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Das erste Tor, das Pascoe am Krankenhaus erreichte, trug das Schild: »Nur Ausgang«.
Pascoe wendete und brauste die Auffahrt zum aufragenden grauen Gebäude hinauf.
Neben dem Haupteingang war ein freier Parkplatz mit dem Schild »Direktor«. Pascoe scherte knapp vor einem rückwärtsfahrenden Jaguar SJS dort ein. Er stieg aus, knallte die Tür zu und rannte los. Durch das geöffnete Fahrerfenster des Jaguar rief ein Mann erbost: »He Sie! Das ist mein Parkplatz.«
»Scheiß drauf«, rief Pascoe über die Schulter, ohne sein Tempo zu drosseln.
Da er schon mal hiergewesen war, kannte er sich gut aus. Er ließ den Lift links liegen und rannte die Treppen bis zum dritten Stock hinauf. Es kostete ihn keine Mühe. Er keuchte nicht einmal, so als hätte sein Körper das Bedürfnis zu atmen eingestellt. Am Ende der Kinderstation war ein Wartezimmer. Durch die geöffnete Tür sah er Ellie. Er trat ein, und sie fiel ihm in die Arme.
»Wie geht es ihr?«
»Sie machen ein paar Tests. Sie sagen, es könnte Hirnhautentzündung sein.«
»O Gott! Wo ist sie?«
»Erste Tür links, aber sie sagen, wir sollen warten, bis sie uns sagen …«
»Bis sie uns was sagen? Daß es zu spät ist?«
»Peter, bitte. Derek und Jill sind auch hier …«
Jetzt erst bemerkte er die Purlingstones, die sich auf dem Sofa umklammerten. Der Mann versuchte zu lächeln, doch es wollte nicht recht gelingen.
Pascoe versuchte es gar nicht erst.
Er löste sich aus Ellies Umarmung und ging aus dem Wartezimmer geradewegs durch die erste Tür links.
Es war ein kleines Krankenzimmer mit nur zwei Betten. In dem einen sah er den Blondschopf der kleinen Zandra Purlingstone.
Im anderen lag Rosie.
Ein Haufen Ärzte und Schwestern stand herum. Ohne sie zu beachten, ging Pascoe zum Bett und nahm die Hand seiner Tochter.
»Rosie, Liebes«, sagte er. »Daddy ist hier. Ich bin hier, mein Liebling. Ich bin hier.«
Für den Bruchteil einer Sekunde schien es ihm, als würden die dunklen Wimpern zucken und die dunklen, fast schwarzen Augen im Wiedererkennen aufleuchten. Dann waren sie wieder ruhig, und nichts deutete darauf hin, daß Rosie überhaupt atmete.
Jemand nahm ihn am Arm. Eine Stimme sagte: »Bitte, Sie müssen gehen. Sie müssen draußen warten. Bitte, lassen Sie uns unsere Arbeit tun.«
Dann sagte Ellies Stimme: »Komm mit, Peter. Um Rosies willen, komm mit.«
Er war wieder im Korridor. Die Tür wurde geschlossen. Seine Tochter verschwand aus seinem Blickfeld.
Er sagte zu Ellie: »Sie hat mich erkannt. Wirklich, das hat sie. Nur eine Sekunde lang. Sie weiß, daß ich hier bin. Sie wird wieder gesund.«
»Ja«, sagte Ellie. »Natürlich wird sie das.«
Zwei Männer kamen den Gang entlang. Der eine trug die Uniform des Sicherheitsdienstes, der andere einen elegant geschnittenen, leichten Leinenanzug.
Der Anzug sagte: »Das ist der Kerl. Ganz schön frech, Sie!«
Die Uniform sagte: »Entschuldigen Sie, Sir, aber Mr. Lillyhowe sagt, Sie haben Ihren Wagen auf seinem reservierten Parkplatz abgestellt.«
Pascoe sah die beiden eine ganze Weile mit ausdruckslosem Gesicht an, dann sagte er langsam: »Ich bin mir nicht sicher …«
»Tja, ich bin mir absolut sicher«, bellte der Anzug. »Das waren Sie. Und Sie haben mich beleidigt …«
»Nein«, erwiderte Pascoe und ballte die Fäuste. »Ich meine, ich bin mir nicht sicher, wen von Ihnen ich zuerst schlagen soll.«
Der Anzug trat einen Schritt zurück, die Uniform einen halben.
Ellie stellte sich schnell dazwischen.
»Um Himmels willen«, sagte sie aggressiv. »Unsere Tochter ist da drin …«
Ihre Aggressivität ließ nach, verschwand. Sie holte tief Luft und versuchte es erneut.
»Unsere Tochter ist … Rosie ist …«
Zu ihrer Überraschung mußte sie feststellen, daß es selbst für sie keine Worte mehr gab. Und keinen Raum außer dem kleinen Krankenzimmer, das das kostbare Leben ihrer Tochter beherbergte. Und vor allem gab es keine Zeit mehr.
Sie saß in einem Wartezimmer und starrte auf ein Poster, das die Vorzüge des Patientenvertrages verkündete. Peter war auch da, aber nach ein paar fruchtlosen Unterhaltungsversuchen gaben sie sich keine Mühe mehr zu reden. Warum reden, wenn alle Worte gesagt waren? Die Purlingstones waren nicht da. Vielleicht saßen sie in einem anderem Raum. Vielleicht brachten sie eine auf wundersame Weise genesene Zandra nach Hause. Wie auch immer, es war ihr egal. Ihr Schmerz, ihre Freude bedeuteten ihr nichts. Nicht jetzt. Nicht in dieser hilflosen, hoffnungslosen, endlosen Gegenwart.
Etwas geschah. Ein Geräusch. Peters Handy. Sollte die Zeit etwa wieder beginnen?
Er hob es ans Ohr. Formte etwas mit den Lippen. Dii. Ell. Dalziel. Der dicke Andy. Sie erinnerte sich an ihn wie in einem Traum. Überfüttert, alt, belanglos. Peter redete mit ihr. »Alles in Ordnung?« Sie nickte. Warum nicht? Er sagte: »Ich geh nach draußen.«
Im Korridor hob Pascoe das Handy wieder ans Ohr, was eine überflüssige Geste war, da Dalziel ihn in voller Lautstärke anbrüllte: »Hallo! HALLO! Sind Sie da? Dieses nutzlose Scheißding …«
»Ja, ich bin da«, sagte Peter.
»Ach ja? Wo ist da? In irgendeiner verdammten Kohlengrube?«
»Im Zentralklinikum«, antwortete Pascoe. »Rosie ist hier. Sie sagen, daß sie vielleicht Meningitis hat.«
Es herrschte Stille, dann erklang ein gewaltiges Krachen, als schlage eine Faust auf etwas Hartes, und Dalziels Stimme erklärte finster: »Das werd ich nicht zulassen!«
An wen oder was er seine Äußerung richtete, war unklar. Es folgte noch einmal Stille, diesmal aber kürzer, dann sprach er wieder mit seiner alltäglichen sachlichen Stimme.
»Pete, sie wird wieder okay. Ist ’n kleines zähes Luder, wie ihre Mam. Sie wird’s schaffen, keine Sorge.«
Es war vollkommen unlogisch, aber irgendwie tröstete ihn diese direkte Beteuerung ohne tonloses Mitleid und Detailfragen mehr als jede Versicherung eines qualifizierten Arztes.
Er sagte: »Danke. Sie ist … bewußtlos.«
Er merkte, daß er das Wort »Koma« nicht aussprechen konnte.
»Das ist das beste«, entgegnete Dalziel voll ehrlicher Überzeugung. »Eine Auszeit, um wieder zu Kräften zu kommen. Pete, hören Sie, wenn ich was tun kann, irgendwas …«
Auch dies war kein konventionelles Hilfsangebot. Pascoe hatte den Eindruck, wenn er andeutete, das Krankenhaus tue nicht genug, daß der Direktor sich in einem Verhörzimmer wiederfände und ein Angebot bekäme, das er nicht ausschlagen könnte.
»Das ist nett von Ihnen«, sagte er. »Gab es einen bestimmten Grund, warum Sie angerufen haben, Sir?«
»Nein, nix. Na ja, genau gesagt, haben wir einen Verdächtigen. Ich bin grad auf dem Weg nach Danby. Wahrscheinlich wird’s aber nix. Hören Sie, Pete, vergessen Sie den Fall … tja, das brauch ich Ihnen wohl nicht mehr zu sagen. Aber … haben Sie irgendwas rausgefunden, das ich wissen sollte und das mir kein anderer sagen kann?«
»Ich glaube nicht«, antwortete Pascoe. »Nobby Clark kann Ihnen alles über … oh, warten Sie, ich habe für morgen früh neun Uhr ein Treffen mit Jeannie Plowright im Sozialamt ausgemacht. Es geht um Mrs. Lightfoot, die Großmutter. Da gibt’s ein paar Aussagen, daß Benny gesehen wurde, Clark kann Sie darüber informieren, und ich dachte, die alte Dame ist der einzige Mensch, mit dem er vielleicht Kontakt aufnehmen könnte, wenn sie noch lebt, was ich bezweifle, und wenn er da ist, was ich aber noch mehr bezweifle. Ist wahrscheinlich das beste, es abzusagen, wenn Sie einen besseren Strohhalm haben.«
»Nein, wir belassen es dabei, bis wir mehr wissen. Pete, ich melde mich wieder. Denken Sie dran: wenn ich was tun kann … Und liebe Grüße an Ellie. Sagen Sie ihr …«
Und Dalziel, mit seinem Füllhorn voll Worten, schien ausnahmsweise einmal sprachlos.
»Ja«, sagte Pascoe. »Ich sag’s ihr.«
Er verharrte einen Augenblick ganz still, als ob die Uhren stehengeblieben wären und seine Bewegung sie wieder zum Ticken brächte. Eine Schwester ging an ihm vorbei, blieb stehen, drehte sich um und sagte: »Entschuldigung, Sir, aber hier drin bitte keine Handys benutzen. Sie können Störungen hervorrufen.«
»Störungen?« sagte Pascoe. »Ja. Natürlich. Tut mir leid.«
Er ging zurück ins Wartezimmer und legte seinen Arm um Ellies Schultern.
»Andy läßt dich schön grüßen. Er sagt, sie wird wieder okay.«
»Ach, wirklich? Wie schön! Das war’s dann wohl. Gehen wir nach Hause.«
»Ach, komm schon«, meinte er. »Wen hättest du lieber als Optimisten? Den Papst oder den Dicken?«
Sie brachte ein schwaches Lächeln zustande und sagte: »Gewonnen.«
»Ein Stockwerk tiefer gibt es eine Kaffeemaschine, schau, da steht’s. Laß uns hingehen und was trinken.«
»Und wenn inzwischen was passiert …«
»Es dauert nur eine Minute. Besser, als hier rumzusitzen … alles ist besser … Alles wird wieder gut, Liebling. Onkel Andy hat’s versprochen, du weißt.«
Die Tür ging auf. Eine Frau trat ein. Dr. Curtis. Sie war die Kinderärztin.
Sie kam gleich zur Sache.
»Ihre Tochter ist sehr krank. Ich fürchte, wir können jetzt bestätigen, daß es Meningitis ist.«
»Welche?« wollte Ellie wissen.
»Bakterielle.«
Das war die schlimmste der beiden Varianten. Selbst wenn er das nicht gewußt hätte, hätte Pascoe es an Ellies Gesichtsausdruck ablesen können.
Er legte seinen Arm um sie, aber sie entwand sich ihm. Sie suchte nach jemandem, den sie schlagen konnte, so wie es ihm bei dem Direktor und dem Sicherheitsmann gegangen war.
»Ellie …«
Sie drehte sich zu ihm um und schrie: »Was sagt Onkel Andy jetzt, hm? Was sagt der feiste Scheißkerl jetzt?«