verließ, gleichzeitig eine moderne Frau, eine Katholikin und eine aufstrebende Polizistin zu sein. Die Rollen kamen sich ins Gehege. Für die emanzipierte Frau bedeutete guter Sex das Ausleben ihrer befreiten Sexualität, für den Heiligen Vater bedeutete es die Sünde der Unzucht. Und in ihrem Job war es hin und wieder erforderlich, sowohl die Emanzipation als auch die Heiligkeit vor den Kopf zu stoßen.

Sie kam fünf Minuten zu spät in die Einsatzzentrale in Danby. Keine Spur von Dalziel (Gott sei zumindest hierfür gedankt) oder Pascoe. Aber Wield war da.

»’Tschuldigung, Chef«, sagte sie. »War zur Beichte.«

Eine Lüge erschien unter den gegebenen Umständen irgendwie unpassend.

»Ich hoffe, Sie haben es auf Band«, sagte Wield.

War das ein Witz? Sie tippte auf ja und lächelte.

»Sie waren gestern nicht hier? Ich auch nicht. Machen Sie sich schnellstens mit dem Fall vertraut, und dann möchte ich, daß Sie diese drei Aussagen über verdächtige Fahrzeuge überprüfen.«

»Ist Dalziel in der Nähe?«

»Der ist mit Inspector Burroughs und der Suchmannschaft oben am Berg.«

»Und Mr. Pascoe?«

»Wird gleich kommen. Sieht zu, daß alles läuft.«

Eine Ausrede fürs Zuspätkommen? Die zwei gaben einander immer Rückendeckung.

Der Gedanke stand ihr wohl auf der Stirn geschrieben, denn Wield sagte: »Aber vielleicht ist er ja auch bei der Beichte. Je älter man wird, desto länger dauert sie, sagt man ja.«

Wieder ein Witz? Er war heute in seltsamer Stimmung. Novello suchte sich einen freien Computer und ging an die Arbeit.

Drei Fahrzeuge. In der ersten Phase eines solchen Falles, wenn man großflächig ausschwärmte – mit Geländesuchmannschaften, Anwohnerbefragungen, Bürgerappellen in den Medien usw. usw. –, erstickte man bald an einem Wust an Informationen. Deshalb war der zeitaufwendigste Teil einer Untersuchung das Sortieren (so Pascoe). Und das war nicht einfach. Bis sie diese drei Aussagen überprüft hätte, würden vermutlich noch etliche andere gesammelt werden. Sonntag war ein schlechter Tag für Zeugenaussagen. Die Leute machten Ausflüge und kamen erst spät zurück. In der gestrigen Anwohnerbefragung waren vermutlich große Lücken. Aber das war nicht ihr Problem. Noch nicht.

Sie steckte die Punkte der gesichteten Fahrzeuge auf der Landkarte ab. Der nächstliegende, bei dem das Fahrzeug allerdings nicht gesehen sondern gehört worden war, befand sich am Leichenpfad. Jemand hatte eine Notiz hinzugefügt: »Parkspuren zweihundert Yards bergaufwärts, Vierradantrieb?« Es hatte wohl nicht viel Sinn, einer halb blinden alten Dame nachzustellen. Andererseits … Sie sah auf die Uhr, stand auf und eilte aus dem Raum. Dabei pfiff sie die Melodie eines Kirchenlieds, die Wield zu der Überlegung verleitete, ob zuviel Religion bei der Ausübung polizeilicher Pflichten nicht doch hinderlich sein könnte.

Das Kirchenlied hieß »Er weckt mich alle Morgen«, wurde in diesem Fall jedoch aus rein weltlichen Gründen gepfiffen. Novello war dereinst Untermieterin bei einer Familie mit Hund gewesen. Der Hund, ein gut abgerichteter Pudel, hatte sein morgendliches Bedürfnis nach Ausgang stets mit lautem Gekläff kundgetan, auf das ihr Vermieter, ebenso gut abgerichtet, mit diesem Kirchenlied antwortete: »Er weckt mich alle Morgen; er weckt mir selbst das Ohr. Gott hält sich nicht verborgen, führt mir den Tag empor«, während er die Leine holte und zur Tür eilte.

Novello spazierte an der Kirche vorbei und setzte sich auf einen Felsen am Fuße des Leichenpfads. Nach nur fünf Minuten wurde ihr Gottvertrauen belohnt. Ein Springerspaniel kam den Weg heruntergerannt, hielt abrupt inne, als er sie sah, und kam dann mißtrauisch näher. Sie streckte ihre Hand aus und redete beruhigend auf ihn ein, und schließlich ließ sich der Hund am Kopf kraulen.

Kurze Zeit später folgte ihm eine keuchende, pummelige Frau in weiter Baumwollhose und rosa Trägerhemdchen.

»Da bist du ja, Zebedäus«, sagte sie. »Ist schon gut. Er beißt nicht.«

»Ich auch nicht«, meinte Novello.

Sie stand auf und stellte sich vor. Die Frau nannte ihrerseits ihren Namen, Janet Dickens, Mrs., und sagte, sie wohne etwa zehn Minuten Fußweg entfernt.

»Geht’s um das kleine Mädchen?« wollte sie wissen. »Das ist wirklich schrecklich. Wir waren gestern alle Mann drüben bei meiner Schwester in der Nähe von Harrowgate – wir fahr’n da jeden zweiten Sonntag hin, ansonsten kommen sie her –, aber ich hab’s in den Nachrichten gehört, als wir zurück waren.«

»Sind Sie mit Zebedäus Gassi gegangen, bevor Sie losfuhren?« fragte Novello.

»Ja, genau. Ohne seinen Morgenspaziergang würd er mich nicht weglassen.«

»Und Sie kommen immer hierher?«

»O ja! Er wird recht widerborstig, wenn ich ihn woanders hinführen will.«

»Gut. Ich würde gerne wissen, ob Sie hier gestern morgen ein Fahrzeug gesehen haben.«

»Ein Fahrzeug? Ach, Sie meinen den Discovery? Ja, der war wieder da. Warum? Sie glauben doch nicht …?«

»Nein, wir glauben gar nichts«, erwiderte Novello bestimmt. »Es geht hier nur um eines von mehreren Fahrzeugen, die wir überprüfen müssen, um eine Verbindung mit dem Fall auszuschließen. Dieses Fahrzeug war ein Land Rover Discovery, sagen Sie?«

»Ja, genau. Grün. Hier aus der Gegend, denn das Kennzeichen war von Mid-Yorkshire und die Zulassung aus diesem Jahr. Und eine der Zahlen war eine Sechs, glaube ich, an die anderen kann ich mich leider nicht mehr erinnern.«

»Sie haben mir sehr geholfen«, sagte Novello und machte sich Notizen. »Aber Sie sagten ›wieder‹. Er war wieder hier Was meinten Sie damit?«

»Ach, ich hab den Wagen in den letzten Wochen vier- oder fünfmal hier geseh’n, deshalb erinnere ich mich ja auch einigermaßen an das Kennzeichen. Ich bin nämlich schrecklich vergeßlich, und wenn ich den Wagen nur ein einziges Mal geseh’n hätte, hätt ich Ihnen wahrscheinlich erzählt, es wär ’n gelber Porsche mit 007 auf dem Nummernschild. Was werden Sie jetzt tun? Eine Warnung rausschicken?«

»Nein, nichts so Dramatisches, Mrs. Dickens«, erwiderte Novello ruhig.

Es dauerte ein paar Minuten, bis sie Mrs. Dickens davon überzeugt hatte, daß sie weder ein Hubschrauberkommando noch eine Meute Bluthunde anfordern würde. Schließlich konnte Novello sich mit der Vermutung loseisen, daß das Team der Anwohnerbefragung möglicherweise in eben diesem Moment auf Mrs. Dickens’ Türschwelle wartete, da sie sie ja gestern nicht angetroffen hätten.

Sie kehrte in die Einsatzzentrale zurück. Wield war nirgends zu erblicken, also gab sie ihre Informationen an die Hauptstelle weiter und forderte eine Liste der in Frage kommenden Fahrzeuge an. Aussage Nummer eins war vorerst erledigt, und mit dem Vertrauen darauf, daß sie heute einen guten Riecher hatte, nahm sie sich die nächste vor.

Die Aussagen der zwei Personen, die am Rand des Ligg Common ein weißes Fahrzeug gesehen hatten, waren vage und widersprüchlich. Die eine beschrieb es als klein, die andere als recht groß. Die erste meinte, es hätte ein Ford Escort sein können, die andere war sicher, einen Vauxhall gesehen zu haben, konnte aber nicht sagen, welches Modell.

Aber es gab eine dritte, noch ungenauere Aussage einer Mrs. Joy Kendrick, die bei der Anwohnerbefragung angegeben hatte, sie sei frühmorgens an der Gemeindewiese vorbeigefahren und habe dort angeblich einen Wagen gesehen, der weiß gewesen sein könnte, aber sie sei nicht hundertprozentig sicher, denn ihre Kinder hätten sich hinten auf dem Rücksitz gezankt, weil sie nicht zu ihrer Großmutter wollten, was der Zweck der Fahrt gewesen war.

Novello hatte auf dem Rückweg vom Leichenpfad die ersten Kinder auf ihrem Weg zur Schule gesehen. Inzwischen war es eine lautstarke Meute geworden. Wegen der ständigen An- und Abfahrt von Polizeifahrzeugen war eine Absperrung errichtet worden, um die niedrige Grenzmauer zwischen dem Schulhof und der Auffahrt zur Gemeindehalle zu verstärken, und nun drängten sich die naturgemäß neugierigen Kinder dicht davor. Auch viele Erwachsene waren zu sehen. Nach den gestrigen Nachrichten ergriffen die Eltern, die ihre Kinder normalerweise nur bis zum Schulgebäude begleiteten oder sogar allein losziehen ließen, heute besondere Vorsichtsmaßnahmen.

Als Novello die Einsatzzentrale verließ, marschierten gerade einige Lehrerinnen energisch an der Absperrung entlang und riefen die Kinder auf, ins Schulgebäude zu gehen. Novello wandte sich an eine der Lehrerinnen und zeigte ihren Dienstausweis.

»Ich bin Dora Shimmings, die Schulleiterin«, sagte die Frau. »Hören Sie, ich habe gestern mit Mr. Pascoe vereinbart, daß eine Befragung von Lorraines Klasse erst dann stattfindet, wenn der Schultag auf einigermaßen normalem Wege in Gang gekommen ist.«

Sie sprach mit verhaltener Autorität, so daß Novello froh war, ihre Pläne nicht durchkreuzen zu müssen.

»Darum geht es nicht«, versicherte sie ruhig. »Ich wollte nur wissen, ob Joy Kendrick die Mutter einer Ihrer Schüler ist.«

»O ja. Ihre drei Kinder sind alle bei uns. Aber keines in Lorraines Klasse.«

»Wie alt sind sie?«

»Die Zwillinge sind sechs, und Simon ist acht. Da drüben kommen sie.«

Novello drehte sich um. Eine gestreßt wirkende Frau mit offenem blonden Haar, das zwar genauso schwungvoll, aber keineswegs so glänzend um ihre Schultern schwang wie in einer Shampoo-Werbung, dirigierte drei Kinder durch das Schultor – zwei Mädchen, die ganz im Gegensatz zum allgemeinen Vorurteil geschwisterlicher Liebe und Verbundenheit sich nur darin einig schienen, daß jede die andere auf Teufel komm raus malträtieren wollte, und ein etwas älterer Junge, Simon, der so gelangweilt und reserviert dreinblickte, wie das nur ein Achtjähriger mit Zwillingsschwestern konnte.

»Ich würde sie gern sprechen. Es dauert nur ein paar Sekunden«, versprach Novello.

Nachdem sie einander vorgestellt worden waren, sagte Novello: »Mrs. Kendrick, als Sie gestern mit dem Polizeibeamten an Ihrer Haustür gesprochen haben, hat er da auch die Kinder befragt?«

»Nein, die waren ja nicht da. Ich hab sie erst um sieben wieder abgeholt.«

»Natürlich. Simon, deine Mum sagt, daß da ein weißes Auto am Ligg Common geparkt hat, als ihr gestern vorbeigefahren seid. Du hast es nicht zufällig gesehen, oder?«

»Klar«, meinte er. Die Einsilbigkeit beruhte weder auf Desinteresse noch schlechter Erziehung. Novello erinnerte sich, daß Kinder dazu neigten, Fragen genau so zu beantworten, wie sie gestellt wurden, und nicht wie Erwachsene, die sofort die Hintergründe berücksichtigten.

»Was war das denn für ein Auto?«

»Ein Saab 900 Cabrio.«

»Hast du das Kennzeichen gesehen?«

»Nein, aber es war das neueste Modell.«

Das war’s. Sie dankte dem Jungen und seiner Mutter, die in der Zwischenzeit die Zwillinge auseinandergehalten hatte wie zwei wutschnaubende Kontrahenten in einem Titelkampf und sie nun in Richtung Schuleingang zerrte.

»Das war clever«, meinte Mrs. Shimmings.

»Das war Glück«, entgegnete Novello. »Ich hätte auch einen Jungen erwischen können, der sich nur für Fußball interessiert. Warum hat Mrs. Kendrick die Kinder eigentlich gestern bei der Großmutter abgeliefert? Hat nichts mit dem Fall zu tun, ich bin nur neugierig.«

»Ihr Freund«, antwortete Mrs. Shimmings lakonisch. »Mr. Kendrick ist letztes Jahr abgehauen, und Joy hat einen neuen Freund, aber Simon haßt ihn. Und man kann schließlich keinen guten Sex haben, wenn vor der Schlafzimmertür ein Protestmarsch stattfindet, oder?«

»Hab’s nie probiert«, meinte Novello schmunzelnd.

Sie ging in die Zentrale zurück. Immer noch kein Zeichen von Wield. Und noch keine Antwort von der Hauptstelle auf ihre Anfrage wegen des Discovery. Sie sollte irgend jemandem berichten, was sie herausgefunden hatte, konnte aber niemanden entdecken, dem sie so weit traute, daß er die Lorbeeren nicht selbst einheimsen würde. Viele ihrer männlichen Kollegen, selbst wenn sie nicht den chauvinistischen Gedanken hegten, der Platz einer Frau sei hinter dem Herd, waren durchaus der Ansicht, er sei bestenfalls irgendwo im Hintergrund des Geschehens. Welcher Mann, der ein Kompliment über sein Aussehen bekommt, erwidert darauf: »Meine Frau hat die Krawatte ausgesucht, den Anzug gebügelt, das Hemd gewaschen und Kragen und Manschetten gestärkt.«?

Wie auch immer, sie hatte Blut geleckt, die Sache lief. Zwei heiße Spuren, eine stand noch aus.

Sie machte sich auf den Weg zu Geoff Draycott vom Wornock-Hof, der den blauen Kombi die Straße zum Highcross Moor hatte hinauffahren sehen.