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Das Highcross Inn hatte einst eine erstklassige Lage gehabt, als Kutscher, Viehtreiber, Reiter und Wanderer zum langen Weg übers Moor nach Danby dort noch die letzte Stärkung einnahmen, während die Ankömmlinge aus entgegengesetzter Richtung sich ihre belohnende Erfrischung gönnten. Mit der Erfindung des Verbrennungsmotors änderte sich das alles. Was früher anstrengend gewesen war, war heute leicht, und die meisten Reisenden auf der Straße zum Highcross Moor benutzten den Weg nur als Abkürzung zur vielbefahrenen Nord-Süd-Tangente.
Äußerlich hatte sich das Pub in den zweieinhalb Jahrhunderten nur wenig verändert – abgesehen von den Werbeschildern für gutes Bier und dicke Pfannenpizza sowie der Erwähnung in einem dubiosen Reiseführer von einem gleichermaßen dubiosen Journalisten, der sich als Yorkshire-Experte bezeichnete, obwohl er mit achtzehn nach London gezogen und nur zweimal zu Familienbegräbnissen in die Gegend zurückgekehrt war. Tatsächlich sah der bröckelnde Anstrich teilweise so aus, als sei er noch der erste, aber das konnte auch am langen heißen Sommer liegen.
Im Innern allerdings hatte sich einiges verändert. Vermutlich hatte es irgendwann einmal so ausgesehen, wie ein altes Country Pub eben aussieht. Dann beschloß irgendein oberschlauer Gastwirt, es müsse so aussehen, wie sich irgendein abgehobener Designer ein altes Country Pub vorstellt. Das Echte und Ursprüngliche wurde hinaus- und das Künstliche und Anonyme hereingeschafft, so daß ein standfester Trinker heute hin und wieder vor die Tür treten mußte, um sich ins Gedächtnis zu rufen, wo er denn trank.
Novello gefiel es so ganz gut. Sie war jung und kam aus der Stadt, und die Pubs in ihrer Gegend sahen fast alle so aus. Sie setzte sich an die Theke und bestellte ein Bier und schwarzen Johannisbeerlikör.
Das Pub war fast leer. Die Frau hinter der Theke hatte Zeit zum Schwatzen. Sie war um die Vierzig und recht kompakt gebaut, das meiste davon Muskeln, die sich wahrscheinlich im Laufe der Zeit durch ständiges Bierzapfen und Kistenschleppen ausgebildet hatten. Die heiteren Züge ihres runden, hübschen Gesichts wurden augenblicklich skeptisch, als Novello ihren Dienstausweis zückte. Doch als sie den Grund ihrer Nachforschungen angab, machte die Frau ihrer Empörung Luft und sagte: »Ich würd dieses Schwein kastrieren – ohne Betäubung. Und dann am Rest aufhängen! Wie kann ich Ihnen helfen, Herzchen?«
Novello kam nicht gleich zur Sache. Alles, was sie in der Hand hatte, war der blaue Kombi, und sie würde alle diesbezüglichen Informationen gern ohne direkte Nachfrage bekommen. Ein übergroßer Eifer zur Mithilfe konnte bei Zeugen manchmal ebenso hinderlich sein wie übergroße Schweigsamkeit.
Zuerst nahm sie die Personalien auf. Die Frau hieß Bella Postlethwaite und hatte das Lokal vor fünf Jahren gemeinsam mit ihrem Mann Jack gepachtet. Sie ernährten sich mehr schlecht als recht von vorbeifahrenden Autoreisenden.
»Nicht, daß es hier viele gäbe. Ich mein, seh’n Sie sich um – hier steht nicht grade Haus an Haus, oder? Und von der Gewinnspanne, die uns die Brauerei zugesteht, kriegt man nicht mal ’n Flohzirkus satt. Schweinehunde. Die würd ich manchmal auch gern hängen seh’n.«
Sie war eine sehr redselige Frau. Novello kam auf den Sonntagmorgen zu sprechen. Bella war früh aufgestanden, Jack wollte ausschlafen. Nein, sie habe nichts Ungewöhnliches bemerkt. Und Gewöhnliches? Tja, gewöhnlich war alles ziemlich beschissen, um es mal in aller Deutlichkeit zu sagen. Ein paar Trecker. Sonst irgendwelche Fahrzeuge? Ja, auf der Hauptstraße, aber nicht viele, weil ja Sonntag war. Und auf der Straße zum Moor? Ja, da sei auch ein Wagen gewesen. Sie hatte vor dem Haus grad ihre Blumenkästen gegossen, während sie noch im Schatten lagen, und da war dieser Wagen von der Moorstraße auf die Hauptstraße abgebogen. War einfach hochgefahren und abgebogen; da war zwar ein Stoppschild, aber man konnte die Hauptstraße gut einsehen, und es war so wenig Verkehr, daß der Wagen nicht anhalten mußte. Welche Marke? Keine Ahnung, Herzchen. Seh’n für mich alle gleich aus. Die Farbe vielleicht? Blau, würde sie meinen. Ja, ganz sicher blau.
In diesem Moment erschien ihr Ehemann. Er war so dünn, wie sie dick war, knochig, fast mager, spannenlanger Hansel und nudeldicke Dirn. Sobald er sich einmischte, machte er alle Hoffnungen auf brauchbare Informationen von der Frau zunichte.
»Sie kann unsern Cavalier nicht vom Brauereiwagen unterscheiden, so sieht’s aus«, verriet er Novello.
Bella jedoch, die ihre diesbezügliche Schwäche bereits freiwillig eingestanden hatte, war nicht gewillt, sie von jemandem herausposaunt zu hören, der nicht genug Fleisch auf den Rippen hatte, um die Bezeichnung »bessere Hälfte« zu verdienen.
»Wenigstens war ich schon auf und hab nicht meinen Arsch auf der Matratze plattgelegen wie ein gewisser jemand, den ich jetzt nicht nennen will«, konterte sie beleidigt. »Wenn du nicht den halben Samstag damit verbracht hättest, unsern Verdienst zu versaufen, dann wärst du wach genug gewesen, um dieser Lady zu helfen anstatt mich zu beleidigen.«
So jung sie auch war, hatte Novello doch genug Erfahrung um zu wissen, daß Ehestreitereien nach lang etablierten Schemata verliefen, die, einmal begonnen, nur schwer wieder abzubrechen waren.
Sie sagte laut und vernehmlich: »Dann war es also kein Cavalier, der am Sonntag vorbeifuhr. Ein größerer Wagen?«
»Ja, größer«, antwortete Bella und funkelte ihren Mann herausfordernd an.
»Sehr viel größer? Ein Lastwagen etwa?«
»Nein. Mit mehr Fenstern.«
»Dann eine Art Jeep? Sie wissen schon, ein Landrover, wie ihn die Bauern fahren? Ziemlich hoch?«
»Nein! Der war mehr lang, wie’n Leichenwagen, so ähnlich. So’n Auto, wie Geordie Turnbull fährt.«
Der letzte Satz war an ihren Mann gerichtet. Vielleicht als Signal für einen Waffenstillstand, weil sie an seine Fachkenntnisse appellierte? Nein, klang irgendwie anders. Eher wie ein Schuß aus dem Hinterhalt.
»Ach nee, an den kannst du dich natürlich erinnern«, schoß Postlethwaite umgehend zurück.
»Was für einen Wagen fährt Mr. Turnbull denn?« fragte Novello schnell, ehe beide nachladen konnten.
»Einen Volvo-Kombi«, erwiderte der Mann. »Tja, und blau ist er auch.«
»Blau? Hellblau oder dunkelblau?« hakte Novello nach.
»Hellblau.«
»Und das Fahrzeug, das Sie gesehen haben, Mrs. Postlethwaite, war das hellblau oder dunkelblau?«
»Eher hell«, meinte die Frau mit einem bösen Seitenblick auf ihren Mann. »Aber es war nicht Geordies.«
»Wie willst du das wissen?« höhnte Postlethwaite. »Alles, was du je genau angeguckt hast, war doch die Decke von seinem Schlafzimmer.«
Von wegen scharfe Geschütze – die beiden gingen jetzt zum Nahkampf über! Bella holte tief Luft und sah aus, als wollte sie ihrem Mann gleich an die Kehle springen. Dann erhaschte sie Novellos flehenden Blick und beschloß, sich dieses Vergnügen für später aufzuheben.
Mit einem vielsagenden Blick auf ihren Mann sagte sie: »Wenn ich ’n Hirn hätte wie deins, würd ich Pilze drauf züchten. Und ich weiß ganz sicher, daß es nicht Geordie Turnbulls Wagen war, weil hinten ein Kind drinsaß.«
Erst nachdem die Worte heraus waren, merkte sie, was sie da gesagt hatte, und in diesem Augenblick änderte sich das Drehbuch von Ehekomödie zu Gesellschaftsdrama.
Zehn Minuten später saß Novello an ihrem Funkgerät und sprach mit Wield in der St. Michael’s Hall.
Er lauschte so angespannt, daß sie es über die Entfernung zu spüren meinte, und fragte im Anschluß an ihren Bericht: »Wie schätzen Sie diese Bella ein?«
»Nicht gerade eine Spezialistin für Automarken. Aber bei Farben weiß sie Bescheid. Ich habe sie nach ein paar vorbeifahrenden Wagen gefragt, und sie konnte blau, schwarz und grün auseinanderhalten.«
»Und das Kind?«
»Hat sie nur ganz kurz gesehen. Ein blondes Mädchen, das hinten aus dem Fenster geguckt hat.«
»Verängstigt? Traurig? Winkend? Oder was?«
»Einfach nur geguckt. Sie hat sonst niemandem im Wagen gesehen und kann nicht sagen, ob noch ein Beifahrer drin saß. Aber was das Mädchen angeht, ist sie sicher.«
»Das fiel ihr aber nicht sofort ein, oder?«
»Das mußte es ja auch nicht. Ich wollte nicht riskieren, sie durch meine Fragen darauf zu bringen.«
Novello beschrieb ihre Befragungsstrategie.
»Gut«, sagte Wield. »Und dieser Typ, Turnbull? Was ist mit dem?«
»Sie behauptet steif und fest, daß es nicht sein Wagen war.«
»Aber sie war es, die als erste von ihm gesprochen hatte.«
»Nur um ihren Mann zu ärgern. So, wie ich das sehe, kommt dieser Turnbull regelmäßig vorbei und hält ein nettes Schwätzchen. Vielleicht haben sie was miteinander, vielleicht ärgert sie sich auch nur über ihren eifersüchtigen Mann. Jedenfalls denke ich, der ist eine Sackgasse. Bella kennt vielleicht keine Automarken, aber sie besteht darauf, daß dieser Wagen neuer und sauberer war als Turnbulls.«
»Selbst in dieser Gegend gibt es so was wie Waschanlagen«, sagte Wield. »Könnte es nicht sein, daß sie ihn nur schützen will, weil sie ihn unbedacht belastet hat?«
»Nein, sie hat am Anfang beschrieben, was sie mit Kerlen machen würde, die Kinder mißhandeln. Ich bin sicher, daß sie niemals jemanden decken würde, der unter diesem Verdacht steht.«
»Aber wenn sie absolut überzeugt ist, daß dieser Turnbull es nicht getan hat … Es wurden schon Männer wegen mehrfachen Mordes verurteilt, während ihre Mütter und liebenden Ehefrauen ihre Unschuld beschworen.«
»Sie meinen, ich sollte ihn mir mal vornehmen«, sagte Novello, unsicher, ob sie sich ärgern sollte oder nicht.
»Wissen Sie, wo er wohnt?«
»O ja. Der eifersüchtige Jack denkt wohl in Ihren Bahnen, Chef, und bestand darauf, mir eine genaue Wegbeschreibung zu geben. Turnbull leitet ein Abrißunternehmen in Bixford an der Küstenstraße, etwa zehn Meilen von hier. Er wohnt direkt neben seinem Fuhrpark, aber wenn er nicht da sein sollte, könnte ich ihn ganz leicht finden, meinte Jack. Man muß nur nach den Bulldozern Ausschau halten, wo mit fetten roten Buchstaben ›Geordie Turnbull‹ draufsteht und die so langsam fahr’n, daß sie den ganzen Verkehr aufhalten …«
Novello war in eine, wie sie fand, recht gute Imitation der schleppenden Bitterkeit des Pub-Besitzers verfallen, aber Wield schien ihre kleine Vorstellung in keiner Weise zu honorieren.
»Was haben Sie da gerade gesagt?« unterbrach er sie. »Geordie Turnbull?«
»Ja, genau.«
»Warten Sie mal.«
Stille. War etwa der Dicke aufgetaucht? Die Stille dauerte an. Novello spielte mit dem Gedanken vorzuschlagen, daß sie Musik einspielen sollten, wenn sie einen in die Warteschleife nahmen.
»Sind Sie noch dran?«
»Ja, Chef.«
»Rühren Sie sich nicht von der Stelle, ich komme zu Ihnen.«
Seine Stimme verriet ebensowenig wie sonst sein Gesicht, dennoch hörte Novello eine gewisse Aufregung heraus, die sie zu einigen Spekulationen veranlaßte. Sie war überzeugt, wenn Wield gerade mit Eiern jonglierte, während seine Lottozahlen gezogen wurden, würde er nicht eine Schale zerbrechen. Wenn dieser Mann also aufgeregt war …
Sie hatte den Eindruck, hinsichtlich der Postlethwaites alles erledigt zu haben. Also setzte sie sich mit ihrem Bier auf eine Bank im schattigen Teil des Pubs und versuchte, ihre aufrichtige Sorge um das vermißte Kind von der Vorfreude auf ihre wegen des ausschlaggebenden Hinweises anstehende Beförderung zu trennen …
Als Wield kam, sagte er zu ihr: »Ich gehe mit den beiden alles noch mal durch.«
»Klar. Ist schon in Ordnung, Chef.«
»Ich sage das nicht, um Ihre Gefühle nicht zu verletzen«, fuhr er fort. »Ich sage das, damit Sie jetzt ganz genau zuhören, anstatt sich ungerecht behandelt zu fühlen und zu schmollen.«
Er kaute mit den Postlethwaites alles noch einmal durch. Als er fertig war, sagte er: »Ihnen beiden vielen Dank. Sie waren uns eine große Hilfe.«
Sie ließen Wields Wagen stehen und fuhren in ihrem weiter. Novello nahm unaufgefordert die Hauptstraße Richtung Norden und wartete auf das Schild, das die Abzweigung nach Osten Richtung Bixford anzeigte.
»Und, was denken Sie?« fragte Wield. »Haben Sie noch was gehört, das Ihnen beim erstenmal entgangen ist?«
»Sie war sich etwas sicherer, was Form und Farbe des Wagens angeht. Und auch, wie sauber und glänzend er war. Klang nicht wie ein alter Volvo.«
»Wie ich schon sagte, vielleicht sollte der Wagen dem alten Volvo absichtlich so wenig wie möglich ähneln.«
»Könnte sein, Chef Aber wenn es ein Auto war, das ihr vertraut ist, hätte sie es dann nicht sofort erkannt? Und ihr Mann …«
Sie hielt inne, um ihre Gedanken zu ordnen. Wield drängte sie nicht, sondern wartete geduldig darauf, daß sie fortfuhr.
»Ich hatte den Eindruck, daß er diesen Turnbull gern in Schwierigkeiten mit der Polizei gesehen hätte, aber trotz seiner Antipathie wollte er auf keinen Fall glauben, daß es diese Art von Schwierigkeiten sind. Vielleicht kann er sich einfach nicht vorstellen, daß jemand, der seiner Bella schöne Augen macht, sich auch an kleinen Kindern vergeht.«
»Das haben Sie im Gefühl?«
»Das sagt mir mein Instinkt, ja. Aber ich habe noch nicht genug Erfahrung, um zu wissen, ob mein Instinkt sich letztendlich an der Wahrheit orientiert. Aber wie dem auch sei, ich bin wirklich neugierig darauf, diesen Turnbull kennenzulernen.«
»Warum?«
»Weil Sie es auch sind. Verraten Sie mir den Grund?«
»Ganz einfach«, antwortete Wield. »Vor fünfzehn Jahren, als wir den Fall mit den vermißten Kindern in Dendale untersuchten, hieß einer der Verdächtigen Geordie Turnbull. Er fuhr einen Bulldozer auf der Baustelle am Staudamm.«
Novello stieß einen Pfiff aus. Es war einer der vielen männlichen Laute, die sie im Arbeitsleben zur Tarnung ihrer Weiblichkeit gelernt hatte. Kichern, Kreischen und derlei »mädchenhafte« Geräusche kamen nicht in Frage. Sie hatte ein gutes Ohr und sich sehr bald eine ganze Palette an Tonlagen, Akzenten und Rhythmen erarbeitet. Sie hatte es sogar geschafft – wie diese alte Politikerin, wie hieß sie gleich noch? –, ihre Stimme eine halbe Oktave zu senken. Tatsächlich hatte sie es anfangs sogar ein wenig übertrieben und mit der tiefen, heiseren Stimme so sexy geklungen, daß sie das Gegenteil des Beabsichtigten bewirkte und sich schnell wieder ein paar Töne höher schraubte.
»Aber Sie behielten ihn nicht im Kreis der Verdächtigen?«
»Am äußersten Rand, sozusagen. Es gab keine Beweise, daß er zu den fraglichen Zeiten nicht in der Gegend gewesen war, aber noch weniger, daß er da war. Der einzige Grund, warum wir ihn festnahmen, war eigentlich der, daß die Leute im Dorf mit dem Finger auf ihn zeigten.«
»Er war also nicht beliebt?«
»Ganz im Gegenteil«, erwiderte Wield. »Jeder – Männer, Frauen, Kinder, sogar eifersüchtige Ehemänner – fand ihn äußerst sympathisch. Aber nach den Unglücksfällen zählte nicht mehr Sympathie, sondern Loyalität. Die Dorfbewohner wollten glauben, daß es ein Auswärtiger war und nicht einer von ihnen.«
»Ach, herrje«, stöhnte Novello mit dem Überlegenheitsgefühl einer jungen Städterin gegenüber Landbewohnern jeglichen Alters. »Kleine Orte, kleiner Verstand, wie?«
»Bitte?«
»Na, Ortschaften wie Dendale«, erklärte sie. »Da herrscht wahrscheinlich so viel Inzucht und Engstirnigkeit, daß es kein Wunder ist, wenn so schreckliche Sachen passieren.«
»Sie meinen, sie haben es verdient, gewissermaßen?«
Sein Tonfall verriet nur höfliches Interesse, aber Novello fiel ein, daß Wield inzwischen selbst in der finstersten Provinz wohnte.
»Nein, natürlich nicht«, erwiderte sie, bemüht, ihren Lapsus wiedergutzumachen. »Nur, wie Sie schon sagten: jede abgeschiedene Gemeinschaft neigt zu starkem Zusammengehörigkeitsgefühl und schiebt lieber alles auf den Außenseiter. Das liegt in der menschlichen Natur.«
»Ja, stimmt. Und es liegt auch in der menschlichen Natur, sich ein Leben zu wünschen, das genauso schön ist wie der Ort, an dem man wohnt.«
Das war die persönlichste Äußerung, die Novello je von ihm gehört hatte.
»Sie klingen, als hätte Ihnen Dendale gut gefallen«, klopfte sie auf den Busch.
»Gefallen? Tja, das war tatsächlich ein Fleckchen Erde, das einem gut gefallen konnte«, sagte er. »Selbst dann, wenn man das tut, was wir tun. Man kann schließlich nicht immer zur Sonne gucken und eine Finsternis sehen, oder?«
Das wurde ja immer besser! Ich hätte ein Tonbandgerät mitnehmen sollen, dachte Novello.
»Sie meinen, daß wir immer die dunklen Seiten der Dinge sehen, oder so?«
»So ähnlich. Ich kann mich an einen Tag erinnern …«
Sie wartete. Nach einer Weile jedoch merkte sie, daß sie kein Tonbandgerät brauchte, sondern eine Gedankenlesemaschine.
… einen Tag, an dem er nichts anderes zu tun gewußt hatte, als den Berg hinauf zur Beulah Height zu gehen. Er rechtfertigte seine Abwesenheit damit, daß er einem Trupp Abrichter folgte, deren Hunde in immer weiteren Kreisen geführt wurden, um eine Spur der vermißten Mädchen zu finden.
Es war früh am Abend gewesen – der Sonne blieben noch zwei oder drei Stunden, um ihre lange Bahn zu vollenden, doch verbreitete sie bereits jenes besondere glänzende Licht, das alles zu verzaubern schien –, und während er immer höher stieg, spürte er, wie ihm die Last dieses Falls von den Schultern genommen wurde.
Er stellte sich mit dem Rücken nach Dendale auf den höheren der beiden Gipfel und blickte über etliche Hügel und die Moorlandschaft hinweg. Die Sicht war weit, aber nicht klar. Die Hitze verwischte die scharfen Konturen des Horizonts zu einem verschwommenen goldenen Nebel, und man war versucht zu denken, daß man in diesen goldenen Dunst hineintauchen und durch irgendeinen magischen Prozeß ein Teil davon werden könnte. Selbst als das Blöken der Schafe und das Bellen der Hunde ihn veranlaßte, sich umzudrehen, war er in der Lage, dieses Gefühl noch eine Weile zu bewahren. Zwischen den beiden Berggipfeln fiel eine schroffe Felswand etwa zehn Fuß tief auf eine relativ ebene Torffläche, auf der mittels einer halbrunden Steinmauer ein Schafpferch errichtet worden war. Wield, der die Reiseführer über Dendale ebenso aufmerksam gelesen hatte wie sein Meister, in der verzweifelten Hoffnung, darin etwas zu finden, das Licht auf die Geschehnisse warf, wußte, daß die Mauersteine wahrscheinlich Teil der prähistorischen Festung gewesen waren, die einst auf diesem Berg gestanden hatte. Der Pferch war voller Schafe, und die Collies des Mannes, der sie hergetrieben hatte, wurden beim Herannahen der Suchhunde unruhig.
Eine Zeitlang war es jedoch möglich, das Bild des Schäfers mit seinem langen, geschnitzten Stab und den Klang der Schafe und Hunde mit dem Gefühl zu verquicken, daß es hier etwas gab, das schon lange existierte und nach den gegenwärtigen Unglücksfällen auch weiter bestehen würde.
Dann verfielen einer der Suchhunde und ein Collie in ein kurzes, aber lautes Gebalge, der Schäfer und der Abrichter brüllten und zerrten sie auseinander, und auch Wield fühlte sich abrupt in die Gegenwart zurückgezerrt.
Als er am Schafpferch ankam, war der Suchtrupp bereits weitergezogen. Bestrebt, seine glückselige Stimmung wiederherzustellen, grüßte er den Schäfer freundlich.
»Wieder ein schöner Tag, Mr. Allgood«, sagte er. »Das richtige Wetter, um hier oben zu sein, würde ich meinen.«
Mittlerweile kannte er jeden aus dem Tal mit Namen. Dies war Jack Allgood von Low Beulah, ein spindeldürrer Mann mit wettergegerbter dunkler Haut und schwarzem durchdringendem Blick, der den genauen Wert eines Schafs oder eines Menschen binnen weniger Sekunden zu taxieren schien.
»Würden Sie meinen, so so«, entgegnete Allgood mürrisch. »Ich soll wohl noch dankbar sein, wie? Vielleicht halten Sie sich lieber an Ihre eigne Arbeit, Sergeant, obwohl Sie da scheint’s nicht allzu versessen drauf sind.«
Der Mann war für seine Reizbarkeit bekannt, aber dieser Ausbruch schien doch relativ unmotiviert.
»Tut mir leid, wenn ich Sie beleidigt habe«, erwiderte Wield freundlich.
»Ach, na ja, Sie können ja nix dafür, denk ich. Der Grund, warum ich meine Schafe um diese Jahreszeit schon runterbringe, ist, daß sie alle wegmüssen. Tja, so ist das. Was dachten Sie denn? Daß wir aus unsern Häusern gescheucht werden, aber die Tiere hierbleiben und seh’n, wie sie zurechtkommen?«
»Nein, tut mir sehr leid. Das muß hart für Sie sein. Einen Ort wie diesen zu verlassen. Ihre Heimat. Das alles.«
Einen Augenblick lang standen die beiden Männer nur da und blickten ins Tal hinunter – auf das Dorf mit seiner Kirche und dem Pub, den verstreuten Höfen, dem blauen See, in dem sich der Himmel spiegelte. Und dann blickten sie hinunter auf die Baustelle mit ihren Fahrzeugen, Maschinen und Bauhütten und auf den Staudamm selbst, der nun fast fertig war.
»Ja, ja«, meinte Allgood. »Hart.«
Er drehte sich wieder zu seinen Schafen, und Wield begann den Abstieg in der immer noch warmen Sonne am immer noch hellen Tag mit dem immer noch herrlichen Ausblick, doch spürte er mit jedem Schritt, wie sich die Last wieder auf seine Schultern legte …
»Sergeant?« fragte da Novello. »Was haben Sie gesagt?«
»Die nächste rechts geht nach Bixford«, sagte Wield. »Fahren Sie langsamer, sonst verpassen Sie es.«