172323.fb2 Das Dorf der verschwundenen Kinder - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 27

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Zwölf

Als Wield und Novello in Bixford ankamen, mußten sie niemanden nach dem Weg fragen.

Über dem Schild, mit dem Bixford alle vorsichtigen Autofahrer grüßte, ragte eine Reklametafel für die GEORDIE TURNBULL LTD. – ABRISS & AUSHUB auf.

Die Tafel befand sich hinter einem hohen Sicherheitsdrahtzaun, der eine Fläche von etwa 4000 Quadratmetern eingrenzte. In der Mitte stand ein Bungalow, neben dem auf der einen Seite ein leuchtendgelber Bulldozer mit Turnbulls Namenszug in feuerroten Buchstaben und auf der anderen ein hellblauer Volvo Kombi geparkt war.

Er war weder staubig noch schmutzig und funkelte blitzblank im Sonnenlicht.

Novello fuhr durch das offene Tor und parkte neben dem Volvo.

Wield stieg aus, umrundete den Kombi bedächtig und spähte durch die Fensterscheiben. Novello marschierte zum Bungalow und drückte auf die Klingel. Kurze Zeit später wurde die Tür geöffnet. Ein kleiner, gedrungener Mann in Khaki-Shorts, Netzhemd und Espadrilles erschien. Sein strubbeliges blondes Haar war zerzaust, und er rieb sich gähnend die Augen, als sei er gerade aus dem Bett gestiegen. Bei Novellos Anblick jedoch hielt er mitten im Gähnen inne, bekam leuchtende Augen, und sein Begrüßungslächeln ließ in seinem runden, rotbackigen Gesicht die Sonne aufgehen.

»Aber hallo«, sagte er. »Hab grad ’n Nickerchen gemacht, aber dafür lohnt es sich aufzuwachen. Was kann ich für Sie tun, schöne Maid?«

Wenn er sprach, meinte man das Plätschern des Tyne zu hören.

»Sind Sie Mr. Turnbull?« fragte Novello, während ihr Blick auf seine unbekleideten, muskulösen Arme fiel, deren goldener Flaum die Sonnenwärme zu reflektieren schien.

»Ja, der bin ich. Möchten Sie dieser gesegneten Hitze entfliehen und Ihren Durst mit einer Dose Bier stillen? Oder Limonade, falls Sie gekommen sind, um über Christus zu sprechen.«

Sie mußte unwillkürlich zurücklächeln.

Es war erstaunlich. Binnen weniger Sekunden hatte sich Turnbull vom abstoßenden Primitivling mittleren Alters zum amüsanten knuddeligen Koala verwandelt. Es lag zum Teil an seinem strahlenden Lächeln, zum Teil auch an seinem unverhohlen bewundernden Blick, hauptsächlich wohl aber an seiner unzögerlichen Bereitschaft, ihr eine Erfrischung anzubieten, noch ehe er ihr Anliegen kannte. Auf seiner Türschwelle ist der Engländer ein von Natur aus mißtrauisches Wesen, das jederzeit das Schlimmste erwartet. Novello hatte im Verlauf ihres Berufslebens schon an viele Türen geklopft. Sie sah nicht besonders einschüchternd und überhaupt nicht (so hoffte sie zumindest) wie eine Polizistin aus. Doch die übliche Reaktion reichte von neutraler Wachsamkeit bis hin zu offener Feindseligkeit, und das, noch ehe sie sich vorgestellt hatte.

Nun zog sie ihren Dienstausweis hervor und sagte: »Detective Constable Novello. Können wir etwas plaudern, Mr. Turnbull?«

Eine Augenbraue zuckte zweifelnd nach oben, aber sonst gab es keine Veränderung in seinem sonnigen Willkommensgebaren, als er sagte: »Dann wird’s wohl Limonade sein, hm? Kommen Sie rein.«

Dann allerdings gab es eine Veränderung, wie der Schatten einer dünnen hohen Wolke, die so rasch über eine goldene Landschaft hinwegzieht, daß man sie kaum bemerkte.

»Mr. Turnbull.«

Wield war hinter sie getreten. Turnbull hatte ihn wiedererkannt, da war sie sicher. Und die Erinnerung war nicht angenehm. Es wäre interessant zu sehen, ob er die alte Bekanntschaft zugab oder eine Show abzog.

Doch noch ehe sie den Gedanken zu Ende gedacht hatte, drehte Turnbull sein Lächeln um ein weiteres Kilowatt strahlender und sagte: »Mr. Wield, stimmt’s? Aber natürlich stimmt das. Wir sind zwei vom gleichen Schlag, Sie und ich, Sergeant. Einmal geseh’n, nie vergessen.«

Es hätte beleidigend sein können, aber so, wie Turnbull es sagte, klang es fast wie das schmeichelnde Schulterklopfen eines Mannes, der überzeugt war, daß Äußerlichkeiten keine Rolle spielten.

Wield schüttelte die ausgestreckte Hand. »Eine lange Zeit seit Dendale.«

»Da haben Sie recht. Doch scheint es stets wie gestern, oder so ähnlich«, erwiderte Turnbull mit plötzlichem Ernst. »Kommen Sie rein. Drinnen ist es kühler.«

Das stimmte, teils bedingt durch den Schatten, hauptsächlich aber wegen der tragbaren Klimaanlage, die in der Wohnzimmerecke stand. Turnbull war nicht verheiratet, wie Novello von Bella erfahren hatte. Aber dieser Bungalow sah nicht so aus, als fehlte die helfende Hand einer Frau. Warum auch? Männer wie er hatten vermutlich eine ganze Liste mit ortsansässigen Damen, die nur darauf warteten, für ihn zu kochen, zu putzen und ihn rundum zu verwöhnen. Dieser Gedanke sollte eigentlich Empörung in ihr auslösen, doch statt dessen ertappte sich Novello dabei, wie sie einen Sesselschoner glattstrich, bevor sie sich auf den angebotenen Stuhl setzte.

Paß auf, Novello, warnte sie sich selbst. Dieser Typ ist alt genug, dein Vater zu sein. Sie zwang sich, die Dinge wieder wie eine Polizistin zu betrachten. Er las den »Daily Mirror«. Einen Hinweis auf andere Lektüre gab es in dem Raum nicht. Die Möbel waren alt, aber nicht antik, und das Holz schimmerte so schön, wie es nur nach regelmäßigem Polieren vorkam – wieder die Hand einer Frau? Auf die außerdem ein blitzblanker Messingtopf vor dem Kamin hinwies, der mit frischem Farn bepflanzt war. Die Damen der Gemeinde hatten vermutlich eine Art Dienstplan erstellt, und nach dem Blumendienst in der Kirche kümmerte sich die jeweilige dann um Mr. Turnbull. Jetzt fange ich schon wieder damit an! dachte sie. Konzentrier dich. Der Kamin war interessant. Schön, viktorianisch, etwas zu groß für den Raum und sicher nicht zeitgenössisch.

Turnbull war in die Küche gegangen und kehrte nun mit einem Tablett mit einem Krug eisgekühlter Limonade und drei Gläsern zurück. Bei ihrem Eintreten hatten auf dem Couchtisch ein Bierkrug und eine Dose gestanden, doch die hatte er mit hinausgenommen. Wollte er einen klaren Kopf bewahren?

»Prost«, sagte er und hob sein Glas. »Also, was kann ich für Sie tun, Mr. Wield?«

»Steh’n die Geschäfte schlecht?« fragte Wield.

»Hm?«

»Daß Sie mitten am Tag zu Hause sind? Und der Bulldozer steht auch draußen.«

»O nein«, entgegnete Turnbull. »Es ist zum Glück genau umgekehrt. Das Geschäft läuft so gut, daß der Boß es sich leisten kann, seine Jungs mal allein zu lassen, um den Papierkram zu erledigen.«

Wields Blick fiel auf den »Daily Mirror«.

Turnbull lachte und sagte: »Nicht solchen Papierkram. Sie haben mich in meiner Teepause erwischt. Nein, Sie sollten mal mein Büro sehen.«

»Danke«, sagte Wield. »Wo ist das?«

Turnbull machte zunächst ein verdutztes Gesicht, weil seine Bemerkung wörtlich genommen wurde, stand dann aber auf und zeigte den Weg.

Das Büro befand sich dort, wo vermutlich das Gästezimmer des Bungalows geplant gewesen war. Dafür hat Turnbull bestimmt keine Verwendung, dachte Novello. Sie bezweifelte, daß Turnbulls Hausgäste eigene Bettlaken bevorzugten. Das Problem war, je mehr sie ihn als Verführer betrachtete, um so schwerer war es, sich ihn als Kindesmißhandler vorzustellen.

»Haben Sie jemanden, der Ihnen die Buchführung macht, Mr. Turnbull?« wollte sie wissen.

»Himmel, ja! Das ist für einen einfachen Geist wie mich zu schwer. Ich hab da eine sehr nette Dame, die das alles für mich erledigt.«

»Kann ich mir vorstellen. Und die ist heute nicht hier?«

»Nein, ich hab ihr freigegeben«, sagte Turnbull.

Novello zwang sich, Wield keinen bedeutungsvollen Blick zuzuwerfen. Der Bürokraft einen Tag nach der Entführung … der möglichen Entführung freizugeben, das mußte … konnte … könnte von Bedeutung sein.

»Eine Ortsansässige?« fragte Novello.

»Aber ja doch«, erwiderte Turnbull und lachte mit einem so ansteckenden Lachen, daß es schwerfiel, nicht einzustimmen. »Ich wette, Sie denken ›seine Bürobiene‹, hm? Tja, daran hatte ich zuerst auch gedacht, aber dann konnte ich alle möglichen Probleme vorhersehen. Man soll nie Arbeit und Vergnügen vermischen, sagte der Bischof zur Priorin. Dann fand ich meinen Glücksstern. Mrs. Quartermain. Fünfundsechzig. Witwe. Liebt die Arbeit. Und wohnt gleich unten an der Straße, im Pfarrhaus.«

»Im Pfarrhaus?«

»Stimmt, Schätzchen. Sie ist die Mutter vom Pfarrer. Er ist froh, sie mal loszusein, und ich bin froh, daß sie kommt. Aber ich gebe ihr frei, wenn was Bestimmtes los ist, und heute ist Ausflugstag der Senioren. Die würden ohne Mama Quartermain ihre Nase nicht über die Dorfgrenze strecken.«

Er grinste sie an als Einladung, sich seinem Amüsement anzuschließen, obwohl der Witz eigentlich auf ihre Kosten ging. Novello merkte, daß sie zurücklächelte, und versuchte es dann zu verbergen, indem sie nach Wields Reaktion Ausschau hielt.

Wield zeigte keinerlei Reaktion. Er war langsam einmal durch das Zimmer gegangen und hatte Aktenschrank, Pinnwand, Faxgerät und Kopierer begutachtet, die den Raum füllten, aber nicht verstellten. Dies war ein gut organisiertes Unternehmen. Das Unternehmen eines gut organisierten Mannes. War er in der Lage, seine geheimsten Bedürfnisse und Triebe mit derselben Präzision zu organisieren? fragte sich Wield, der über solche Dinge Bescheid wußte.

»Sehr beeindruckend«, meinte er schließlich. »Gute Arbeit, Mr. Turnbull. Sie hatten aber noch kein eigenes Unternehmen, als Sie am Dendale-Staudamm arbeiteten, oder?«

Dendale. Zum zweiten Mal. Und wieder schien es Turnbulls naturgegebene Fröhlichkeit zu trüben. Aber das war normal, oder etwa nicht? Das ginge jedem so, der damals dabeigewesen war. Du meine Güte, der Kerl hat mich schon so weit, daß ich ihn verteidige! dachte Novello.

»Nein, ich hab damals für den alten Tommy Tiplake gearbeitet. Eigentlich als eine Art Juniorpartner. Soll heißen, ich bin auch in den schlechten Zeiten bei ihm geblieben. Er hatte keine eigene Familie, der alte Tommy, oder zumindest keine, die ihm was bedeutete, und wir kamen so prima zurecht, daß ich seinen Laden übernahm, als er sich zur Ruhe setzen mußte. Ich hatte sehr viel Glück. Ich hab nichts getan, um das zu verdienen, aber ich danke Gott jeden Tag für all seine Gaben.«

Während er sprach, waren sie ins Wohnzimmer zurückgekehrt, und als sie sich wieder hinsetzten, hob er die Augenbrauen in Novellos Richtung, um ihr zu verstehen zu geben, daß sie zu den eben erwähnten Gaben dazu gehörte.

»Ich wußte nicht, daß Sie ein so religiöser Mensch sind«, sagte Wield.

»Das kommt wohl mit dem Alter, Mr. Wield. Na ja, es ist eine Abmachung, von der beide Seiten profitieren, oder? Vielleicht ist das der Grund, weshalb ich die Pfarrersmutter beschäftige.«

»Dann werden Sie mit all Ihren religiösen Gefühlen am Sonntagmorgen wohl in der Kirche gewesen sein«, meinte Wield.

»Da war ich tatsächlich«, antwortete Turnbull. »Warum fragen Sie, Mr. Wield?«

Du weißt, warum wir das fragen, dachte Novello. Es war in den Nachrichten. In der Zeitung. Sogar im »Daily Mirror«. Aber vielleicht wußtest du es auch schon vorher …

Es war ein gedanklicher Nachtrag. Berufsbedingt. Sie mußte gegen seinen Charme ankämpfen, der Arbeitgeber dazu veranlaßte, ihm ihre Unternehmen zu überlassen, und Pfarrer, ihm ihre Mütter für die Buchführung zu schicken, und Gott wußte, was noch alles …

»In welchem Gottesdienst?« fragte Wield weiter.

»Morgenliturgie.«

»Die ist um elf, stimmt’s?«

»Stimmt.«

»Und davor?«

»Davor? Lassen Sie mich nachdenken …«

Er runzelte die Stirn in einer Parodie des Nachdenkens.

»Ich bin gegen neun aufgestanden. Ich kann mich erinnern, daß Alistair Cookes ›Letter From America‹ im Radio kam, als ich mich rasierte. Dann hab ich mir Kaffee und Toast gemacht und mich damit hinters Haus gesetzt, weil es schon ganz schön heiß wurde, und die Sonntagszeitung gelesen. Das hat wohl so ungefähr bis viertel vor zehn gedauert. Reicht Ihnen das, Mr. Wield, oder wollen Sie noch mehr?«

Er konnte einen leicht gereizten Unterton nicht verbergen. Oder hätte ihn verbergen können, machte sich nur nicht die Mühe. Oder vielleicht war er überhaupt nicht gereizt.

»Sie waren allein? Haben niemanden gesehen? Niemand hat Sie gesehen?«

»Nicht, bis ich zur Kirche gegangen bin«, erwiderte Turnbull.

»Wie weit liegt die entfernt?«

»Am anderen Ende vom Dorf, etwa eine Meile.«

»Sie gehen zu Fuß dahin?«

»Manchmal. Kommt aufs Wetter an und was ich danach vorhabe.«

»Und gestern?«

»Bin ich gefahr’n. Ich hab ’ne Freundin abgeholt, und wir sind nach dem Gottesdienst raus an die Küste gefahren.«

»Lassen Sie Ihren Wagen immer da draußen stehen, wo er jetzt steht?«

»Nicht immer. Manchmal stelle ich ihn auch in die Garage.«

»Und Samstag abend?«

Er zögerte. War es so schwer, sich daran zu erinnern? Vielleicht überlegte er, wie Novello, worauf Wield hinauswollte – und kam zu dem selben Ergebnis wie sie.

»In der Garage.«

Falls also der Zeitungsjunge sich an keinen Wagen vor dem Haus erinnern konnte, als er irgendwann vor neun Uhr die Zeitung auslieferte, bedeutete das gar nichts.

Novello sah zu Wield. Sie wußte, sogar aus eigener Erfahrung, daß er für seine Gründlichkeit berüchtigt war. Er würde nicht lockerlassen, bis er jeden in nächster und fernster Umgebung befragt hatte, ob er Turnbull am frühen Sonntagmorgen von seinem Haus hatte wegfahren sehen. Nein, korrigierte sie sich, bis ich sie alle befragt habe. Na, toll!

Turnbull stand auf. Er ging aus dem Zimmer, und sie hörten ihn im Flur eine Telefonnummer wählen.

»Hallo, Dickie«, sagte er. »Hier ist Geordie Turnbull. Ja, nicht schlecht, unter den Umständen. Die Umstände sind, daß ich Besuch hab. Die Polizei. Nein, kein Ärger, aber ich glaube, ich hätte dich gern hier, um mir die Hand zu halten. So schnell du kannst. Danke, mein Junge.«

Er kam zurück und sagte: »Dick Hoddle, mein Anwalt, wird uns Gesellschaft leisten, Mr. Wield. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen?«

»Es ist Ihr Haus«, meinte Wield gleichgültig.

»Ja, und da möchte ich auch bleiben«, sagte Turnbull. »Deshalb kommt Dickie her. Eins möchte ich gleich klarstellen, Mr. Wield. Ich hab nicht die Absicht, mich von Ihnen nach Danby bringen zu lassen, um Ihnen bei Ihren Ermittlungen zu helfen. Nicht ohne einen Haftbefehl.«

»Sie haben mich vorhin gefragt, worum es geht«, sagte Wield. »Wie es scheint, wußten Sie das aber schon.«

»O ja, das wußte ich sehr wohl. Ich konnte es nur nicht glauben. Sie haben mir das schon mal angetan, wissen Sie noch? Ich konnte einfach nicht glauben, daß Sie es wieder tun würden, aber das tun Sie tatsächlich, oder nicht?«

»Wir stellen alle möglichen Nachforschungen hinsichtlich des Verschwindens von Lorraine Dacre an, ja«, gab Wield zurück.

»Tun Sie das nur. Und ich hoffe, Sie finden den Scheißkerl, der dafür verantwortlich ist. Aber Sie und Ihre Leute treten mit Ihren Dreckstiefeln in das Leben anderer Leute und denken nicht eine Sekunde über den Mist nach, den Sie hinterlassen. Ich werd nirgendwo hingehen, wo Kameras oder Reporter sind. Alles, was Sie von mir wollen, kriegen Sie hier oder gar nicht.«

»Schön«, sagte Wield. »Und hier wollen wir auch bleiben. Zunächst einmal schätze ich Ihren Willen zur Kooperation, Mr. Turnbull. Wir werden Ihr Grundstück durchsuchen müssen. Und Ihren Wagen. Sind Sie damit einverstanden?«

»Hab ich eine Wahl?«

»Ja. Zwischen früher und später.«

»Na los«, sagte Turnbull und warf Novello seine Autoschlüssel vor die Füße. »Tun Sie, was Sie verdammt noch mal nicht lassen können. Das haben Sie doch immer getan.«

In seiner Stimme schwang Bitterkeit mit, aber auch noch etwas anderes, dachte Novello, während sie die Schlüssel aufhob. Etwas, das beinahe von Anfang an dagewesen war. Etwas wie … Erleichterung?

Doch Erleichterung worüber? Daß seine Verbrechen ihn schließlich einholten? Oder daß uralte Befürchtungen sich tatsächlich bewahrheiteten?

Sie ging hinaus zum Wagen.

Wield marschierte durchs Zimmer und pfiff dabei nicht besonders melodiös ein altes Lied der Pacemakers.

»Schönes Wohnzimmer, Mr. Turnbull«, sagte er, als er seine Runde beendet hatte.

»Wie ich schon sagte, ich hab viel Glück gehabt. Und viele Menschen waren gut zu mir. Tommy Tiplake. Die Leute hier am Ort. Sie werden zu meinen Gunsten aussagen, Mr. Wield.«

Es war beinahe ein Flehen, und Wield war beinahe gerührt.

»Es ist gut, Freunde zu haben«, sagte er. »Ein toller alter Kamin, den Sie da haben.«

»Ja.«

»Ein bißchen groß für den Raum vielleicht. Und er kommt mir irgendwie bekannt vor.«

»Sie haben aber ein gutes Gedächtnis«, meinte Turnbull anerkennend. »Der ist aus dem ›Holly Bush‹ von Dendale. Aus dem Nebenzimmer, erinnern Sie sich? Keine Sorge, der ist bezahlt. Tommy und die anderen Abrißleute haben mit der Wassergesellschaft alles abgerechnet, was sie haben wollten. Das steht bei denen bestimmt noch in den Büchern.«

»Da bin ich sicher«, sagte Wield. »Besser, wenn so was Schönes ein gutes Zuhause findet, als daß es zerschlagen am Grunde des Mere liegt, oder?«

Es herrschte ein Moment gemeinsamer Nostalgie für eine Vergangenheit, durch die der Fortschritt eine sechsspurige Autobahn gepflügt hatte.

Dann rief Novello von der Tür aus: »Chef«

Er ging zu ihr. Sie zeigte ihm zwei durchsichtige Plastiktüten. In einer lag ein weiß-rosa Kinderturnschuh. In der anderen ein blaues, zur Schleife gebundenes Seidenhaarband.

»Das Haarband lag auf dem Rücksitz«, flüsterte sie. »Und der Schuh unter einem Haufen Zeug im Kofferraum.«

Wield dachte schweigend nach. Novello konnte seine Gedanken erraten. Sollten sie Turnbull sofort mit ihrer Entdeckung konfrontieren oder warten, bis die Sachen von den Dacres identifiziert waren?

Die Frage war beantwortet, als Turnbull im Türrahmen erschien.

»Na, was haben Sie da, hübsches Kind?« fragte er.

Er klang völlig neutral. Vielleicht zu neutral unter den Umständen, dachte Novello. Wield ignorierte ihn.

»Gehen Sie zum Funkgerät … nein, lieber ans Telefon«, kommandierte er. »Sagen Sie denen, was los ist und daß ich eine Suchmannschaft und einen Gerichtsmediziner hier haben will. Sofort.«

Schließlich wandte er sich zu Turnbull um. »George Robert Turnbull, ich weise Sie darauf hin, daß alles, was Sie sagen …«