172323.fb2 Das Dorf der verschwundenen Kinder - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 22

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Sieben

Peter Pascoe hatte sein Bestes versucht, Inspector Maggie Burroughs zu mögen, doch es wollte ihm nicht so recht gelingen. Daß sie effizient arbeitete, stand außer Zweifel. Daß sie inoffiziell eine Art gewerkschaftliche Vertrauensperson für alle weiblichen Polizisten in Mid-Yorkshire geworden war, war sehr lobenswert. Daß sie umgänglich, vernünftig und attraktiv war, war allgemein anerkannt.

Und dennoch … und dennoch …

»Ich glaube, wenn sie ein Kerl wäre, würde ich sie auch nicht mögen«, hatte Pascoe seiner Frau versichert, um zu zeigen, daß es keine geschlechtsspezifische Abneigung war.

Er war ein wenig pikiert gewesen, als Ellie ihn daraufhin ansah, als könnte sie sich zwischen Wutgebrüll und brüllendem Gelächter nicht entscheiden. Glücklicherweise wählte sie dann aber letzteres, obwohl er seine herablassende geistlose Bemerkung noch erweiterte: »Nein, nein, ich versichere dir, daß ich in ihr ganz objektiv die Zukunft der Polizei sehe …«

»Genau. Und wie die meisten Männer kurz vor dem interessanten Alter ist die Zukunft das letzte, das du mit objektiver Gleichmut betrachten kannst.«

Vielleicht hatte sie recht. Aber bestimmt nicht in jeder Hinsicht.

Denn ein durchaus erkennbarer, wenn auch unaussprechlicher Grund für seine Abneigung gegen Burroughs war die Tatsache, daß sie sich offensichtlich nichts aus Ellie machte, und das – vor allem bei einer Frau – verriet ihm eine verminderte Urteilsfähigkeit, die weder zu verzeihen noch wiedergutzumachen war.

Anders als Dalziel, der seine Abneigung durchscheinen ließ wie den Hintern durch eine abgewetzte Hose, verbarg Pascoe sie hinter lächelnder Liebenswürdigkeit.

»Hi, Maggie«, sagte er. »Wie läuft’s?«

»Bis jetzt haben wir nichts gefunden«, antwortete sie. »So allmählich bin ich derselben Meinung wie die Leute hier, nämlich, daß sie nicht mehr in der Gegend ist.«

»Entführt, meinen Sie? Shirley Novello hatte sich übrigens an die unbekannten Fahrzeuge gehängt. Allerdings ohne besonderen Erfolg.«

Er schnitt eine Grimasse, um sich von Dalziels abfälliger Reaktion gegenüber Novello zu distanzieren. Doch Maggie Burroughs schüttelte den Kopf.

»Nein, nicht von einem Fahrzeug, sondern von Geistern und Kobolden und solchen Kreaturen, die nachts ihr Unwesen treiben, oder in diesem Fall eben morgens. Hier sind alle überzeugt, daß dieser Benny sie geschnappt hat, und das steckt allmählich an. Wie lautet die offizielle Stellungnahme, Sir? Ich meine, das ist doch alles Unsinn, oder?«

»Benny ist für Danby das, was Freddy für die Elm Street war«, erwiderte Pascoe. »Eine Legende, die auf einer schrecklichen Wahrheit beruht.«

Er sah, wie sie ein Schmunzeln unterdrückte, und vermutete, daß er wohl eine Spur zu pathetisch geklungen hatte.

»Sorgen Sie nur dafür, daß jeder Quadratzentimeter Boden abgesucht wird«, sagte er abrupt. »Ist Sergeant Clark in der Nähe?«

»Ja. Und gibt acht, daß seine Ortskenntnisse ja niemandem zugute kommen«, entgegnete Burroughs mürrisch.

»Er ist ein guter Mann. Sie wissen, daß er Dorfpolizist in Dendale war, als das vor fünfzehn Jahren passierte?«

»Ich bezweifle, daß es jemanden gibt, der älter als zwei Jahre ist und dem er das noch nicht unter die Nase gerieben hat. Er muß hier irgendwo rumhängen.«

Pascoe lag unwillkürlich ein Ratschlag auf der Zunge. Mach dir Freunde, solange du nicht stark genug für Feinde bist. Aber er behielt ihn für sich. Vielleicht war sie der Andy Dalziel von morgen. Pascoe selbst hielt sich an das Motto: Du mußt die Dummheit der anderen nicht heiter ertragen, doch meist ist es sinnvoll, sie still zu ertragen. Abgesehen davon hielt er Clark nicht für dumm, sondern für einen verläßlichen, unerschütterlichen und altmodischen Polizisten, den Ellbogentypen wie Burroughs als eine Art Dinosaurier betrachteten.

Er fand Clark rauchend im dürftigen Schatten einiger Stechginsterbüsche.

Als er näherkam, ließ der Sergeant den Stummel schuldbewußt zu Boden fallen und zertrat ihn mit dem Absatz.

»Vergewissern Sie sich, daß er wirklich aus ist«, sagte Pascoe. »Mir ist lieber, Sie zerstören Ihre Lungen als den Berg hier. Also, erzählen Sie mir was über Jed Hardcastle.«

»Ach ja. Jed. Sie sollten wissen, daß Jed der jüngste der Hardcastles aus Dendale ist …«

»Ja, ja, und er wohnt auf Stirps End und hat eine Schwester, June, und sie kommen mit ihrem Vater nicht aus, das weiß ich alles«, unterbrach Pascoe ungeduldig. »Was ich von Ihnen wissen will: Warum denken Sie, daß er für das Geschmiere verantwortlich ist?«

Er hatte seine Informationen von Mrs. Shimmings erhalten und ahnte nicht, wie sehr seine Unterbrechung Shirley Novello gestunken hatte.

»Jed Hardcastle?« hatte die Lehrerin gesagt. »Ja, den kenne ich gut. Seine älteste Schwester war eines der verschwundenen Mädchen aus Danby, aber das wissen Sie ja wahrscheinlich.«

»Ja. Erzählen Sie mir von Jed.«

»Tja, er ist das jüngste der drei Kinder und war erst zwei, als sie hierher zogen, also ist er in Dendale zur Schule gekommen.«

»Dann kann der Umzug keine großen Auswirkungen auf ihn gehabt haben«, meinte Pascoe.

»In einer Familie aufzuwachsen, in der ein Kind verlorenging, hat so seine ganz speziellen Auswirkungen, kann ich mir vorstellen«, erwiderte sie ruhig. »Und bei den Hardcastles ganz besonders. Keines der beiden Kinder durfte je vergessen, was mit Jenny passiert war. Cedric gab sich selbst die Schuld, weil er nicht besser auf sie aufgepaßt hatte, und achtete infolgedessen auf June, die jüngere Schwester, als sei sie die künftige Kaiserin von China. Sie durfte nichts ohne strenge Aufsicht unternehmen. Als Kind war das wohl noch nicht so schlimm, aber später als Teenager … na ja, Sie wissen ja, wie Mädchen in dem Alter so sind.«

»Ich freue mich schon darauf, es zu erleben«, sagte Pascoe. »Meine Tochter ist sieben.«

»Dann seien Sie gewarnt. Mit sieben war June ein stilles, folgsames Kind, aber mit fünfzehn wurde sie allmählich rebellisch. Eines Tages riß sie aus und fuhr in die Stadt. Sie wurde aufgegriffen und zurückgebracht. Ein Jahr später riß sie wieder aus, diesmal nach London. Es dauerte ein paar Monate, bis sie Kontakt zu ihr aufnehmen konnten. Aber sie kommt nicht wieder zurück, das hat sie ihnen deutlich zu verstehen gegeben.«

»Und Jed?«

»Ähnliche Geschichte. Nur daß er in zweierlei Hinsicht leiden mußte. Zum einen unter übertriebener Fürsorge zu einer Zeit, in der er seine Selbständigkeit hätte erproben müssen. Und zum anderen unter der gängigen Vorstellung eines Yorkshire-Bauern, ein einziger Sohn müsse nach dem Tod seines Vaters in dessen Fußstapfen treten, bis dahin aber als unbezahlter Hofarbeiter ohne jegliche Rechte ausgebeutet werden. Hinzu kommt, daß Jed ein eher schmächtiger Junge und sehr sensibel ist. Und immer hören zu müssen, daß die tote Schwester eine größere Hilfe war, als sie nur halb so alt war, ist auch nicht besonders ermutigend.«

»Aber er ist seiner Schwester nicht in die große Stadt gefolgt?«

»Nein. Er ist ein bißchen in Schwierigkeiten geraten, nichts Ernsthaftes, jugendlicher Vandalismus, solche Sachen. Und mit seinem Vater hat er sich vermutlich permanent gestritten. Der Himmel weiß, wie das geendet hätte, aber Mr. Pontifex – es ist sein Hof, den Cedric gepachtet hat – merkte, was da los war und nahm Jed unter seine Fittiche, verschaffte ihm einen Job in seinem Pachtbüro. Wie ich sagte, er ist klug, lernt schnell und kann es in der richtigen Umgebung zu etwas bringen.«

»Und das ist nicht unbedingt die Scheune.«

»Vor allem nicht, wenn der eigene Vater ihm ständig unter die Nase reibt, wie nutzlos er doch ist«, stimmte Mrs. Shimmings zu.

»Aber er wohnt immer noch zu Hause?«

»Das war das Hauptziel der ganzen Übung. Alle waren sich einig, wenn Jed auch noch von zu Hause weggeht, bringt seine Mutter entweder sich selbst oder ihren Mann um, bevor der nächste Tag vorüber ist.«

Das alles hätte er zweifellos auch von Clark erfahren können, aber wenn es um das psychologische Profil eines Jugendlichen ging, verließ er sich lieber auf Mrs. Shimmings professionell geschultes Auge.

Clark sagte: »Nach unserm Gespräch gestern hab ich ’ne Liste der möglichen Täter zusammengestellt. Wir hatten vor ’ner Weile schon mal Ärger mit diesen Sprühdosen-Schmierfinken, und ich hatte damals ein halbes Dutzend im Visier …«

»Aber Hardcastle war nicht dabei«, meinte Pascoe. »Ich hab seinen Namen in den Computer gefüttert. Keine Angaben.«

»Es gab nicht genug Beweise, um vor Gericht zu geh’n, also kümmerte ich mich selbst darum«, erwiderte Clark und hieb mit der rechten Handkante durch die Luft.

»Also hatten Sie nur noch eine kurze Liste. Wie kam es, daß Sie Hardcastle herauspickten?«

»Hab mich umgehört«, antwortete Clark vage. »Drei von den Jungs, mit denen ich gesprochen habe, zeigten mit dem Finger auf Jed und seinen Kumpel, Vernon Kittle.«

Dieses Mal sparte er sich die Geste, aber Pascoe konnte sich die Art der Erkundigungen vorstellen. Wichtiger war allerdings die Zuverlässigkeit der Antworten.

»Dieser Kittle, ist von dem was bekannt?«

»Ein Rowdy. Hält sich für ’n starken Typen. Macht mächtig Eindruck auf Jed, sonst aber auf kaum jemanden.«

»Warum haben Sie dann gestern nacht nichts unternommen?« wollte Pascoe wissen.

»Sonntag. Da ist jeder irgendwo unterwegs, deshalb hab ich so lang gebraucht, um die meisten überhaupt aufzustöbern.«

»Trotzdem …«

»Und Jed war nicht zu Hause«, fuhr Clark fort. »Ist mit Kittle und ein paar Puppen in dessen Bus ans Meer gefahren. Molly, also Mrs. Hardcastle, sagte, sie wüßte nicht, wann sie zurückkommen. Diese jungen Burschen … na, Sie wissen schon. Also dachte ich, ich könnte es auch bis heute morgen aufschieben und dann an Sie weitergeben.«

Wield hatte also richtig gedacht. Ein kleines Geschenk an Pascoe, weil er den Sergeant gestern vor Dalziels Zorn bewahrt hatte. Sie standen nicht gern in der Schuld, diese Yorkshire-Leute. Und sie wurden nicht gern als Dummköpfe behandelt, wie Maggie Burroughs eines Tages vielleicht noch auf schmerzliche Weise erfahren würde.

»Sagen Sie, Nobby, diese ganze Sache mit Dendale – was meinen Sie? Zeitverschwendung – oder könnte es einen Zusammenhang geben?«

Der Sergeant zögerte. Er wägte sichtlich die Bedeutung des Wechsels auf eine neue, vertraulichere Ebene ab, die der Gebrauch seines Spitznamens andeutete.

Dann sagte er: »Könnte wohl sein. Aber ich hoffe nicht.«

»Warum nicht? Wenn sich herausstellt, daß ein Zusammenhang besteht, könnten wir vier Rätsel auf einmal lösen.«

»Vielleicht. Aber was ist, wenn wir nur einen Haufen schlafender Hunde wecken, und das ganz umsonst? Die Leute haben grad angefangen, an Dendale zu denken, ohne sich dabei gleich an die armen Mädchen zu erinnern. Das war schrecklich damals, aber das Leben ist voll mit schrecklichen Dingen, und die sollten einem nicht alles verderben dürfen, was schön ist.«

Es klang wie eine Rechtfertigung, so als spürte er bereits einen Protest oder gar Spott wegen seiner ausgefallenen Wortwahl.

»Und Dendale war schön, oder nicht?« sagte Pascoe.

»O ja. Es war ein prima Ort, mit prima Leuten. Natürlich hatten wir auch unsere Bösewichter, und wir hatten gute und schlechte Zeiten, aber nichts, das wir nicht allein in den Griff kriegen konnten. Ich wär froh gewesen, meinen Lebensabend dort verbringen zu können, das sag ich Ihnen, auch ohne die Beförderung.«

Er sprach mit einer Leidenschaft, die Pascoe schmunzeln ließ.

»Das klingt ja, als sei es das Paradies gewesen«, sagte er.

»Na ja, wenn’s nicht das Paradies war, dann war’s zumindest gleich nebenan und so nah, wie ich jemals drankommen werde«, entgegnete Clark. »Dann wurde alles kaputtgemacht. Von dem Augenblick an, wo Mr. Pontifex sein Land verkaufte – so sahen es zumindest die meisten.«

»Welche Rolle spielte dann Mr. Pontifex? Die der Schlange? Oder nur die der armen, gutgläubigen Eva?«

Er war mit seiner Ironie zu weit gegangen, das merkte er sofort. Hier in Yorkshire schmunzeln sie über ein wenig plumpen Sarkasmus, aber bei feiner Ironie werden sie sofort skeptisch, ob da nicht versteckte Herablassung im Spiel ist.

»Das können Sie ja selbst rausfinden«, brummte der Sergeant. »Jed arbeitet für ihn, also müssen wir ohnehin zum Grange-Anwesen fahren, wenn Sie mit dem Burschen sprechen wollen.«

»O ja, das will ich«, sagte Pascoe. »Sie voran.«

Das Grange-Anwesen entpuppte sich als angenehme Überraschung. Es war kein finsterer Adels-Prunkschuppen aus Granit, wie Pascoe erwartet hatte, sondern ein langgestrecktes niedriges Haus der elisabethanischen Ära aus weichem Yorkshire-Gestein.

Wie es aussah, befand sich das Pachtbüro in den umgebauten Pferdeställen, denn nichts deutete darauf hin, daß hier lebendige Transportmittel benutzt wurden. Nur ein großer blauer Daimler Benz stand vor dem Haus.

Sie parkten im Schatten einiger alter Eiben und gingen zu Fuß über den Hof zum Büro. Derweil öffnete sich die Bürotür, und ein Mann mit silbergrauem Haar und einem schmalen, hochmütig wirkenden Gesicht trat heraus. Er ging wohl auf die Siebzig zu und trug einen Gehstock mit einem silbernen Griff in Form eines Fuchses, der perfekt zu seiner Haarfarbe paßte. Tatsächlich schien dieser Stock mehr der Effekthascherei denn der Notwendigkeit zu dienen, da der Mann mit federnden Schritten auf sie zukam.

»Sergeant Clark«, sagte er. »Das ist ja eine furchtbare Geschichte. Habe ich das Vergnügen, mit Superintendent Dalziel zu sprechen?«

Ein Mann, der das glauben kann, glaubt sicher alles, dachte Pascoe spontan, sagte es aber glücklicherweise nicht.

»Nein, Sir. Detective Chief Inspector Pascoe. Mr. Dalziel läßt grüßen, muß jedoch dringende Geschäfte in der Stadt erledigen.«

Ein Lächeln, das ihn vollkommen veränderte, machte sich auf dem Gesicht des Mannes breit.

»Das ist nicht die Art Sprache, die meine Spione mir von Mr. Dalziel zutrugen«, sagte er. »Und wenn ich Sie jetzt etwas genauer betrachte, sehe ich, daß Sie auch vom Aussehen her nicht dieser Mann sein können. Verzeihen Sie bitte. Ich muß wirklich lernen, mich zurückzuhalten.«

Er war sehr nahe an Pascoe herangetreten und hatte seine Hand geschüttelt. Jetzt verstand Pascoe den Grund für den verkniffenen und hochmütig erscheinenden Gesichtsausdruck. Der Mann war schrecklich kurzsichtig. Vermutlich benutzte er den Stock, um Hindernisse auf unbekanntem Gelände zu erkennen.

Clark war einige Schritte auf das Büro zugegangen. Er blieb stehen und sah Pascoe fragend an. Pascoe nickte leicht, und er trat ein.

»Sagen Sie mir, Mr. Pascoe, gibt es denn etwas Neues?« fragte Pontifex.

»Ich fürchte nein«, antwortete Pascoe. »Wir können nur hoffen.«

»Und beten«, meinte Pontifex. »Ich habe gehört, daß sie im Ort von diesem Lightfoot reden, den so viele für die verschwundenen Mädchen in Dendale verantwortlich machten. Aber da ist doch sicher nichts dran, oder?«

Pascoe hatte das Wort »sicher« schon überzeugter gehört.

Er sagte: »Im Moment, Sir, halten wir uns alle Möglichkeiten offen.«

Der Mann hatte seine Hand losgelassen, stand aber noch immer unangenehm nahe. Pascoe wandte sich ab, um das Haus zu betrachten, und nahm dies zum Anlaß, ein paar Schritte wegzutreten.

»Hübsches altes Haus«, meinte er anerkennend. »Elisabethanisch?«

»Der Hauptteil ja. Mit späteren Anbauten, aber immer stilgemäß.«

»Sie können von Glück reden, daß Sie Vorfahren mit solch gutem Geschmack hatten.«

»Schön wär’s. Aber der erste Pontifex in diesem Haus war mein Vater, dessen Modernisierungswahn womöglich mehr Schaden anrichtete als sonst irgend etwas in den vierhundert Jahren davor.«

»Dann hat er das Anwesen gekauft?«

»Ja, in den späten Zwanzigern. Der Kerl, dem es gehörte, war in der Depression bankrott gegangen. Hatte sich zu oft verspekuliert. Mein Vater zog ein und machte sich ans Vergrößern. Er kaufte alles, was ihm unter die Finger kam, und so gehörten ihm bald eine ganze Reihe von Bauernhöfen drüben in Dendale. Aber nicht genug für ein profitables Ganzes. Um einen Großgrundbesitz bewirtschaften zu können, muß eine Einheit da sein, eine Mauer um alles herum, sozusagen. Aber in Dendale gab es zu viele Lücken. Auch wenn der Damm nicht gebaut worden wäre, hätten die Grundstücke verkauft werden müssen.«

Pascoe hatte den Eindruck, eine gut geübte und oft wiederholte Entschuldigung zu hören. Er vermutete, daß so manche die schlichte Abfolge der Geschehnisse – Pontifex verkauft das Land, der Damm wird gebaut, die Kinder verschwinden – als Aneinanderreihung von Ursache und Wirkung betrachteten. Aber es war erstaunlich, daß ein nüchterner Geschäftsmann sich von solchem Geschwätz hatte anstecken lassen.

»Sir, er ist weg.«

Clark war aus dem Büro gekommen.

»Weg? Wohin?«

»Der Pachtverwalter sagt, er hätte uns durchs Fenster geseh’n, und als nächstes ist der Junge verschwunden.«

»Wollten Sie etwa Jed sprechen?« fragte Pontifex und klang erleichtert. »Aus einem bestimmten Grund?«

»Wir überprüfen nur alle möglichen Leute, um herauszubekommen, ob sie gestern einen Verdächtigen gesehen haben, Sir«, erklärte Pascoe ausweichend.

»Natürlich. Einer Ihrer Kollegen war auch schon hier. Ich konnte ihm leider nicht helfen. Sie sehen ja, wie schlecht meine Augen sind.«

Wollte er etwa ein Alibi? überlegte Pascoe.

Er gab Pontifex die Hand und verabschiedete sich. Als er zum Wagen zurückging, fragte er Clark: »Hat Pontifex Familie?«

»Eine Tochter. Er ist geschieden. Die Frau hat das Sorgerecht.«

»Dann lebt er allein hier. Hilft er noch anderen Burschen, oder ist Jed der einzige?«

Clark warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu.

»Da ist nix dergleichen«, entgegnete er voller Abscheu. »An so was brauchen Sie gar nicht zu denken.«

»So etwas meinte ich auch gar nicht«, protestierte Pascoe. Oder doch? So wie es sich anhörte, war das in Danby noch immer ein Grund zur Steinigung. Er sollte Wieldy besser warnen.

»Ich glaube eher, daß Mr. Pontifex sich den Hardcastles gegenüber verpflichtet fühlt«, fuhr Clark fort. »Das würden so manche bestätigen. Ich meine, vielleicht, wenn er sein Land nicht verkauft hätte …«

»Aber dann hätte es einen Zwangsverkauf gegeben, oder?« meinte Pascoe.

»Es besteht ein großer Unterschied zwischen Zwang und Profit«, erwiderte Clark mit alttestamentlicher Sturheit.

»Sie meinen also, man kann ihm zu einem gewissen Grad die Schuld geben?« erkundigte sich Pascoe neugierig.

»Na ja, wenn jemand aus dem Ort die Mädchen umgebracht hat, wie etwa Benny Lightfoot, dann könnte es doch sein, daß der Verkauf von seinem Zuhause, gewissermaßen, in ihm was ausgelöst hat, das sonst bis zu seinem Tod nicht rausgekommen wäre.«

Von alttestamentlichem Rechtsempfinden zu modernem Psychogeschwätz! Wobei nicht zu leugnen war, daß etwas dran sein konnte. In der Akte stand allerdings nichts dergleichen. Vor fünfzehn Jahren war kaum jemand auf die Idee gekommen, von Straftätern ein psychologisches Profil zu erstellen, und selbst heute wurde diese Kunst nur in bestimmten Teilen Yorkshires und dort auch nur im geheimen praktiziert.

Pascoe fragte: »Gehörte Lightfoots Cottage denn zu Pontifex’ Besitz?«

»Nein. Der gehörte der alten Mrs. Lightfoot, Bennys Großmutter. Deren Mann hatte sie von Arthur Allgood gemietet, als der noch den Heck-Hof bewirtschaftete, und Neb Cottage gehörte zu seinem Besitz. Als der alte Lightfoot starb, übernahm sein Sohn Saul den Mietvertrag.«

»Das war Bennys Vater, oder? Der ertrunken ist.«

»Sie sind ja gut informiert«, meinte Clark anerkennend. »Ja, das stimmt. Nachdem der starb und Marion sich mit der alten Lady zerstritten hatte und mit ihren Kindern in die Stadt gezogen war, dachten alle, Arthur würde sie aus Neb Cottage rausschmeißen und einen neuen Mieter suchen. Aber ehe er das tun konnte, siehe da, mußte er selbst dran glauben. Hundert Jahre früher hätten sie die alte Mrs. Lightfoot wahrscheinlich als Hexe verbrannt.«

»Aber wieso? Das Cottage gehörte doch noch immer zum Heck-Hof.«

»Klar. Aber der gehörte jetzt Chloe Allgood, Arthurs Tochter, die Mr. Wulfstan geheiratet hatte. Sie wollten Heck als Ferienhaus behalten und den Rest verkaufen. Natürlich waren Mr. Pontifex’ Makler blitzschnell zur Stelle.«

»Aber Pontifex bekam Neb Cottage nicht?«

»Nein. Wie sich herausstellte, hatte sich die alte Lady gleich nach Allgoods Beerdigung Chloe geschnappt und sie überredet, ihr das Cottage zu verkaufen. Keiner weiß, woher sie die Kohle dafür hatte – es hieß, sie hätte das Geld aus der Lebensversicherung ihres Mannes in eine größere Lebensversicherung für ihren Sohn gesteckt. Na ja, sie wußte wohl, daß es ihr gutgehen würde, solange Saul am Leben war, aber wenn ihm was passierte, säße sie in der Tinte.«

»Kluge Frau«, sagte Pascoe.

»Ja, sicher. Man mußte schon früh aufstehen, um vor Mr. Pontifex auf dem Markt zu sein«, meinte Clark schmunzelnd. »Ich nehme mal an, daß er nicht besonders glücklich war, Neb Cottage nicht mit dem Rest von Heck in die Finger zu bekommen.«

»Und was passierte, als Pontifex sich entschloß, an die Wasserbehörde zu verkaufen?«

»Das war eigentlich das Ende. Die meisten Hofbesitzer gaben nach und verkauften ebenfalls. Mr. Wulfstan regte sich zwar ziemlich auf, aber das brachte ihm auch nichts mehr. Nur die alte Mrs. Lightfoot hielt bis zum Ende durch, und sie hätten schon Vollstreckungsbeamte schicken müssen, um sie rauszukriegen, wenn sie nicht den Schlaganfall bekommen hätte. Es war wohl alles zuviel für sie, dachten die Leute, der Umzug und das ganze Tamtam um Benny. Also karrten sie sie in einem Krankenwagen weg und walzten die Hütte ruckzuck nieder. Es war direkt eine Schande, daß ihr Leben im Tal so enden mußte. Noch etwas, das Mr. Pontifex auf dem Gewissen lastet, wie die Leute meinen.«

»Sie gaben ihm die Schuld?«

»Klar. An allem. Dem Umzug. Und den verschwundenen Kindern. In den Köpfen der Leute hing das eben zusammen, versteh’n Sie? Und in Mr. Pontifex’ Kopf auch. Deshalb hat er dann auch Cedric Hardcastle Stirps End gegeben, was er eigentlich Jack Allgood schon fest versprochen hatte. Der war als Bauer zweimal so gut, wie Cedric je sein wird. Und das war noch nicht alles. Wie ich schon sagte, als er mitbekam, was da zwischen Jed und seinem Vater ablief, griff er ein und gab dem Jungen eine Stelle in seinem Büro.«

»Nach all den Jahren?« fragt Pascoe. »Da muß es ihm aber mächtig schwer auf dem Gewissen lasten.«

»Tja, bei manchen Leuten wird’s immer schwerer, je länger es anhält.«

Sie waren bei ihren Fahrzeugen angekommen und standen im Schatten der hohen Eibe. Es war angenehm kühl hier, außerhalb der Reichweite der unablässig brennenden Sonne.

»Also, welchen Wegs, Sergeant?«

»Sir?« Ratlos.

»Sie sind dran. Hier in der Gegend heißt es doch bestimmt, daß die Furcht nicht so schnell zu flüchten weiß, wie Clark zu verfolgen weiß.«

»Sir?« Nun völlig verstört.

»Wo finden wir den Burschen?« sprach Pascoe es aus.

»Na, er wird nach Haus gelaufen sein, oder? Wohin sonst?« meinte Clark zuversichtlich. »Mit Ihnen alles in Ordnung, Sir?«

Pascoe hatte plötzlich die Hand ausgestreckt und auf die rauhe Rinde der Eibe gelegt.

»Bestens«, sagte er. »Mir ist es gerade nur eiskalt über den Rücken gelaufen. Das kommt davon, wenn man zu lange unter Friedhofsbäumen steht.«

Mit energischen Schritten marschierte er auf seinen Wagen zu. Er sah blaß aus.

»Sind Sie sicher, Sir?« fragte Clark besorgt nach.

»Ja, mir geht’s gut«, sagte Pascoe etwas irritiert. »Und es gibt Arbeit zu erledigen. Fahren Sie einfach voraus nach Stirps End, Sergeant, und das mit angemessener Eile.«