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Nur für Anwohner mit Parkschein« stand an Anfang und Ende der Holyclerk Street.
Dalziel scherte knapp vor einer älteren Dame in eine Parklücke ein. Die Frau starrte erbost auf seine Windschutzscheibe, um den Parkausweis zu kontrollieren, sah keinen und schickte sich an, aus ihrem Wagen zu steigen. Dann erblickte sie das breite Gesicht, das sie mit der Güte eines Buddhas beobachtete, fühlte ihre Wut verpuffen und fuhr weiter.
Wäre sie ihrer ersten Eingebung gefolgt und hätte Dalziel ein brennendes Streichholz in den Tank geworfen, wäre das in dieser Straße nichts Neues gewesen. Es gab nur wenige menschliche Schwächen und Gelüste, die die Holyclerk Street im Laufe der Jahrhunderte nicht erlebt hatte.
Ihr Name verband die Straße mit der großen Kathedrale, die über den Wohnhäusern aufragte wie ein Ozeanriese neben einer Flotte Fischerboote. Sie befand sich im Glockenviertel, was bedeutete, daß jeder, der beim ersten Glockenschlag eines Gottesdienstes das Haus verließ, spätestens beim letzten seinen Platz in der Kirchenbank erreichte. Heutzutage kostete ein Haus im Glockenviertel normalerweise mindestens zwanzig Prozent mehr als ein Haus ohne Glockenruf, aber so war es nicht immer gewesen.
Die ursprünglich mittelalterliche Straße mit dem Priesterseminar, das ihr den Namen gegeben hatte, war unter der Regierung von Queen Anne fast vollständig verfallen und verkommen. Die Fachwerkhäuser waren in bedrohliche Schräglage geraten und so oft geflickt und gestützt worden, daß sie aussahen wie eine Reihe betrunkener Veteranen bei der Rückkehr aus einem verheerenden Krieg. Keiner Person von Rang oder Namen wäre es auch nur im Traum eingefallen, hier zu wohnen, und so waren die Gebäude zu üblen Spelunken, verlausten Gasthäusern und billigen Bordellen heruntergekommen.
Daß solch ein städtisches Geschwür nur einen Steinwurf von der Kathedrale entfernt wuchern konnte, wurde von manchem braven Bürger als Beleidigung sowohl gegen Gott als auch den Menschen erachtet. Da jedoch eine nicht unerhebliche Anzahl besagter braver Bürger Eigentümer jener Häuser und an deren Profiten beteiligt war, schob der Mensch die Heilung so lange hinaus, bis Gott ungeduldig wurde. Nachdem er sich vergewissert hatte, daß der Wind günstig stand, ließ er in einer dunklen Septembernacht eine betrunkene Dirne und ihren altersschwachen Kunden auf der Treppe zu ihrem modrigen Lager straucheln und ihre Fackel wie einen Meteoriten durch ein Loch in den verrotteten Dielen bis in den Keller hinunter fallen, wo sie in einem offenen Faß illegalen Branntweins landete.
Das so entfachte Feuer hinterließ einen Schandfleck aus Asche, der viele Jahre lang als sichtbarer Beweis für den Zorn Gottes angesehen wurde. Doch als allmählich eine Barackensiedlung mit irischem Markt entstand, kamen die Stadtväter dieses Mal Gott zuvor, indem sie das Gebiet von allen unerwünschten Gebäuden und Gestalten säuberten und Häuser entwerfen ließen, die den kirchlichen Würdenträgern würdig waren.
Diese eleganten Residenzen waren es nun, auf die Dalziels unbeeindrucktes Auge fiel. Er wußte wenig über mittelalterliche Geschichte und Feuersbrünste im achtzehnten Jahrhundert, aber er hatte die Epoche selbst erlebt, in der die Reichen ihren Reichtum durch Stadtflucht demonstrierten und dadurch Wohngegenden wie die Holyclerk Street in Studentenwohngemeinschaften und kurzfristig vermietete Büroräume zerfallen ließen. Doch die Kirche hatte ihren finanziellen Einfluß geltend gemacht, die Häuser gekauft und renoviert und dann einen Riesengewinn gemacht, als eine äußerst erfolgreiche Fernsehfassung der Barchester-Romane ein neues romantisches Licht auf Kirchgassen warf und das Wohnen im Glockenviertel wieder als schick galt.
Die Sonne ergoß ihr gleißendes Licht mitten auf die Straße, so daß kein Schatten zu finden war. Dalziel geriet in Versuchung, dem Beispiel des Wagenbesitzers zu folgen, der neben ihm sein weißes Cabriolet mit offenem Verdeck geparkt hatte und eine teure Hifi-Anlage zur Schau stellte. In dieser kirchlichen Umgebung war solches Vertrauen sicher gerechtfertigt. Er kurbelte das Fenster einen Spalt breit hinunter, ging ein paar Schritte, erinnerte sich plötzlich an einen Artikel über Veruntreuung von Kirchengeldern und kehrte zurück, um das Fenster bis zum Anschlag hochzukurbeln.
Als er dabei zum zweiten Mal an dem weißen Cabrio vorbeiging, bemerkte er, daß es ein Saab 900 war, Eigentum eines britischen Autoverleihs. Der Anwohner-Parkschein war befristet und auf Holyclerk Street Nummer 41 ausgestellt. Das Haus der Wulfstans.
Dalziel blickte zum Kirchturm hinauf, nickte beifällig und marschierte weiter.
Am Haus Nummer 41 lehnte er sich eine gute Sekunde auf die Türklingel, trat einen Schritt zurück und wartete.
In den frühen Zeiten dieser Nobelbehausungen, so vermutete er, waren die Türen sicher von Dienstmädchen mit Haube und Schürze geöffnet worden, aber heutzutage gab es Hausangestellte nur noch selten. Wahrscheinlich deshalb, weil die Leute, die solche Arbeit nötig hatten, nicht vor den Leuten zu buckeln bereit waren, die solche Arbeit vergeben konnten.
Die Frau, die ihm nun die Tür öffnete, erkannte er sofort wieder, obwohl es fünfzehn Jahre her war, daß sie sich zuletzt gesehen hatten.
Und an ihrem Gesicht sah er, daß auch sie ihn wiedererkannte.
»Mr. Dalziel«, sagte Chloe Wulfstan.
Das Alter hatte sie nicht sehr verändert. Tatsächlich wirkte sie viel jünger als beim letzten Mal, aber das war kaum verwunderlich. Damals hatte die Nachricht über den Tod der Tochter ihr nicht nur das Blut aus dem Gesicht weichen lassen, sondern ihren gesamten Körper ausgezehrt. Doch Dalziel hatte sie nie weinen sehen, und irgendwie wußte er, daß sie auch im stillen nie geweint hatte. Sie hatte all ihre Kraft zusammengenommen, um weiterleben zu können, auch wenn sie dazu alles Leid in ihrem Innern einschließen mußte.
Zu lamentieren hatte keinen Sinn.
Er sagte: »Es tut mir leid, Sie zu stören, Mrs. Wulfstan. Sie haben sicher von dem Mädchen gehört, das in Danby vermißt wird.«
»Es kam im Radio«, antwortete sie. »Und in der Zeitung heute morgen. Gibt es etwas Neues?«
Ihr Stimme war ruhig, formell und höflich, als wäre er der Vikar, der zum Tee eingeladen wurde. Dalziel erinnerte sich, daß man vor fünfzehn Jahren noch einen kleinen Akzent in ihrer Stimme hatte heraushören können, einen Hinweis auf ihre ländliche Herkunft. Sie hatte gebildet geklungen, aber eben auch wie ein Mädchen aus Mid-Yorkshire. Inzwischen war das ganz verschwunden. Sie hätte ein aktuelles Frauenmagazin im Fernsehen moderieren können.
Über ihre Schulter hinweg sah er den Hausflur mit Drucken musikalischer Szenen an den Wänden. Die breite Treppe hinunter erklangen Klaviertöne und der Gesang einer Frau.
»When your mother dear to my door draws near,
And my thoughts all centre there to see her enter
Not on her sweet face first of falls my gaze
But a little past her …«
Es ertönte eine Dissonanz, als hätte jemand mit der ganzen Hand auf die Tastatur geschlagen, und eine Männerstimme sagte: »Nein, nein. Zuviel, zu früh. An dieser Stelle versucht er immer noch, ganz ruhig zu bleiben, ganz rational im Hinblick auf sein irrationales Verhalten.«
Diese Stimme. Dalziel glaubte sie zu erkennen. Eigentlich beide Stimmen. Die Frau hatte er gestern morgen bei den Pascoes im Radio singen hören. Auch diese verdammten Lieder. Er erinnerte sich an das erste Mal, da er sie gehört hatte … Doch er konzentrierte sich wieder auf die Männerstimme. Dieses allzu perfekte Englisch. Das war bestimmt dieser Smörebröd. Obwohl Wield ihn immer wieder darauf hingewiesen hatte, daß Arne Krog Norweger und kein Schwede war, hatte Dalziel den dummen Spitznamen beibehalten. Dieser gelackte Pinsel hatte einst gewagt, sein Englisch zu korrigieren, und Dalziel war kein Gott der Vergebung.
»Mr. Dalziel?« riß Chloe Wulfstan ihn aus seinen Gedanken.
Er merkte, daß er ihre Frage nicht beantwortet hatte.
»Nein. Nix Neues«, sagte er.
»Das tut mir leid. Wie geht es … nein, das brauche ich nicht zu fragen.«
»Den Eltern? Wie zu erwarten. Die Mutter kennen Sie wahrscheinlich. Stammt auch aus Dendale. Elsie Dacre, geborene Coe.«
»Margaret Coes Tochter? Ach nein! Margaret war letztes Jahr sehr krank. Ihre Genesung war wie ein Wunder. Jetzt frage ich mich, ob es nicht ein Fluch war. Ist es schlecht, so etwas zu sagen, Mr. Dalziel?«
Er zuckte gleichmütig mit den Schultern. Daß er nicht gewillt war zu urteilen, bedeutete allerdings nicht, daß er sich nicht für kompetent hielt.
Nachdenklich fuhr sie fort: »Ich hatte mich daran gewöhnt, schlimme Dinge zu denken, wissen Sie. Wenn ich die mitleidigen Gesichter sah, von Frauen wie Margaret Coe, dann dachte ich immer: im Grunde bist du doch froh, daß es mich getroffen hat und nicht dich – daß meine Mary verschwunden ist und nicht deine Elsie oder …«
Sie hielt inne, als habe sie jemand an ihre Pflichten als Gastgeberin erinnert, und sagte abrupt: »Wollten Sie Walter sprechen, Mr. Dalziel? Er ist da, aber mitten in einer Besprechung wegen des Festivals. Sie müssen einen neuen Saal für das Eröffnungskonzert finden … aber das wissen Sie natürlich. Es ist sehr unhöflich von mir, Sie hier auf der Türschwelle stehen zu lassen. Kommen Sie doch herein. Ich werde ihm sagen, daß Sie hier sind.«
Dalziel trat ins Haus. Es war eine Erleichterung, der direkten Sonnenbestrahlung zu entfliehen, aber selbst mit rundum geöffneten Fenstern folgte die Hitze ihm nach.
Man sollte meinen, daß jemand, der mit Sonnenenergie sein Geld verdient, eine Klimaanlage installiert hätte, dachte Dalziel mißmutig.
Chloe Wulfstan klopfte leise an eine Tür, öffnete sie und schlüpfte ins Zimmer.
Bei seinem kurzen Blick in den Raum, ein altmodisches Arbeitszimmer mit Eichenpaneel, erspähte Dalziel drei Personen, eine von vorn, eine im Profil und eine nur von hinten in einem Lehnstuhl. Beim Anblick dieses Hinterkopfes spürte er, wie sich einen Augenblick lang etwas in ihm zusammenzog – sein Magen, sein Herz, es war anatomisch nicht genau zu orten, aber es war ein Gefühl, das er schon sehr lange nicht mehr empfunden hatte.
Die Tür öffnete sich wieder, und Mrs. Wulfstan kam heraus. In der oberen Etage hatte erneut das Klavier eingesetzt.
»But a little past her seeking something after
There where your own dear features would appear
Lit with love and laughter …«
Die Frau im Lehnstuhl hatte den Kopf gedreht und sah zur Tür. Ihre Blicke trafen sich. Dann schloß sich die Tür abermals.
»Wenn Sie ihm wohl eine Minute Zeit geben könnten«, sagte Chloe Wulfstan entschuldigend. »Dann kann er die Besprechung beenden, und die anderen Komiteemitglieder müssen nicht warten, während er mit Ihnen redet. Hier hinein, bitte.«
Sie führte ihn in ein Wohnzimmer im hinteren Teil des Hauses, in dem die weit geöffneten Terrassentüren auf einen langen Garten hinausführten, dessen Rasen die Dürre deutlich anzusehen war.
»Es ist natürlich eine Versuchung«, sagte sie, als sie seinen Blick bemerkte. »Aber ich fürchte, wir sind alle zu Wasserwächtern geworden, und wenn irgend jemand findet, daß unser Rasen ein wenig zu grün aussieht … Ist ja auch richtig so. Nur, wenn man überlegt, daß wir Dendale verließen, um für alle Zeiten genug Wasser zu haben … da kommt man schon ins Grübeln, oder?«
Ihre Stimme klang nun höflich und heiter.
»Ja, das stimmt«, antwortete er. »Der Stausee ist fast ganz ausgetrocknet. Sind Sie jemals wieder hingegangen und haben es sich angesehen, Mrs. Wulfstan?«
»Nein. Noch nie, Mr. Dalziel.«
Er musterte sie einen Augenblick, während er an seiner dicken Unterlippe zog. Es wirkte wie ein skeptischer, abschätzender Blick, doch in Wahrheit sah er durch sie hindurch ein ganz anderes Gesicht.
»Möchten Sie etwas Kaltes trinken?« fragte Chloe Wulfstan.
»Was? Ja, das wäre nett«, erwiderte er. »Ach, übrigens, der Wagen da draußen, der weiße Saab mit …«
»Der gehört Arne. Erinnern Sie sich noch an ihn? Arne Krog, der Sänger. Er wohnt das Festival über bei uns. Inger auch. Seine Klavierbegleitung. Sie wohnt auch hier.«
»Na klar. Wo sie ihn doch begleitet«, sagte Dalziel. Er lächelte, um zu zeigen, daß er einen Scherz hatte machen wollen, aber sie sah ihn nur leicht verwirrt an und verließ das Zimmer.
Alte Gewohnheiten lassen sich nur schwer ablegen, und Dalziel begann sofort, den Raum zu durchwandern, die Schriftstücke in einem geöffneten Sekretär zu überfliegen, die eine oder andere Schublade aufzuziehen. Aber er war nicht ganz bei der Sache. Über ihm war das Klavier erneut verstummt, und er hörte wiederum ein hitziges Wortgefecht. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen, und eine große schlanke Frau kam ins Zimmer. Sie trug eine schwarze Hose und ein schwarzes T-Shirt, was ihre blasse Haut und die hellen langen Haare noch betonte. Als sie Dalziel erblickte, blieb sie abrupt stehen und betrachtete ihn ungerührt aus schiefergrauen Augen. Im Vergleich zu ihrem restlichen Körper, der wohl um die zwanzig war, erschienen diese Augen irgendwie alterslos.
Er zählte zwei und zwei zusammen und sagte: »Wie geht’s, Miss Wulfstan? Ich bin Detective Superintendent Dalziel.«
Falls er gedacht hatte, daß sein Scharfsinn sie beeindruckte, so wurde er enttäuscht. Wenn überhaupt, dann schien sie lediglich amüsiert, und ein schwaches Lächeln erhellte ihr regloses Gesicht wie der erste Sonnenstrahl einen Bergsee.
»Wie geht’s, Superintendent? Kümmert sich wer um Sie, oder sind Sie grad erst reingewalzt?«
Einen Moment lang dachte er, sie wolle ihn verarschen, weil sie seinen Dialekt nachahmte. Ehe er sich zwischen der verblümten (Rauhen Hals vom Singen, Herzchen?) und der unverblümten Retourkutsche (Aus Ihnen könnte noch ’ne nette Frau werden, wenn Ihr Hirn mal so reif ist wie Ihre Titten!) entscheiden konnte, trat eine andere Frau in den Raum, ebenfalls blond, jedoch kleiner, kräftiger gebaut und etwa zwanzig Jahre älter.
Sie sagte: »Sind wir fertig? Wenn ja, dann lege ich mich ein bißchen in die Sonne.«
»Wieso fragst du mich, Herzchen? Ich bin’s nicht, die hier den ganzen Radau veranstaltet. Am besten, du fragst den Herrn und Meister. Ihn, der alles weiß!«
Der Yorkshire-Akzent. Also war es doch keine Veräppelung gewesen. Dalziel war erleichtert, daß er nichts erwidert hatte, aber nur ein bißchen. Verlegenheit stand nicht sehr weit oben auf seiner Liste der schmerzlichen und sträflichen Eigenschaften.
»Arne wird dir helfen, solange du seine Hilfe willst«, erwiderte die andere.
Es war Inger Sandel, die Pianistin. Sie hatte in den fünfzehn Jahren ein wenig zugenommen, und Dalziel hätte ihr Gesicht wohl nicht mehr erkannt. Aber die Stimme mit dem harten skandinavischen Akzent kitzelte seine Erinnerung. Nicht, daß sie vor all den Jahren viel gesprochen hätte. Das hatte nichts mit der fremden Sprache zu tun gehabt. Wenn man vom Akzent einmal absah, war ihr Englisch nämlich exzellent. Es war nur so, daß sie nie mehr sagte, als die Situation erforderte. Vielleicht hob sie sich alle ausdrucksvolle Kraft für ihr Spiel auf, aber selbst in dieser Hinsicht hatte sie sich nur für eine Rolle als Begleitung entschieden. In seinem Kopf hörte er die Stimme, die zu dem am Türrahmen spähenden Gesicht gehörte, sagen: »Bei einem Liederabend sind Pianist und Sänger gleichberechtigte Partner.« Aber für Andy Dalziel war der begleitende Musiker trotzdem nur jemand, der einen lenkenden Rhythmus lieferte, während die Jungs an der Bar ihre Liebe zu Annie Laurie hinausbrüllten oder ihren Haß gegen Adolf Hitler.
»Hilfe?« rief Elizabeth Wulfstan. »Ewiges Herumnörgeln nennst du also Hilfe, oder wie?«
Sie klang kaum aufgebracht, und es hörte sich an wie eine echte Frage.
»Ich denke, du kannst dich glücklich schätzen, jemanden mit Arnes Erfahrung zu haben, der dich berät«, entgegnete Inger nüchtern.
»Findest du? Tja, wenn er so verdammt gut ist, warum singt er dann nicht in der verdammten Scala?«
»Weil Mid-Yorkshire um diese Jahreszeit um einiges kühler ist als Mailand, oder zumindest war das früher einmal so«, sagte Arne Krog, dessen perfektes Timing Dalziels Meinung nach vermutlich daher rührte, daß er im Flur gelauscht und auf ein passendes Stichwort gewartet hatte. Wichser. Aber man konnte nicht leugnen, daß der Smörebröd immer noch gut aussah. Ein wenig voller überall, aber immer noch diese geschmeidigen Bewegungen, dasselbe gutaussehende Gesicht mit dieser Spur stiller Amüsiertheit um den Mund, die Dalziel einst zur Weißglut gebracht hatte.
Beim Anblick des dicken Detective wurde dieses Gesicht allerdings ganz und gar ernst, und Arne Krog kam mit ausgestreckter Hand auf ihn zu. »Mr. Dalziel, wie geht es Ihnen? Es ist lange her.«
Sie gaben einander die Hand.
»Schön, Sie zu seh’n, Mr. Krog«, sagte Dalziel. »Tut mir nur leid wegen der Umstände. Sie haben wahrscheinlich gehört, daß seit gestern in Danby ein kleines Mädchen vermißt wird. Wir sprechen mit möglichen Zeugen.«
»Und da sind Sie zu mir gekommen«, meinte Krog nickend, als wolle er etwas bestätigen, das er bereits erwartet hatte. »Ja, natürlich, ich war gestern in Danby, aber ich glaube nicht, daß ich Ihnen helfen kann. Aber bitte, stellen Sie Ihre Fragen. Vielleicht habe ich etwas gesehen, dessen Bedeutung mir nicht bewußt ist.«
Dalziel war von seiner Offenheit wenig beeindruckt. Sein Auto dick und breit gleich neben dem Ort des Verbrechens abzustellen konnte Unschuld, aber auch Impulsivität bedeuten. Und während man zunächst die Hoffnung hegte, man könnte vielleicht doch nicht gesehen worden sein, war es natürlich das schlaueste, es beim ersten gegenteiligen Anzeichen sofort zuzugeben.
Er sagte: »Das ist gut möglich. Sie haben am Rande des Ligg Common geparkt, stimmt das?«
Er hatte sich blitzschnell entschieden, ihn in Anwesenheit der beiden Frauen auszufragen. Das machte die Sache zwangloser, weniger bedrohlich. Außerdem bekam Krog dadurch ein Publikum, das ihn sehr viel besser kannte als Dalziel. Obwohl wenig Aussicht bestand, daß ein in Auftritten derart geübter Mann Lampenfieber bekam, so konnte es doch sein, daß seine Zuhörer bei Anzeichen von Schauspielerei aufmerksam wurden und auffällig reagierten.
Keine der Frauen machte Anstalten, den Raum zu verlassen.
»Das ist richtig.«
»Warum?«
Viele Leute hätten jetzt Erstaunen gezeigt oder gespielt und ihn gebeten, deutlicher zu werden. Nicht so Krog.
»Ich war unruhig gestern morgen und fühlte mich beengt durch die Hitze und die Stadt. Also fuhr ich hinaus aufs Land. Ich hatte Lust auf einen Spaziergang, irgendwo allein und in frischer Luft, so daß ich meine Lungen freisingen könnte, ohne daß ich jemanden erschrecke, außer vielleicht ein paar Schafe. Ich fuhr nach Danby, weil ich die Landschaft dort kenne. Schon mehrmals habe ich in der St. Michael’s Hall gesungen, und ich gehe immer gern eine Runde spazieren, bevor ich auftrete.«
Das war sehr ausführlich, dachte Dalziel.
Er warf einen kurzen Blick auf Elizabeth Wulfstan. Da war etwas an ihr, das ihn beunruhigte. Vielleicht diese alten Augen in dem jungen Gesicht?
Er sagte: »Was ist mit Ihnen, Herzchen? Geh’n Sie auch gern allein spazieren, bevor Sie auftreten?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nur in Begleitung und wenn ich angesäuselt bin.«
»Und Sie, Miss?«
»Nein. Ich bewege mich aus Gründen der Notwendigkeit und nicht der Erholung«, antwortete Inger Sandel.
Dalziel wandte sich wieder an Krog.
»Wohin sind Sie denn gegangen?«
»Über die Gemeindewiese, nach rechts – Osten ist das wohl? Ich habe keinen besonders guten Orientierungssinn.«
»So. Nach Osten. Also nicht den Berg rauf?«
»Nein. Eigentlich hatte ich vorgehabt, dort hinaufzugehen, aber als ich aus dem Auto stieg und merkte, wie warm es ist, beschloß ich, in die andere Richtung zu gehen. Da ist Weideland mit ein paar Bäumen, keine großen Wälder, aber zumindest etwas Schatten. Das kleine Mädchen ist den Berg hinaufgegangen? Jetzt wünschte ich, ich hätte es auch getan. Vielleicht hätte ich …«
Chloe Wulfstan kam mit Dalziels kaltem Getränk ins Wohnzimmer zurück. Als sie es ihm reichte, machte Krog hinter ihrem Rücken eine kleine Kopfbewegung, um ihm zu verstehen zu geben, er möge mit seiner Befragung erst nach ihrem Verlassen fortfahren.
Doch Dalziel ignorierte seine Bitte und sagte nach einem Schluck frisch gepreßter Limonade: »Das ist wunderbar, meine Liebe. Also, Sie haben nix geseh’n, Mr. Krog?«
»Natürlich habe ich etwas gesehen: den Himmel und die Erde und die Bäume, und ich hörte Vögel und Schafe und Insekten. Aber soweit ich mich erinnern kann, habe ich keinen anderen Menschen gesehen oder gehört. Tut mir leid.«
»Ist schon gut. Natürlich haben Sie auch den Neb geseh’n, oder?«
»Was?«
Zum ersten Mal schien er um eine Antwort verlegen.
»Den Neb. Da Sie auf der gegenüberliegenden Seite des Tals waren, konnten Sie ihn eigentlich nicht überseh’n, würd ich meinen. Sie haben nicht etwa dran gedacht, den Leichenpfad raufzuspazieren und auf Dendale runterzugucken?«
Er sprach immer noch über Chloe Wulfstans Schulter hinweg. Mrs. Wulfstan starrte ungerührt auf sein Gesicht.
»Nein, das habe ich nicht«, erwiderte Krog verärgert. »Ich habe Ihnen gesagt, was ich tat, Mr. Dalziel. Wenn Sie noch weitere Fragen haben, so denke ich, daß die allgemeine Höflichkeit, wenn nicht gar der Anstand gebietet, daß Sie diese andernorts stellen.«
»Herrschaftszeiten! Ich glaub, Sie sprechen besser Englisch als die meisten Engländer, Mr. Krog«, sagte Dalziel und blinzelte Elizabeth Wulfstan heimlich zu. Dafür erntete er wiederum ein kurzes schwaches Lächeln.
Chloe Wulfstan sagte: »Wenn Sie hier fertig sind, Superintendent … Walters Besprechung ist beendet. Er dachte, Sie würden vielleicht lieber allein mit ihm reden. Wenn Sie also so nett wären, in sein Arbeitszimmer zu gehen …«
»Danke, meine Liebe«, meinte Dalziel. Er leerte seine Limonade, gab ihr das Glas zurück, nickte den anderen Frauen freundlich zu und verließ den Raum.
Arne Krog folgte ihm.
»Wollen Sie Walter auch wegen des Mädchens befragen?«
»Möglich«, entgegnete Dalziel.
»Meinen Sie wirklich, die Sache hat etwas mit Dendale zu tun, nach all den Jahren?«
»Sollte ich Grund dazu haben?«
»Ich bin gestern nach Danby gefahren, wie Sie wissen. Und ich habe diesen Spruch auf der Eisenbahnbrücke gelesen«, meinte Krog düster. »In dem Moment habe ich mir nichts dabei gedacht. Graffiti ist heutzutage wie Werbung. Man sieht die Worte, ohne die Botschaft zu registrieren, jedenfalls nicht bewußt. Aber später, als ich hörte …«
»Man darf keine voreiligen Schlüsse ziehen«, erwiderte Dalziel mit der gütigen Autorität eines Mannes, der im Laufe seines Lebens bereits mehr voreilige Schlüsse gezogen hatte, als in seinem Beruf nützlich war.
»Natürlich, da haben Sie recht. Aber ich bitte Sie, denken Sie an Chloe, ich meine Mrs. Wulfstan. In diesem Haus versuchen wir, alles zu vermeiden, was sie an jene schreckliche Zeit erinnern könnte.«
Er sprach mit deutlich anklagendem Tonfall.
»Wie nobel«, sagte Dalziel. »Aber reine Zeitverschwendung.«
»Wie bitte?«
»Sie glauben doch nicht, daß in den letzten fünfzehn Jahren auch nur ein Tag vergangen ist, an dem sie nicht an ihre Tochter gedacht hat. Wenn so was passiert ist, dann reicht allein das Aufwachen, um sich dran zu erinnern.«
Er sprach mit großem Nachdruck, und Krog sah ihn neugierig an.
»Bei Ihnen auch, Superintendent? Ich glaube, Sie denken auch immer daran.«
»Ja, klar. Aber nicht jeden Tag. Und nicht wie sie. Ich hab nur ’nen Verdächtigen verloren, keine Tochter.«
»Tja, ich glaube, wenn Sie die verloren hätten, hätten Sie Ihren Verdächtigen behalten«, sagte Krog und machte eine scharfe Bewegung mit der Handkante.
»Für einen Ausländer sind Sie ganz schön vorlaut, Mr. Krog«, entgegnete Dalziel und öffnete die Tür zum Arbeitszimmer.