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»Mr. Dalziel«, sagte Walter Wulfstan. »Lang ist’s her.«
So, wie er es sagt, klingt es nicht allzu lang, dachte Dalziel.
Sie gaben sich die Hand und musterten einander. Wulfstan sah, genau wie damals, einen kurzgeschorenen übergewichtigen Mann, den er einst öffentlich als fett, unhöflich und inkompetent kritisiert hatte. Für Dalziel war es schwerer, den Mann von damals wiederzuerkennen. Vor fünfzehn Jahren hatte er einen schlanken, energischen Karrieretyp mit edler Bräune, hellen, neugierigen Augen und dichtem schwarzem Haar kennengelernt. Die Nachricht vom Verschwinden seiner Tochter hatte ihn getroffen wie der Sturmstoß eines Hurrikans eine Tanne. Er war zusammengebrochen und hatte sich dann scheinbar wieder erholt, indem Schmerz, Wut und verzweifelte Hoffnung ihn zur übertriebenen Parodie seines normalen Selbst machten. Doch es war wie der falsche Glanz eines Weihnachtsbaums gewesen, und nach all den Jahren blieb nichts weiter übrig als trockene Nadeln und totes Holz. Die Haare waren ihm ausgefallen, und die graue Haut saß so straff über dem Schädel, daß Nase und Ohren unproportional groß erschienen und die Augen in tiefen Höhlen lagen. Möglicherweise um dies zu verbergen oder auszugleichen, hatte er sich einen stachligen Bart um das Kinn wachsen lassen. Doch es half nichts.
»Kommen wir gleich zur Sache«, sagte Wulfstan im Stehen, ohne Dalziel einen Platz anzubieten. »Ich bin sehr beschäftigt, und die Notwendigkeit, einen neuen Raum für das Eröffnungskonzert zu finden, hat mich bereits viel Zeit gekostet, die ich kaum erübrigen konnte.«
»Tut mir leid wegen dem Raum, Sir, aber unter den Umständen …« Er brach ab.
Wulfstan erwiderte: »Entschuldigen Sie, aber sollte das ein Satz sein?«
Wenn der Kerl es auf die harte Tour will, dann soll er sie kriegen, dachte Dalziel.
»Ich mein, unter den Umständen, daß ein Kind vermißt wird und wir eine Einsatzzentrale für die Suche brauchen, hätte ich gedacht, daß Sie – nach allem, was Sie durchgemacht haben – vielleicht ein bißchen mitfühlender wären. Sir«, sagte Dalziel.
Wulfstan entgegnete ruhig: »Natürlich. Wenn ich höre, daß Eltern eine Tochter verloren haben und sich bei der Suche auf Sie und Ihre Kollegen verlassen müssen, dann bin ich sehr mitfühlend, Superintendent.«
Der war gut, dachte Dalziel anerkennend. Sein Instinkt riet ihm zurückzuschlagen, aber seine Erfahrung sagte: wenn man sich geschlagen gibt, denkt der Gegner, es sei vorbei, wird fahrlässig und entblößt irgendwann seine Kehle. Also seufzte er, kratzte sich heftig den Oberkörper und setzte sich in einen Lehnsessel.
»Wenn sie noch lebt, wollen wir sie ganz schnell finden«, sagte er. »Wir brauchen alle Hilfe, die wir kriegen können.«
Wulfstan stand einen Moment reglos, schob dann einen eleganten, aber unbequem aussehenden Holzstuhl heran und setzte sich direkt vor den Dicken.
»Fragen Sie, was Sie fragen müssen«, sagte er.
»Wo waren Sie gestern morgen zwischen, sagen wir, sieben und zehn Uhr?«
»Das wissen Sie doch bereits. Ich nehme an, daß jemand meinen Wagen gesehen hat.«
»Ich weiß, wo Ihr Wagen war, Sir, aber das heißt ja nicht unbedingt, daß Sie ihn gefahr’n haben.«
Wulfstan nickte kurz und erwiderte: »Ich habe meinen Discovery gegen halb neun am Leichenpfad abgestellt, nicht weit von St. Michael’s Church. Dann bin ich spazierengegangen und kurz nach zehn zum Wagen zurückgekehrt.«
»Allein?«
»Das ist richtig.«
»Und wo waren Sie spazieren?«
»Den Leichenpfad hinauf bis zum Paß und denselben Weg wieder zurück.«
»Das dauert etwa dreißig, fünfunddreißig Minuten hin und zurück. Was haben Sie den Rest der Zeit über gemacht, Sir?«
»Ich stand am Paß und blickte auf Dendale hinunter«, sagte Wulfstan schlicht.
Die Frage »Auf was Bestimmtes?« lag Dalziel auf der Zunge, aber er sprach sie nicht aus. Der Mann versuchte zu kooperieren.
»Haben Sie auf dem Weg rauf oder runter oder von da oben aus jemanden geseh’n, Sir?«
Wulfstan neigte den Kopf nach vorn und legte seine beiden Zeigefinger auf die Stirn. Es war eine typische Denkerhaltung, aber dieser Mann strahlte dabei tatsächlich tief versunkene Konzentration aus.
»Unten in Dendale standen ein paar Fahrzeuge«, sagte er schließlich. »Am Staudamm. Aus einem stiegen einige Leute aus, vermutlich Touristen. Durch die Dürre kommen allmählich die Ruinen der alten Häuser zum Vorschein, und das zieht die Leute magisch an. Auf dem Weg selbst habe ich niemanden gesehen, tut mir leid.«
Er schickte sich an aufzustehen. Ende der Befragung. Denkste, dachte Dalziel und machte es sich im Lehnstuhl bequem.
»Geh’n Sie oft den Leichenpfad rauf, Sir?« erkundigte er sich.
»Oft? Was ist oft?«
»Die Zeugin, die Ihren Wagen geseh’n hat, sagt, sie hätte ihn in den letzten Wochen öfters geseh’n.«
»Das ist kein Wunder. Meine Firma hat eine Forschungsabteilung und ein Ausstellungszentrum im Industriepark, und wenn ich dort bin, nehme ich oft die Gelegenheit wahr, mir die Beine zu vertreten.«
»Es geht doch nix über ein bißchen Bewegung«, sagte Dalziel und klopfte sich mit einer Selbstgefälligkeit auf den runden Bauch, mit der Arnold Schwarzenegger wohl seinen Bizeps spielen ließ. »Aber gestern war Sonntag.«
»Ich weiß. Ich bin Ingenieur, Superintendent, und das erste, was sie uns beigebracht haben, waren die Wochentage«, entgegnete Wulfstan eisig. »Ist das Brechen der heiligen Sonntagsruhe in Yorkshire wieder zur Straftat erklärt worden?«
»Nein, Sir. Ich wundere mich nur, daß Sie an einem Sonntag zur Arbeit geh’n, noch dazu so früh. Sie sagten doch, daß Sie deswegen nach Danby fuhren; wegen der Arbeit, und nicht, um spazierenzugeh’n?«
»Ja, das stimmt. Und genau das tue ich seit vielen Jahren immer wieder einmal, Superintendent, wie Sie sicher nachprüfen können. Aber warum Sie Grund dazu haben sollten, ist mir schleierhaft. Meine Arbeit verschlingt so viel meiner Zeit, daß ich leicht aus den Augen verliere, was das Geschäft eigentlich am Laufen hält. Ich bin in erster Linie Ingenieur, und erst in zweiter Linie Geschäftsmann. In meiner Stellung, wie auch in Ihrer, ist es ziemlich leicht, sich aus seinem Kompetenzbereich hinausheben zu lassen.«
Wie etwa zur Verkehrspolizei, meinen Sie? dachte Dalziel.
Lächelnd erhob er sich.
»Tja, danke für Ihre Hilfe, Sir. Eins aber noch. Anscheinend wußten Sie bereits von dem vermißten Mädchen – durch die Zeitung, und wo Sie doch Ihr Konzert umplanen müssen und alles. Und Sie wußten, daß Sie am Sonntagmorgen in der Nähe gewesen sind. Haben Sie nie daran gedacht, daß es nützlich sein könnte, uns mal anzurufen für den Fall, daß Ihr Fahrzeug geseh’n wurde und wir Zeit darauf verwenden, der Sache nachzugeh’n?«
Wulfstan erhob sich. »Sie haben recht, Mr. Dalziel. Das hätte ich tun sollen. Aber da ich wußte, was Sie fragen würden, und auch, daß keine meiner Antworten Ihnen in irgendeiner Weise helfen könnte, hatte ich das Gefühl, daß ich damit nur meine und Ihre Zeit verschwende. Was nun geschehen ist, wie ich fürchte.«
»Das würd ich nicht sagen, Sir. Das würd ich ganz und gar nicht sagen«, meinte Dalziel und streckte seine Hand aus.
Nur aus Spaß gab er ihm einen Freimaurer-Händedruck. Es gefiel ihm, wenn die Leute das Schlimmste von ihm annahmen, weil das Beste sie dann oft als unangenehme Überraschung traf.
»Sagen Sie Mrs. Wulfstan vielen Dank für die Limonade. Ich hoffe, mit dem Konzert geht alles klar«, sagte er von der Tür aus. »Ach, haben Sie schon einen neuen Raum gefunden? Ich dachte, vielleicht könnten Sie die Kirche nehmen.«
Diese Anspielung auf Dendale rief keine sichtbare Reaktion hervor.
»Unglücklicherweise hat St. Michaels eine unerträgliche Akustik«, erwiderte Wulfstan. »Aber die Religion hilft uns möglicherweise doch noch. Es gibt da eine alte Kapelle, die wir vielleicht nutzen können.«
»Kapelle?« entgegnete Dalziel zweifelnd. »Wie ich das Kirchenvolk so kenne, würd ich meinen, daß Ihr Konzert ein bißchen zu frivol ist.«
»Mahler – frivol? Wohl kaum. Höchstens zu weltlich. Die Kapelle wird allerdings zum Glück – für uns, meine ich – nicht mehr für Gottesdienste genutzt. Die Sekte, die sie errichtet hat – ich glaube, sie nannten sich Beulah-Baptisten –, ist noch vor dem Krieg in dieser Gegend ausgestorben.«
»Beulah?« fragte Dalziel nach. »Wie in der ›Pilgerfahrt‹?«
»Haben Sie die gelesen?« fragte Wulfstan mit gerade so viel Erstaunen, daß es noch nicht beleidigend war. »Dann werden Sie sich erinnern, daß die Pilger aufgefordert wurden, vom Land Beulah aus über den Fluß ins Paradies zu gehen, was für einige eine leichte, für andere eine gefährliche Reise war.«
»Aber trotzdem kamen alle ans Ziel«, sagte Dalziel. »›Als sie von dem Wasser tranken, über das sie fahren sollten, fanden sie es ein wenig bitter im Gaumen, doch als sie es geschluckt hatten, war es süß.‹ ’n bißchen wie Guiness, was?«
»Tatsächlich. Tja, anscheinend haben diese Mid-Yorkshire Beulah-Baptisten diese Geschichte sehr wörtlich genommen und eine Art Ganzkörpertaufe praktiziert, was bedeutete, daß frisch Konvertierte von einer Flußseite zur anderen gelangen mußten. Sie nahmen den Fluß Strake, der, wie Sie vielleicht wissen, mäßig tief ist und mittelmäßig reißend. Die Täuflinge wurden daher von zwei Altgläubigen begleitet, die wie im Buch ›die Leuchtenden‹ genannt wurden. Unglücklicherweise war die Strömung bei einer Zeremonie Ende der Dreißiger so stark, daß nicht einmal die Leuchtenden ihr standhalten konnten und gemeinsam mit ihrem Täufling, einem zehnjährigen Jungen, umgerissen wurden und ertranken. Das Entsetzen der Dorfgemeinde war so groß, daß die Sekte danach verschwand. Mich wundert, daß Sie nichts davon gehört haben. Der Polizei wurde damals Inkompetenz vorgeworfen, weil sie eine solch gefährliche Sache nicht untersagt hatte. Aber vielleicht wurde das polizeiliche Versagen nicht als denkwürdig erachtet, weil ja nur ein Kind gestorben war.«
Dalziel, der gedacht hatte, die gemeinsame Kenntnis der »Pilgerfahrt« würde Wulfstans Einstellung ihm gegenüber ändern, wurde eines besseren belehrt. Aber eine freundliche Antwort milderte den Zorn.
»Und Sie meinen, die Kapelle ist geeignet?« fragte er.
»Wenn man den alten Geschichten glauben kann, gibt es keinen besseren Ort für Gesangsdarbietungen. Ob die Kapelle in so kurzer Zeit hergerichtet werden kann, ist allerdings eine andere Frage. Seit einigen Jahren schon wird sie von einem Tischler als Werkstatt benutzt. Vielleicht erinnern Sie sich an ihn. Joe Telford aus Dendale.«
Verdammt! Er ließ partout nicht locker. Dalziel, für den das Studium von Rache und ewigem Haß zu seinen Lieblingsbeschäftigungen zählte, bewunderte den Mann beinahe.
»Telford«, wiederholte er, um das Spiel mitzuspielen. »Der, dessen Tochter …«
»Genau, Mr. Dalziel. ›Der, dessen Tochter.‹ Telford ist mit seiner Werkstatt nach Danby gezogen, aber er war nie mehr richtig bei der Sache. Sein Bruder George war es – Sie erinnern sich an ihn? –, der das Ganze zusammenhielt. Joe zog sich immer mehr zurück. Seine Ehe litt darunter. Schließlich hielt die Frau es nicht länger aus. Sie lief davon. Mit George.«
Er sprach mit ausdrucksloser Stimme, doch gerade der beiläufige Tonfall verdeutlichte mehr als eine direkte Anschuldigung, daß Wulfstan auch diese Tragödie für eine Folge polizeilicher Inkompetenz hielt.
»Das muß ein schwerer Schlag gewesen sein«, sagte Dalziel.
»Es heißt, Joe habe es kaum mitbekommen.«
»Und das Geschäft?«
»Joe arbeitet nur hin und wieder etwas, glaube ich. Aber er ist noch immer Pächter der Beulah-Kapelle. Wenn er einverstanden ist und wir innerhalb von 48 Stunden seinen Krempel ausräumen, die Kapelle säubern und von der Feuerwehr genehmigt bekommen können, wird das Konzert dort stattfinden. Als freiwillige Amateur-Konzertveranstalter müssen wir uns allerdings an unsere eigene Arbeitskraft halten. Wenn ich also etwas ungeduldig wirken sollte …«
Der Hauch einer Entschuldigung. Lustig, daß die Leute sich einbildeten, sie hätten die Macht, ihn, den geborenen Dickhäuter, zu beleidigen.
»Nein, nein. Ich kenn mich aus mit Termindruck«, erwiderte Dalziel.
Sie gaben einander die Hand. Ein Unentschieden. Aber tief im Innern wußte Dalziel, daß er bei diesem Mann nie der Gewinner sein würde. Mary Wulfstan war das letzte der verschwunden Mädchen aus Dendale. Zu der Zeit war er schon lange genug an der Sache dran gewesen, um es zu verhindern. Wenn man einen Hauptverdächtigen hat und einem die Zeit davonläuft, bricht man dem Kerl lieber die Beine, als ihn laufenzulassen. Wehmütig erinnerte er sich an seinen früheren Vorgesetzten, der ihm diesen Rat gegeben hatte. Vielleicht, wenn er einen »Unfall« provoziert hätte, als sie Benny Lightfoot freiließen, wäre Mary Wulfstan noch am Leben …
Er schob den Gedanken beiseite. Doch an der Haustür kam ihm ein neuer in den Sinn.
Wenn Wulfstan gestern morgen in Danby gewesen war, mußte er die BENNY IST WIEDER DA!-Schmiererei gesehen haben. Warum hatte er sie nicht erwähnt?
Man konnte ja mal fragen. Er drehte sich um. Die Tür war schon fast geschlossen, aber er unternahm nichts mehr dagegen. Aus dem Augenwinkel hatte er seinen Wagen gesehen, und jeglicher Wunsch nach Wiederaufnahme der Befragung verschwand.
An seinem Wagen stand jemand und starrte zu ihm herüber.
Er blinzelte in die blendende Helligkeit hinaus und spürte, wie eine Hitzewelle durch seinen Körper zog, die nichts mit dem Wetter zu tun hatte.
Grund dafür war die Frau, die er kurz in Wulfstans Arbeitszimmer gesehen hatte. Die Frau, der er seine flüchtige Bekanntschaft mit Mahler verdankte. Und viel, viel mehr.
Sie beobachtete sein Herannahen mit einem schwachen Lächeln auf den vollen Lippen.
»Na, wie geht’s, Andy?« fragte sie. »Nicht in Form?«
Es war nicht zu überhören, daß sie seine Sprechweise imitierte, doch er nahm es ihr in keiner Weise übel. Frotzeleien zwischen Liebenden, auch Exliebenden, war ein Ausdruck von Intimität und ehrlicher Zuneigung.
»Nix, das nicht durch deinen Anblick und zwei Gläser vom besten Bier wieder in Ordnung gebracht werden könnte, Cap«, erwiderte er.
Amanda Marvell, von ihren Freunden »Cap« genannt, ließ ihr Lächeln voll erblühen und streckte die Hand aus.
»Na, dann wollen wir mal los und die Genesung vorantreiben, wie?« meinte sie lachend.