172323.fb2 Das Dorf der verschwundenen Kinder - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 26

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Elf

Der Hof Stirps End lag zwischen den wogenden Hügeln in der Sonne wie ein gestrandetes Schiff auf einer Sandbank.

Sie schoben ein Tor auf, das aus den Angeln hing, obwohl sie ebensogut durch die Gartenmauer hätten hindurchgehen können, die an mehreren Stellen eingebrochen war.

»Ich verstehe ja nicht viel von Bauernhöfen«, sagte Pascoe, »aber der hier sieht ziemlich vernachlässigt aus.«

»Cedric war schon immer der Typ Bauer, der zusammengeflickt und improvisiert hat«, erwiderte Clark. »Und in den letzten Jahren nur noch improvisiert.«

»Und Sie meinen, daß Pontifex ihm den Hof aus Schuldgefühl heraus verpachtet hat?« fragte Pascoe, der abschätzig die rostenden Überreste der landwirtschaftlichen Fahrzeuge und Geräte betrachtete, die auf dem Hof verstreut standen. »Da muß die Schuld schon groß sein, um sich das hier fünfzehn Jahre lang anzusehen.«

»Was sind schon fünfzehn Jahre, wenn man ein Kind verloren hat?« meinte Clark.

Pascoe fühlte sich gerügt. Aus der Scheune, die direkt an das Haupthaus gebaut war und sich zur gegenseitigen Unterstützung daran anzulehnen schien, war ein Mann getreten, der nun im dunklen Torschatten stand und die Männer mit müder Feindseligkeit anstarrte.

»Was woll’n Sie denn hier, Nobby?«

Seine Stimme klang rauh und kratzig, als hätte er sie lange nicht benutzt. Sein Alter war ohne medizinische Untersuchung nicht einzuschätzen und lag wohl irgendwo zwischen vierzig und sechzig. Er hatte eine Hakennase, eingefallene Wangen und ein Kinn mit graumeliertem Stoppelbart, der entweder auf starken Bartwuchs oder seltenes Rasieren hindeutete. Schultern und Hüften waren breit, aber der abgetragene und geflickte Overall hing lose an seinem Körper.

»Wie geht’s, Cedric? Das hier ist Inspector Pascoe. Wir würden gern mal mit Jed reden.«

»Der ist bei der Arbeit, wenn man das so nennen kann«, sagte Hardcastle. »Als ob wir hier nicht genug zu tun hätten!«

Man muß schon viel Phantasie haben, oder gar keine, um so zu denken, dachte Pascoe.

»Nein, er ist hier, Sergeant«, erklang eine Frauenstimme.

In der Tür des Bauernhauses erschien eine Frau. Sie war klein und adrett und hatte gerade gebacken. An ihren Händen klebte Mehl. Sie trug eine dunkelblaue Schürze über ihrem grauen Kleid, und ihr langes Haar war unter einem rechteckigen blauen Seidentuch hochgesteckt, das wie ein Schleier aussah. Tatsächlich strahlte sie mit ihrem grauen Kleid, der aufrechten Körperhaltung und der sanften Stimme, die eine tiefe innere Ruhe widerzuspiegeln schien, etwas Nonnenhaftes aus.

»Wie geht’s, Mrs. Hardcastle?« fragte Clark. »Dürfen wir reinkommen?«

Nachdem die Männer sich mit Vornamen angeredet hatten, fiel Pascoe nun die Förmlichkeit der Begrüßung auf. Er bekam den Eindruck, daß die steife Anrede nichts mit mangelnden Gefühlen zu tun hatte. Eher im Gegenteil.

Es war eine Erleichterung, aus der heißen, dungvermischten Luft des Hofes in das kühle Haus zu treten. Doch die Temperatur war nicht der einzige Unterschied zu draußen. Hier deutete nichts auf Vernachlässigung hin, alles war ordentlich und liebevoll gepflegt. Die alten Eichenmöbel glänzten so, wie sie es nur nach jahrelangem, hingebungsvollem Polieren tun, und auf dem langen hölzernen Kaminsims standen zwei blitzende Messingleuchter rechts und links von einem Bilderrahmen mit dem Fotoporträt eines kleinen Mädchens. Von diesem Kind gab es noch mehr Bilder: in der Nische neben dem Kamin, wo früher sicher das Salzfäßchen gestanden hatte, und auf den beiden niedrigen Fensterbänken mit Vasen voller Wiesenblumen, von denen Pascoe Fingerhut und Pippau erkannte, die wie brennende Kerzen einem verschollenen Seemann heimzuleuchten schienen.

»Möchten Sie ein Glas Zitronenmalzbier?« fragte Mrs. Hardcastle.

»Ich wüßte nicht, was ich jetzt lieber hätte«, erwiderte Pascoe.

Sie rief. »Jed, Besuch!« die Steintreppe hinauf, die am Ende des langen, von niedrigen Balken gestützten Raumes emporführte, und ging in die Küche.

Einige Zeit hörte man gar nichts, aber als Mrs. Hardcastle mit einem Tablett voller Gläser und einem Krug aus der Küche zurückkehrte, ertönte Fußgetrappel auf den Stufen, und ein junger Mann stürmte in den Raum.

Er strahlte weder den Argwohn seines Vaters noch die Ruhe seiner Mutter aus, sondern nervöse Unruhe, sobald er stillstand, was nicht oft geschah. Er war schmal gebaut und trug ein schwarzes T-Shirt und eine so enge schwarze Hose, daß man unwillkürlich an Ballettänzer denken mußte. Was passiert wohl, wenn man darin erregt wird? überlegte Pascoe.

»So?« sagte der Junge und starrte Clark herausfordernd an.

»Auch schön, dich zu sehen, Jed«, sagte der Sergeant. »Wir hätten da ein paar Fragen an dich. Wegen Samstag nacht.«

Der Junge musterte Pascoe, der durstig sein erfrischendes Malzbier trank.

»Wer is’n das? Ihr Leibwächter?«

Kehrt ein bißchen zu sehr das Großmaul raus, dachte Pascoe. Vor allem, wo er nicht weiter von der Arbeit weggelaufen war als bis nach Hause. Er hatte vorgehabt, sich zurückzuhalten, um Clark mit seiner nachbarschaftlichen Vertrautheit mehr Spielraum zu geben. Aber den Schwachen verlieh gerade eine solche Vertrautheit Stärke, und Clarks effektivste Verhörmethode würde in diesem Fall wohl kaum Wirkung zeigen.

Er trat näher an den Jungen heran und sagte mit freundlicher Stimme: »Ich bin Detective Chief Inspector Pascoe. Ich führe Ermittlungen wegen eines kleinen Mädchens durch, das gestern morgen verschwunden ist. Wie alt bist du, Jed?«

»Siebzehn, grad geworden.« Er warf seiner Mutter einen seltsam anklagenden Blick zu und sagte: »Wollten Sie mir ’ne Karte schicken, oder was?«

»Nein«, entgegnete Pascoe ruhig. »Ich wollte nur feststellen, ob du vor dem Gesetz ein Erwachsener bist. Dann müssen wir deine Eltern nämlich nicht bemühen, dich zum Revier zu begleiten. Sergeant, abführen!«

Er wandte sich abrupt um. Mrs. Hardcastle machte ein Gesicht, als hätte er ihren Sohn soeben zum Tode verurteilt. Ihr Mann stand im Türrahmen und blickte finster drein. Selbst Clark wirkte schockiert.

Pascoe blieb stehen, ging zurück und sagte: »Wenn du natürlich lieber hier ein paar Fragen beantworten möchtest, müssen wir dich danach vielleicht nicht weiter behelligen. Wer hat den Spruch aufgesprüht? Es ist immer interessant zu sehen, ob die Geschichten zusammenpassen. Warst du das oder Kittle?«

Es funktionierte. Der Junge erwiderte: »Sie haben mit Vern gesprochen? Was hat er gesagt?«

Pascoe lächelte vielsagend. »Tja, du kennst doch Vern.«

»Wovon zum Teufel spricht dieser Verrückte da?«

Hardcastle Senior hatte seine Stimme wiedergefunden.

Pascoe sagte: »Ich spreche von dem Satz BENNY IST WIEDER DA!, den Ihr Sohn und sein Freund an die alte Eisenbahnbrücke und diverse andere Stellen in diesem Ort gesprüht haben. Und in Anbetracht der Tatsache, daß Lorraine Dacre seit gestern morgen verschwunden ist, würde mich interessieren, warum sie das getan haben.«

»Damit hatte das gar nix zu tun«, protestierte der Junge voller Panik. »Wir haben das Samstagnacht gemacht. Da wußten wir doch noch gar nix von dem Mädchen.«

»Und warum habt ihr das getan?« wollte Pascoe wissen. »Aus einer Laune heraus? Dachtet ihr etwa, das wäre lustig? Vielleicht hat gerade dieser Satz irgend jemanden darauf gebracht, sich ein Mädchen zu schnappen. Vielleicht hat er dich und Vernon darauf gebracht …«

»Nein!« rief der Junge. »Ich hab das geschrieben, weil mir dieser Benny Scheiß-Lightfoot bis hier oben steht! Mein ganzes Leben lang verfolgt er mich. Seh’n Sie sich doch um, ob Sie irgendwo ein Bild von mir oder June entdecken können. Nein, nur von Jenny, die vor ewigen Zeiten von Benny Lightfoot geschnappt wurde. Zu ihrem Geburtstag gibt’s sogar Kuchen, mit Kerzen drauf und allem, können Sie sich das vorstellen? Tja, am Samstag hatte ich Geburtstag, und ich hab ausgeschlafen und bin mittags aufgestanden und dachte, es gibt vielleicht Geschenke und ’ne Karte und ein besonderes Essen, und was war? Gar nix war! Meine Mam hockt zitternd da, und Dad tobt rum wie’n Irrer, und wissen Sie, warum? Sie war draußen gewesen und hat Benny Lightfoot gesehen! Ich hab Geburtstag, und alles, was ich zu hören kriege, ist: ›Er ist wieder da, Benny ist zurück!‹ Also bin ich weg, und später hab ich mit Vern ein paar Bier getrunken, und er sagt: ›Tja, wenn er zurück ist, dann können wir’s ja auch allen sagen und sehen, ob wir nicht noch ’n paar Leuten ihren Scheißgeburtstag versauen können.‹«

»Und da habt ihr das an die Wände gesprüht? Tolle Idee«, sagte Pascoe.

Der Junge zitterte vor Erregung nach diesem Ausbruch, doch seine Mutter sah noch viel mitgenommener aus.

»Oh, Jed, es tut mir leid … Es tut mir ja so leid …«

Pascoe begann: »Mrs. Hardcastle, ich muß Sie fragen …«, doch Clark schob sich an ihm vorbei, stieß ihn beinahe aus dem Weg, faßte die Frau am Arm und sagte: »Ich kümmere mich darum, Sir.« Damit führte er sie in die Küche.

Interessant, dachte Pascoe.

Er wandte sich an Mr. Hardcastle. »Haben Sie Lightfoot auch gesehen, Sir?«

»Nein!« bellte er. »Glauben Sie etwa, ich würd ihn seh’n und ihm nicht den Hals umdrehn? Aber ich hab immer gewußt, daß er zurückkommt. Seit Jahren sag ich schon, es ist nicht vorbei, noch lange nicht. Alle, die gedacht haben, daß sie sicher sind, die haben ganz fromm geguckt und gesagt, wie leid es ihnen tut, aber gedacht haben sie die ganze Zeit: ›Gott sei Dank war es dein Kind und nicht meins, Gott sei Dank bin ich noch mal davongekommen.‹ Elsie Dacres Mädchen ist also verschwunden, ja? Die kleine Elsie Coe. Sie war selbst noch ein Mädchen, als es damals passierte, und ich weiß noch, wie ihr Vater sagte, daß er sich drum kümmern würde, daß ihr nix passiert, und wenn er sie in den Keller sperren müßte. Aber es ist doch passiert, oder? Nun ist es doch passiert.«

»Wir wissen noch nicht, was passiert ist, Sir. Aber wir müssen alle Möglichkeiten in Betracht ziehen.«

Er wandte sich dem Jungen zu. Dort sah er keinen Trotz mehr und keine Wut, sondern nur das Gesicht eines unglücklichen Kindes mit Tränen in den Augen.

Hardcastle hatte recht. Egal, ob Benny Lightfoot wirklich zurück war oder nicht – es war noch nicht vorbei, zumindest nicht für diesen Jungen und seine Schwester, weil es für ihre Eltern nie vorbei sein würde.

Gutmütig sagte er: »Du bist sehr dumm gewesen, Jed, und vielleicht muß ich noch einmal mit dir reden. Wie wäre es, wenn du inzwischen wieder zu deiner Arbeit gehst?«

Jed nickte dankbar und schob sich wortlos an seinem Vater vorbei.

Glückliche Familie, dachte Pascoe.

Er ging in die Küche. Clark hatte seine Zeit gehabt. Er fand den Sergeant dicht bei Mrs. Hardcastle am langen Küchentisch sitzen, der von Generationen kräftiger Landfrauen beinahe weiß geschrubbt war.

Als Clark ihn sah, erhob er sich und sagte: »Vielen Dank, Mrs. Hardcastle. Sie hören von mir. Machen Sie’s gut.«

Pascoe ließ sich von ihm aus dem Haus führen. Auf dem Hof blieb er stehen und sagte: »Also gut, Sergeant. Überzeugen Sie mich, daß ich nicht noch mal zurück muß und Mrs. Hardcastle selbst befragen.«

»Sie hat mir alles gesagt, was sie weiß.«

»Und das wäre?«

»Sie ist am Samstagmorgen losgegangen, um Blaubeeren zu pflücken. Blaubeerkuchen ist Jeds Lieblingskuchen, und sie wollte ihm einen zum Geburtstag backen. Die beste Stelle ist ganz oben an der Längsseite vom Tal, wo die Morgensonne hinkommt. Sie ging also dahin, und stieg immer höher und höher bis zum Kamm. Sie sagt, sie wollte runter auf Dendale gucken, weil sie gehört hat, daß das Dorf durch die Dürre wieder zu seh’n ist, aber bisher hatte sie sich noch nicht getraut. Und als sie runterguckte, sah sie da unten Benny Lightfoot, wie er am ehemaligen Neb Cottage rumwandert.«

»Was hat sie also gemacht?«

»Nur dagestanden und geguckt, bis er plötzlich zu ihr raufsah. Er war ein ganzes Stück entfernt, aber sie sagt, sie hätte ihn lächeln gesehen. Da ließ sie all ihre Beeren fallen und rannte den Hang hinunter bis nach Hause.«

»Als sie sagte, sie habe ihn herumwandern sehen, meinte sie da gehen? Mit seinen Füßen? Nicht schweben?«

Clark holte tief Luft und sagte: »Sie ist nicht beschränkt, Sir. Sie hat zwar was durchgemacht, bei dem viele Frauen durchgedreht wären, aber sie hat noch alle Sinne beisammen.«

»Und sehen kann sie auch noch richtig?«

»Hab sie nie klagen hören. Und sie trägt keine Brille.«

»Vielleicht sollte sie. Wie alt sah Lightfoot denn aus?«

»Bitte?«

»War er so alt wie damals, oder sah er fünfzehn Jahre älter aus?«

»Weiß nicht, Sir. Hab nicht gefragt.«

Pascoe schüttelte gereizt den Kopf. Die kühlende Wirkung von Haus und Getränk ließ in der unangenehm heißen Luft rapide nach.

»Sie wissen, daß ich noch mal mit ihr reden muß, oder?« fragte er. »Ich brauche eine ordentliche Aussage.«

»Ja, Sir. Aber noch nicht gleich, Sir«, bat Clark inständig.

»Verzeihen Sie, wenn ich persönlich werde, aber … haben Sie etwas mit Mrs. Hardcastle?«

»Nein«, entfuhr es Clark. Dann fügte er etwas ruhiger hinzu: »Jedenfalls nicht mehr. Früher mal, vor langer Zeit, da war … etwas. Aber sie hatte drei Kinder, es schien nicht recht, auch wenn sie und Cedric … na ja, wer weiß, was passiert wäre. Was tatsächlich passierte, war die Sache mit Jenny. Und das war’s dann. Einige Frauen wären nach so was vielleicht erst recht ausgebrochen. Sie sah es als eine Art gerechte Strafe an. Und so, wie es Cedric mitnahm, wußte sie, daß sie ihn nie verlassen würde, egal, was kommt. Sie hat’s mir so gesagt, obwohl sie das eigentlich nicht mußte. Ich konnte es seh’n … Also sind wir jetzt Sergeant Clark und Mrs. Hardcastle. Aber ich werd nicht zulassen, daß ihr jemand weh tut, Sir. Egal, wer.«

Er klang trotzig.

»Das freut mich zu hören«, sagte Pascoe. »Hören Sie, das beste ist vermutlich, wir vernehmen sie noch einmal unten in der Zentrale, wenn Mr. Dalziel zurück ist. Gehen Sie wieder rein und sagen sie ihr, daß wir sie dort in … sagen wir, zwei Stunden sehen wollen. Bis dahin haben wir genug Zeit, den Superintendent zu verständigen.«

»Ich werd sie fragen, Sir.«

»Nicht fragen – auffordern«, entgegnete Pascoe barsch. »Mitten in einer solchen Untersuchung ist keine Zeit für persönliche Gefühle, Sergeant.«

Würde Clark sich als Hemmschuh erweisen? fragte er sich. Allmählich griff das Dendale-Syndrom um sich. Wie beim Golfkrieg-Syndrom: schwer zu definieren, aber unmöglich zu leugnen, wenn man erst einmal einige Leute getroffen hatte, die darunter litten. Der Dicke womöglich inbegriffen.

Es wäre ihm lieber, wenn Dendale keine Rolle spielen würde, aber alle Wege schienen dorthin zurückzuführen, und bevor er nicht ein Schild sah, das eindeutig in die andere Richtung zeigte, sollte er dieser Richtung folgen, und sei es nur, um sicherzugehen, daß es eine Sackgasse ist.

Er sagte: »Sergeant.«

Clark, der langsam auf das Bauernhaus zuging, wandte ihm sein unglückliches Gesicht zu. »Sir?«

»Dieser Kerl, Benny Lightfoot – wem hat er nahegestanden?«

»Keiner Menschenseele«, meinte Clark. »War ’n richtiger Einzelgänger.«

»Falls er also wirklich zurückgekommen ist, dann wäre da nichts oder niemand Bestimmtes, wo er hingehen würde?«

»Nur Dendale, und da ist jetzt nix mehr für ihn da, nicht mal nach der Dürre. Alle Gebäude wurden niedergewalzt, bevor sie das Tal geflutet haben – auch Neb Cottage, wo er mit seiner Großmutter gewohnt hat.«

»Seine Großmutter. Sie sagten, sie habe einen Schlaganfall erlitten. Was genau ist mit ihr passiert?« erkundigte sich Pascoe.

»Sie stellte sich stur und sagte, sie müßten sie schon aus ihrer Hütte raustragen. Und das mußten sie dann am Ende tatsächlich tun«, erzählte Clark. »Sie hatte sich verbarrikadiert. Ich bin raufgegangen, um sie zur Vernunft zu bringen, und da sah ich sie durchs Fenster auf dem Boden liegen. Ein paar Stunden länger, und sie wär wahrscheinlich hops gewesen.«

»Wie gut, daß Sie so beharrlich waren.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob sie das genauso sah«, meinte Clark. »Ich hab sie im Krankenhaus besucht, und sie schien mir nicht besonders dankbar.«

»Ist sie wieder gesund geworden?«

»Kommt drauf an, wer mit ihr spricht«, sagte Clark und schmunzelte bei der Erinnerung. »Bei jeder offiziellen Frage über Benny verlor sie sowohl Sprache als auch Gedächtnis. Sie war ein bißchen durcheinander und hatte Probleme, die richtigen Worte zu finden, aber es ging ihr bald gut genug, um die Schwestern zu tyrannisieren. Sie wären sie bestimmt gern schon eher wieder losgeworden, aber sie mußten erst einen Platz für sie finden. Sie konnte sich nicht mehr selbst versorgen. Zwar konnte sie irgendwann wieder einigermaßen sprechen, aber sie blieb halbseitig gelähmt. Also mußte sie in ein Pflegeheim, und sie machte ein furchtbares Theater, als das Sozialamt anfing, Heime vorzuschlagen.«

»Aber letztendlich ist sie in eins gegangen?«

»Nein. Eine Nichte tauchte auf. Irgendwo aus der Nähe von Sheffield. Meinte, sie würde sie nehmen. Und das war das letzte Mal, das sie jemand hier geseh’n hat.«

»Vielleicht lebt sie ja noch«, meinte Pascoe.

»Sie wär schon ganz schön alt, aber sie gehört zu denen, die ewig leben, wenn sie denken, daß die andern nur auf ihren Tod warten.«

»Sie können sich nicht zufällig an den Namen der Nichte erinnern?«

»Nein. Aber beim Sozialamt gibt’s vielleicht noch eine Akte.«

»Je nachdem, wer sich damals darum gekümmert hat«, meinte Pascoe ohne großen Optimismus.

»Das kann ich Ihnen sagen. Eine Frau namens Plowright.«

»Sie meinen Jeannie Plowright, die jetzige Bezirksleiterin des Sozialamts?« fragte Pascoe mit neu gewonnener Hoffnung.

»Tja, sie hat ’ne stelle Karriere gemacht«, sagte Clark. »Das dacht ich mir gleich. Jeder, der es mit der alten Mrs. Lightfoot aufnehmen könnte, würde es bis nach oben schaffen.«

Er ging ins Haus. Pascoe zog sein Handy hervor und wählte.

»County Hall.«

»Das Sozialamt. Ms. Plowright, bitte.«

Er mußte warten, Gott sei Dank, ohne mit Musik berieselt zu werden. Dann erklang eine Männerstimme.

»Hallo?«

»Ist Jeannie da?«

»Tut mir leid, sie ist nicht im Hause. Kann ich Ihnen helfen?«

»Nein. Wann ist sie zurück?«

»Nicht vor dem späten Nachmittag, vielleicht am frühen Abend. Hören Sie, wenn es um …«

»Es geht um nichts, bei dem Sie mir helfen können«, sagte Pascoe. »Können Sie garantieren, daß sie eine Nachricht erhält?«

»Sicher, aber hören Sie …«

»Nein. Sie hören. Und zwar genau. Mein Name ist Pascoe. Detective Chief Inspector Pascoe. Sagen Sie Ms. Plowright, ich werde morgen früh um neun Uhr in ihr Büro kommen. Es geht um eine dringende und vertrauliche polizeiliche Angelegenheit, ja? Grund meines Besuchs ist Mrs. Agnes Lightfoot, ehemals wohnhaft Neb Cottage, Dendale. Haben Sie das verstanden? Gut. Danke.«

Er unterbrach die Verbindung. Wie ekelhaft! dachte er schuldbewußt. Clark zusammenzustauchen, weil er Gefühle zeigt! Und jetzt diesem armen Kerl über den Mund zu fahren, ohne in Erfahrung zu bringen, wie er heißt oder was er macht! Hundert Kilo mehr, und man könnte mich glatt mit Dalziel verwechseln.

Das Telefon klingelte.

»Hallo!« bellte er.

»Peter, ich bin’s. Hör zu, mach dir keine Sorgen, aber Rosie ging es in der Schule nicht gut, und Miss Martindale hat mich kommen lassen, und ich hab sie nach Hause gebracht und dachte, es wäre einfach zuviel Sonne gewesen oder so. Aber dann fiel mir Zandra ein, und ich rief Jill an, die sagte, Zandra gehe es noch viel schlimmer, und der Arzt sei gerade bei ihnen, und da machte ich mir doch Sorgen und rief Dr. Truman an. Der ist jetzt hier und sagt, er würde Rosie gern ins Krankenhaus schicken, damit sie ein paar Tests machen … Peter, könntest du bitte schnell herkommen … bitte …«

So hatte er Ellie noch nie gehört. Die Welt erbebte, so als hätte der große Ozean aus Heidemoor beschlossen, sich aufzuwühlen und Stirps End von seiner Sandbank zu schubsen.

Dann wurde alles still.

Er sagte: »Ich mach mich auf den Weg.«

Soviel zur harten Tour, dachte er. Soviel dazu, andere zusammenzustauchen, weil sie persönliche Gefühle und Arbeit vermischten. Dalziel hatte recht. Wenn es einen Gott gab, dann liebte er gute Witze.

Er brüllte: »Sergeant Clark!«

Und rannte auf den Wagen zu.