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Als Pascoe unter der Eisenbahnbrücke durchfuhr, waren zwei Männer damit beschäftigt, die BENNY IST WIEDER DA!-Schmiererei abzuschrubben.
Sie schienen nicht besonders gut voranzukommen. Vielleicht schrubbten und schrubbten sie, bis der Stein durchgewetzt war und nichts mehr übrigblieb als die roten Buchstaben, die dann in der Luft hingen.
War das nur ein dummer Gedanke oder ein Symptom? Nachdem er frühmorgens die Dendale-Akte gelesen hatte, ehe sein Hirn sich in den Schlaf flüchtete, hatte er gewisse Schwierigkeiten gehabt, die dort aufgeführten Fakten hinzunehmen – überhaupt irgendwelche vermeintlichen Fakten hinzunehmen – und war lieber in surreale Phantasien abgeglitten. Früher einmal hatte er geglaubt, das Leben sei wie eine sanft ansteigende Lernkurve, ein beständiger Fortschritt von kindischem Leichtsinn durch jugendliches Ungestüm bis hin zu reifer Gewißheit, die irgendwann im frühen mittleren Alter auftrat – wann immer das sein mochte, aber man erkannte es daran, daß man eines Morgens aufwachte und merkte, daß man plötzlich nicht mehr diesen Bammel vor Festreden verspürte, daß man die auf Dinnerpartys leichthin geäußerte politische Meinung wirklich vertrat, daß man sich nicht länger genötigt fühlte, den linken Schnürsenkel vor dem rechten zu binden, um Unglück zu vermeiden, und daß man nicht mehr jedesmal die Gebrauchsanweisung studieren mußte, um den Videorecorder zu programmieren.
Tja, diese Zeiten des naiven Glaubens waren vorbei. Jetzt wußte er, daß dieser Zustand eine sonnenerleuchtete Anhöhe war, die er nie erreichen würde. Das Jetzt, das Hier, das war’s! Kein ständiger Aufstieg, sondern ein zielloses Herumspazieren auf verschlungenen Pfaden im dunklen Tann. Mal durfte man eine sonnendurchflutete Lichtung oder einen kristallklaren Strom genießen; mal fuhr einem der Schreck über einen umstürzenden Baum oder das knarrende, krachende Unterholz durch die Glieder; und mal führte der Pfad einen wieder zum Ausgangspunkt zurück, nur daß der immer wieder anders aussah.
Ob er denn glaube, daß er einzigartig sei, hatte sein phantasieloser Psychiater Dr. Pottle gefragt. Oder ob er glaube, daß jeder so denke.
»Weder noch«, hatte er geantwortet. »Ich bin sicher, daß nicht viele Leute so denken, aber ich bin ebenso sicher, daß ich nicht einzigartig bin.«
»So machen Sie Religion und Politik mit einem Schlag zunichte«, sagte Pottle. »Möglicherweise haben Sie doch den richtigen Beruf gewählt.«
Aber so fühlte er sich nicht. Eigenartig, wie Ellie (zumindest äußerlich) sich mehr und mehr mit den Unklarheiten seines Berufs abzufinden schien, während er (zumindest innerlich) sie mehr und mehr als unbefriedigend empfand.
Ein verschwundenes Kind. Ein totes Kind, so sah es Dalziel, da war er sicher. Er konnte den Schmerz ihrer Eltern spüren. Und nach dem Aufstieg zum Grat des Neb und der Lektüre der Akte spürte er den Schmerz aller Eltern, die ihre Kinder nicht mehr hatten heimkehren sehen.
Doch sein Mitgefühl drängte ihn nicht zur unermüdlichen Suche nach diesem Mann, diesem Monster, das verantwortlich für das Verschwinden der Kinder war. Nein, er wollte nichts anderes, als nach Hause zu gehen, dort zu bleiben und ewig bei seinem eigenen Kind zu wachen. Die Welt vergessend, vergessen von der Welt. Bestell deinen eigenen Garten. So etwas wie Gemeinschaft gibt es nicht.
Aber das wäre, so sagte er sich streng, als würde man den massiven Stein wegschrubben und die roten Buchstaben in der Luft hängen lassen.
Seine introspektiven Gedanken hatten ihn per Autopilot durch Danby gebracht, und plötzlich fand er sich vor St. Michael’s Hall wieder. In der Nähe des Haupteingangs war ein Parkplatz für ihn reserviert. Er schmunzelte. Wie erwartet, hatte Wield alles unter Kontrolle.
In der Zentrale empfing ihn wohlgeordnete Aktivität. Detective Sergeant Wield, vor den Kollegen dienstlich korrekt, erhob sich und sagte: »Guten Morgen, Sir.«
»Morgen«, erwiderte Pascoe und dachte, daß wahrscheinlich sogar die Maschinen einer Fabrik glatter liefen, wenn Wield sich blicken ließ. Nicht, daß sein Gesicht etwas Glattes hatte. Aber möglicherweise rührte sein Organisationstalent gerade daher, daß er aussah wie ein Urviech kurz nach dem Urknall.
»Schön, solch einen geschäftigen Bienenstock zu sehen«, fuhr er fort. »Haben wir alles, was wir brauchen?«
»Außer einem Kühlschrank, aber der wird bald geliefert«, antwortete Wield.
»Ein Kühlschrank? Erwarten Sie Gewebeproben?«
»Für kalte Getränke«, erklärte der Sergeant. »Aber ich kann Ihnen Kaffee anbieten. Und da ist eine Nachricht für Sie von Nobby Clark. Ich habe ihn getroffen, als ich kam. Er bestand ausdrücklich darauf, daß ich sie Ihnen persönlich aushändige. Ich glaube, Sie haben einen Fan gewonnen.«
Er sagte es mit unbewegtem Gesicht, wobei Wields Gesicht auch unbewegt recht bewegt aussah, was seiner Unergründbarkeit jedoch keinen Abbruch tat. Allerdings kam diese Bemerkung einer homosexuellen Schäkerei näher als alles andere, was Pascoe je von ihm gehört hatte.
Pascoe öffnete den Umschlag. Darin befand sich ein Stück Papier mit der Aufschrift JED HARDCASTLE.
»Das ist alles?« fragte Pascoe. »Sonst keine Nachricht?«
»Er hat was von Farbe gesagt«, kommentierte Wield und reichte Pascoe einen Becher Kaffee. »Ich hatte das Gefühl, er wollte Ihnen was geben, das Sie aus dem Hut zaubern können.«
»Gott schütze mich vor der Dankbarkeit der Einfältigen«, meinte Pascoe. »Was soll ich jetzt tun? Andy erzählen, ich hätte den Graffiti-Künstler als Jed Hardcastle identifiziert, nur daß ich weder weiß, wer er ist, noch wo er lebt oder sonst irgendwas?«
»Sohn von Cedric und Molly Hardcastle«, informierte ihn Wield. »Bruder von Jenny, dem ersten verschwundenen Mädchen in Dendale. Derzeitige Adresse: Stirps End, Danby.«
»Ach, der Jed Hardcastle«, sagte Pascoe und stöhnte verärgert, daß er trotz seines Studiums der Dendale-Akte nicht darauf gekommen war. Himmel, sein Kopf sträubte sich wirklich, sich mit Fakten auseinanderzusetzen!
Er nippte an seinem Kaffee und sagte: »Also noch eine Verbindung mit dem letzten Mal.«
»Dem letzten Mal?«
»Dendale.«
»Oh. Ist das jetzt offiziell? Daß Dendale das letzte Mal war?«
»Der Dicke scheint es zu denken. Er hat mich die Akte lesen lassen. Und mich gestern abend sogar den ganzen Leichenpfad raufgescheucht.«
»Hat er das? Tja, das klingt ziemlich offiziell.«
»Sie scheinen nicht gerade erfreut darüber.«
»Ich glaube, es ist noch etwas früh, um von diesem Mal und letztem Mal zu reden, das ist alles.«
»Was ist mit diesem Burschen Lightfoot?« bohrte Pascoe. »Sie müssen ihn doch kennen. Was dachten Sie so? Manche Leute hielten ihn wohl für den Dorftrottel, aber ich hab gehört, daß er eigentlich ganz helle war.«
»Oh, der war helle genug. Aber er hatte was Komisches an sich. Als käme er aus einer anderen Welt.«
Eine so unpräzise Angabe war untypisch für den Sergeant.
»Was meinen Sie mit ›andere Welt‹? Himmel? Hölle? Jupiter? Wales?«
»Nein, nicht ganz so weit entfernt«, schmunzelte Wield. »Seine andere Welt war … Dendale.«
»Das verstehe ich nicht«, meinte Pascoe. »Gut, da hat er gelebt, und ich weiß, daß er nach dem Umzug seiner Mutter so unglücklich war, daß er zur Großmutter zurücklief. Aber es gibt viele Menschen, die so sehr an ihrer Heimat hängen, daß man sie mit Dynamit wegsprengen müßte.«
»Aus Dendale hat man sie mit Dynamit weggesprengt«, sagte Wield trocken. »Natürlich war das für die meisten eine Entwurzelung, aber Wurzeln wachsen in ähnlicher Erde wieder an. Die Mehrheit hat sich hier in und um Danby wieder angesiedelt, und soweit man sehen kann, geht es ihnen ja recht gut. Aber der eine oder andere … na ja, seit ich in Enscombe lebe, sehe ich die Menschen und das, was sie ihre Heimat nennen, aus einer anderen Perspektive. Keiner von uns will da weg. Mir geht es zumindest so, und ich wohne noch nicht mal lang genug da, um mein eigenes Gewicht geschissen zu haben, wie man dort sagt. Aber ich kenne Leute, die man bestimmt nicht entwurzeln kann – höchstens auf Bodenhöhe absägen.«
»Und Lightfoot war so einer?«
»Bis zu einem gewissen Grad. Sie kennen doch den Ausspruch ›Hier gehöre ich hin‹. Normalerweise ist es nur eine Redewendung, aber in Lightfoots Fall hat es wortwörtliche Bedeutung. Der Ort besitzt den Menschen sozusagen. Im Guten und im Schlechten. Auf Gedeih und Verderb.«
»Halten Sie ein, Wieldy«, sagte Pascoe, »Sie klauen mir ja den Text. Ich bin doch hier der Mann fürs Metaphysische! Sie sind Mr. Microchip, der Mann mit den spitzen Ohren.«
Wieldy kratzte sich an einem der besagten Organe, die zwar relativ groß, jedoch in keiner Weise spitz waren.
»Das zeigt mal wieder, was das Landleben aus einem machen kann«, meinte er.
Wie vorher bereits Shirley Novello, fand es nun auch Pascoe schwer zu sagen, ob das ein Witz war oder nicht, aber er lachte vorsichtshalber trotzdem. Das Leben war ungewiß genug, auch ohne die Möglichkeit aufkommen zu lassen, daß der urgesteinige Freund einen weichen Kern hatte.
Er sagte: »Aber ich stimme Ihnen zu, daß wir uns auf dieses Mal konzentrieren sollten. Halten wir uns an das, was wir haben. Es gab einige Aussagen über auffällige Fahrzeuge …«
»Darauf hab ich Novello angesetzt«, sagte Wield. »Und vor ein paar Minuten ist das hier für sie durchgekommen. Hat wahrscheinlich mit den Fahrzeugen zu tun, aber sie ist leider nicht hier, um Genaueres zu erklären.«
»O doch, sie ist hier«, sagte Pascoe, der Novello gerade durch die Tür kommen sah. Während sie näherkam, warf er einen Blick auf den Zettel, den Wield ihm in die Hand gedrückt hatte. Es war eine Liste aller grüner Land Rover Discovery, die letztes Jahr im Ort angemeldet worden waren.
»Morgen, Novello«, sagte er.
Dalziel nannte sie Ivor. Pascoe hatte dafür Sorge getragen, daß niemand sonst das tat. Exzentrischen Führern sollte man folgen und sie nicht imitieren, sonst wären auf Lord Nelsons Victory nur einäugige Seeleute in die Schlacht vor Trafalgar gezogen.
»Morgen, Sir«, erwiderte sie und blickte leicht verunsichert auf die Liste in seiner Hand. Pascoe vermutete, daß sie sie gern als erste bekommen hätte, um gleich ihre Erklärung mitliefern zu können. Wie Nobby Clark war auch sie noch in dem Stadium, in dem man dachte, daß aus dem Hut gezauberte Kaninchen die hohen Tiere beeindruckten. Anders als Nobby Clark würde sie diesem Stadium aber vermutlich irgendwann entwachsen. Ihr Gesicht, das zwar nach konventionellen Maßstäben nicht schön zu nennen war, ließ Charakter und Intelligenz erkennen. Seit ihrem Beginn in der Abteilung vor einigen Monaten hatte sie sich gut eingearbeitet, war aber immer noch auf der Hut. Vielleicht war das für weibliche Polizeibeamte aber auch ein Dauerzustand, überlegte Pascoe. Oder war diese Erklärung zu einfach? Konnte er sie nicht irgendwie überzeugen, daß – zumindest hier in Mid-Yorkshire – niemand darauf lauerte, an ihrem Stuhl zu sägen?
»Sie kommen also voran?« fragte er und überreichte das Papier.
Sie überflog es kurz und erklärte, wie sie an die Informationen gekommen war, fuhr dann mit ihrer Geschichte über das Saab Cabrio fort und kam schließlich zu dem Fahrzeug mit überhöhter Geschwindigkeit auf der Straße zum Highcross Moor.
Sie führte die Männer zur Landkarte, die an der Wand hing.
»Geoff Draycott, zweiunddreißig, verheiratet, Pächter des Wornock-Hofs, das ist hier. Er war draußen auf dem Feld, hier, so gegen halb neun, viertel vor neun, als er den Wagen stadtauswärts die Straße rauffahren sah. Er fuhr sehr schnell, deshalb ist er ihm aufgefallen. Allerdings findet er, daß jeder Wagen auf dieser Straße zu schnell fährt. Mit der Ausdehnung des Geschäftsparks wurde die Straße im Laufe der letzten zehn Jahre ausgebaut, und viele Leute benutzen sie mittlerweile als Abkürzung Richtung Norden, um dort auf die Hauptstraße zu kommen, anstatt erst nach Süden und dann nach Osten zu fahren. Der Ausbau umfaßte allerdings keine Einzäunung, und Draycott meint, daß er jedes Jahr wegen der zu schnell fahrenden Autos und Lastwagen einige Schafe verliert.«
»Muß ein starker Motor gewesen sein, wenn er auf der Strecke schnell fahren konnte«, meinte Wield, der die Straßenführung verfolgte.
»Er sagte, es sei ein großer Kombi gewesen, blau, aber er konnte die Marke nicht erkennen und stand im falschen Winkel, um das Nummernschild zu sehen. Er meinte aber, er hätte ihn da oben halten sehen.«
Sie deutete auf eine Straßenbiegung, an der auf der Landkarte ein Aussichtspunkt markiert war.
»Da ist ein kleiner befestigter Parkplatz, der gern für Picknicks benutzt wird. Er hat dort etwas später ein Fernglas aufblitzen sehen, ist aber nicht sicher, ob es derselbe Fahrer war.«
»Bißchen früh für ein Picknick«, meinte Wield. »Sonst noch was?«
»Vorerst nicht, aber als ich Draycott aufspürte, fuhr er einen roten Ford Pick-up. Das ist bei den Bauern in dieser Gegend anscheinend ein beliebtes Fahrzeug – während ich herumfuhr, habe ich noch drei andere gesehen. Und ich habe mir überlegt, ob die Leute hier, wenn sie nach Fahrzeugen gefragt werden, solche oder andere landwirtschaftliche Fahrzeuge möglicherweise gar nicht erwähnen, weil sie ihnen zu vertraut sind, als daß sie ihnen auffallen. Wie der Briefträger bei Chesterton.«
War der für mich? dachte Pascoe amüsiert. Er hoffte nur, daß sie schlau genug war, dergleichen nicht Andy Dalziel gegenüber zu erwähnen, denn der hätte möglicherweise gesagt …
»Der Briefträger? An einem Sonntag? Na, das ist aber eigenartig!«
Die drei fuhren herum. Manchmal kam er angestampft wie eine schnaubende Dampflokomotive, und manchmal schlich er sich so leise an wie ein Leichenwagen, dem er heute in seinem totengräberschwarzen Anzug und dem leichentuchweißen Hemd durchaus hätte folgen können.
»Nein, Sir, ich meinte die Pater-Brown-Geschichte …«, stotterte Novello zur Erklärung.
»Pater Brown? Ich dachte, Sie wären eins von Pater Kerrigans Schäfchen. Man hat Sie doch nicht abgeworben, oder?«
Zeit für eine Rettungsaktion.
»Novello hat gerade versucht, uns eine Theorie zu erläutern, Sir«, sagte Pascoe also. »Und zwar eine recht interessante. Aber fangen wir erst einmal mit dem an, was wir haben, ja?«
Er faßte Novellos Ergebnisse kurz zusammen. Der Dicke gab sich wenig beeindruckt.
»Ein blauer Kombi, der zu schnell fährt? Diese blöden Bauern denken doch schon, man fährt zu schnell, wenn man bloß ihren Trecker überholt! Und wenn er so schnell weg will, warum hält er dann oben am Berg an? Und dieser weiße Saab stand dick und breit auf freier Fläche, oder? Am Rand der Gemeindewiese, damit alle ihn seh’n können. Nicht grade unauffällig, oder?«
»Der Discovery stand ziemlich versteckt«, sagte Pascoe.
»Außer für drei Dutzend Hundebesitzer, die da mit ihren Kötern Gassi gehen«, schnaubte Dalziel. »Ich hab Ihnen gestern abend doch gesagt, daß es ein Vierradantrieb gewesen sein muß, oder?«
»Um exakt zu sein, Sir, ich glaube, daß ich Ihnen das gesagt habe.« Er will das alles gar nicht hören, dachte Pascoe dabei, denn er hat sich auf diesen verdammten Benny Lightfoot versteift. »Aber wir haben eine Liste mit Namen und müssen sie überprüfen …«
»Na klar, treiben Sie die Rechnung für Überstunden nur in die Höhe«, brummte Dalziel düster. »Mein Boß wird mich abknutschen.«
Von jemandem, dem Polizeibudgets und die Zuneigung des Chief Constable gleichermaßen egal waren, klang diese Bemerkung so unglaubwürdig wie die Entrüstung eines Politikers.
»Aber ein Name auf dieser Liste könnte Sie interessieren, Sir«, meinte Wield.
Er stieß mit dem Finger auf das Ende der Liste. Pascoe sah dem Dicken über die Schulter.
Walter Wulfstan.
Schon wieder dieser Name. Pascoes Blick wanderte zu dem Konzertplakat, das unter dem mittlerweile mit Polizeidokumenten vollgepinnten Schwarzen Brett gerade noch sichtbar war.
Das Eröffnungskonzert des Mid-Yorkshire Dales Musikfestivals: Elizabeth Wulfstan singt die »Kindertotenlieder«. Eine an diesem Ort und zu diesem Zeitpunkt nicht gerade glückliche Wahl.
Ihm fiel ein, daß dieser Ort buchstäblich dieser Ort war. Hatte irgend jemand den Konzertleuten schon gesagt, daß ihr Konzertsaal in Beschlag genommen worden war?
Da er sah, daß Dalziel nun bereits zum zweiten Mal binnen zwei Tagen von diesem Namen aus der Vergangenheit in den Bann gezogen wurde, wandte Pascoe sich mit seinen Bedenken an Wield.
»Der Sekretär des Gemeinderats war heute schon ganz früh hier«, berichtete der Sergeant. »Ich sagte ihm, er müsse für diese Woche alle Termine absagen. Was nächste Woche angeht – abwarten.«
»Er war sicher nicht sonderlich erfreut.«
»Seine genauen Worte waren eigenartigerweise, Mr. Wulfstan werde darüber nicht erfreut sein. Anscheinend ist das der Vorsitzende des Festkomitees.«
»Ach, macht er das jetzt wieder?« fragte Dalziel, der selbst in gebanntem Zustand niemals taub wurde.
»Wieder?« fragte Pascoe.
»Nach der Dendale-Geschichte ist er ganz aus Yorkshire weggezogen. Wollte wohl alles hinter sich lassen. Hat sein Haus in der Stadt verkauft, die Geschäftsführung seinen Partnern überlassen und sich dann im Süden als internationaler Vertreter niedergelassen, der sich um die gesamten europäischen Verbindungen kümmert, die Räder ölt, sozusagen. Spricht gut deutsch und französisch, heißt es. Muß gut verdient haben. Sieben, acht Jahre später will er die Firma vergrößern und baut auf einem Wiesengrundstück außerhalb von Danby. Das war der Anfang von diesem komischen Forschungs- und Industriepark. Viel Euro-Knete, heißt es, und das meiste bleibt bei Wulfstan hängen. Und schließlich zieht er wieder in die Stadt. Kauft ein Haus im Glockenviertel. Holyclerk Street.«
»Glockenviertel« bezog sich auf die teuerste Wohngegend der Stadt rund um die Kathedrale.
»Wie nett«, meinte Pascoe.
»Tja, da können wir nur weiterhin fleißig Lotto spielen«, entgegnete Dalziel. »Ivor, rufen Sie doch bitte in Wulfstans Firma an und fragen Sie, ob er da ist. Wenn ja, werd ich mal vorbeischaun und mit ihm reden.«
»Da stehen noch andere Namen auf der Liste, Sir«, sagte Pascoe.
»Nee, das war bestimmt sein Wagen«, meinte Dalziel wegwerfend. »Was’n los, Mädchen? Sie wissen doch wohl, wie man ein Telefon benutzt?«
Novello, die nicht von der Stelle gewichen war, fragte: »Wie heißt denn die Firma, Sir?«
»Ach, irgendwas Komisches. Helioponics oder so. Ja, Helioponics. Da braucht man ja drei Doktortitel, um zu versteh’n, was das bedeuten soll.«
»Klingt für mich wie eine Ad-hoc-Bildung analog zu Hydroponik«, sagte Pascoe.
»Ad-hoc-Bildung, so so? Meine Güte, diese Siebengescheiten haben wirklich ihre eigene Sprache.«
Wield griff ein, bevor das Ganze lächerlich wurde und sagte: »Ich glaube, sie haben mit Sonnenkollektoren für den Hausgebrauch angefangen, und jetzt stellen sie alle möglichen Arten alternativer Energiequellen her.«
»Mein Gott, Wieldy, haben Sie da Aktien, oder was?«
Wield machte ein unschuldiges Gesicht. Zu Recht, denn tatsächlich war es Edwin, der die Aktien besaß. Offenheit in finanziellen Dingen war eine ihrer ungeschriebenen partnerschaftlichen Vereinbarungen. »Wenn du weißt, wie arm ich bin«, hatte Digweed gesagt, »wirst du nicht ständig erwarten, daß ich auch nur die Hälfte all dieser teuren Auslandsurlaube bezahle, die deine Gaunerfreunde dir zweifellos in ihren Bermuda-Villen subventionieren.«
»Sir«, rief Novello vom Telefon aus. »Mr. Wulfstan war in der Firma, ist aber gerade nach Hause aufgebrochen. Anscheinend mußte er da eine Krisensitzung einberufen, wegen eines neuen Konzertsaals für das Festival oder so was.«
»Scheint ruhiger geworden zu sein«, meinte Dalziel. »Früher wär er hier einfach reingestürmt und hätte uns alle zur Minna gemacht. Gut, um Wulfstan kümmere ich mich. Pete, was haben Sie vor?«
»Ich muß Clark finden. Er hat vielleicht eine Spur zu diesem Fassadenschmierer.«
»Tatsächlich? Tja, der ist oben am Berg mit Maggie Burroughs. Komme grade von da. Sie hat die Suche gut im Griff, also versuchen Sie nicht den Eindruck zu erwecken, daß Sie nachkontrollieren wollen. Ich weiß doch, wie trampelig Sie manchmal sein können. Wieldy, Sie halten hier alles am Laufen, bis George Headingly sein häßliches Gesicht zeigt. Dann seh’n Sie zu, daß Sie was Sinnvolles tun. Sonst noch was?«
»Sir, soll ich an den Fahrzeugen dranbleiben? Ich hab da ein paar Ideen«, sagte Novello.
»Ideen? ’n hübsches junges Ding wie Sie sollte keine Ideen haben«, fertigte Dalziel sie ab. »Nee, lassen Sie’s dabei. Hat schon jemand mit den Kindern aus Lorraines Klasse gesprochen?«
»Noch nicht«, antwortete Wield. »Mrs. Shimmings wollte den Unterricht erst einmal in Ruhe angehen lassen.«
»Ich glaub zwar nicht, daß es was bringt, aber irgend jemand muß es machen. Das ist Ihr Job, Ivor. Ab mit Ihnen, husch, husch.«
Novello drehte sich abrupt um und ging durch die Tür, ehe man ihr die Entrüstung ansehen konnte.
»Sie hat ihre Sache gut gemacht«, bemerkte Pascoe neutral.
»Sie hat ihre Arbeit gemacht«, knurrte Dalziel.
Pascoe sah zu Wield, der sich das Kinn rieb.
»Ach du meine Fresse«, stöhnte der Dicke.
Er trat an ein offenes Fenster und bellte: »Ivor!«
Novello drehte sich um.
»Sie haben Ihre Sache gut gemacht«, rief Dalziel.
Wieder zu den anderen gewandt, sagte er: »Bitte sehr. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, daß Sie beide mich den ganzen Tag lang antriefen, als hätte ich Ihr Kätzchen ertränkt. Können wir denn jetzt alle losgeh’n und das tun, wofür wir bezahlt werden? Oder braucht ihr noch einen fetten Schmatz von Muttern, um in die Gänge zu kommen?«