172323.fb2 Das Dorf der verschwundenen Kinder - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 30

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Fünfzehn

Edgar Wield war mit sich zufrieden. Er hatte in Bixford die Durchsuchung arrangiert und Geordie Turnbull nach Danby gebracht, ohne bislang die Aufmerksamkeit einer dieser Aasgeier zu wecken, die sich Reporter schimpfen. Das einzig Negative war, daß Turnbulls Anwalt ebenfalls anwesend war und gerade mit seinem Klienten im einzigen Verhörzimmer der Polizeiwache saß.

Dann kam Nobby Clark und erzählte ihm von Pascoe.

Keine Einzelheiten. Nur daß Rosie im Krankenhaus lag. Wield wurde übel. Die Pascoes bedeuteten ihm viel, waren für ihn so was wie Familie, und zwar die einzige, die ihm geblieben war, seit seine Schwester emigriert war. Edwin … Edwin war etwas anderes. Er stand ihm näher, ja. Aber war er wichtiger? Nein, nur auf andere Weise wichtig. Er blickte zum Telefon. Er könnte anrufen und herausfinden, was passiert war. Doch er zögerte. Er versuchte zu ergründen, warum. Angst vor dem, was er vielleicht hören würde? Das gewiß. Aber da war noch mehr … Er horchte in sich hinein und stellte entgeistert fest, daß er sich irgendwie schuldig fühlte. Aber weswegen? War er so engstirnig, diese Störung seines neugewonnenen persönlichen Glücks übelzunehmen? Das wäre tatsächlich Grund genug, sich schuldig zu fühlen. Er hoffte inständig, daß dies nicht der Grund war. Aber wenn nicht das, was dann? Er dachte weiter nach, sah es deutlicher, konnte es dennoch nicht glauben. Mußte es schließlich aber. Er fühlte sich verantwortlich. Es war wie eine Ausweitung seiner Gefühle gegenüber dem Fall mit dem vermißten Kind. Irgendein zynischer, selbstverachtender Teil seiner Seele glaubte nicht daran, daß er glücklich sein durfte, und war deshalb überzeugt, daß für jedes Quentchen Glück, das er erlebte, jemand anders weniger bekam. Es war absurd – eine Art von Egozentrik, die ebenso widerwärtig war wie eitle Selbstsucht. Doch er zögerte noch immer, den Telefonhörer abzunehmen. Ihm war, als würde er sich damit zum Urheber aller schlechter Nachrichten ernennen, die ihn bei seiner Nachfrage erwarteten.

»Der Superintendent ist grad vorgefahr’n«, verkündete Clark, während er ins Büro kam und nervös sein Äußeres im glasgerahmten Bild der Queen überprüfte.

Angst vor Dalziel war eine gesunde Grundeinstellung, aber der Glaube, daß er sich durch glänzende Messingknöpfe, polierte Schuhe oder sonstigen Blödsinn besänftigen ließ, bedeutete, daß man über das normale Maß hinaus Grund zur Angst hatte, dachte Wield, froh über die Ablenkung.

Er ging auf den Hof und sah den Dicken in seinem Wagen sitzen. Wie es aussah, hatte er keine Lust auszusteigen. Der Sergeant trat ans Fahrzeug und öffnete die Tür wie ein Portier.

»Wie geht’s Ihnen, Sir?« fragte er. »Ich habe schlechte Nachrichten. Clark sagt, der Chief Inspector …«

»Hab grad mit ihm gesprochen. Wahrscheinlich Hirnhautentzündung. Sie liegt im Koma.«

Da war es. Das Schlimmste. Nein, nicht ganz das Schlimmste. Das stand noch bevor … und wartete vielleicht schon auf seinen Anruf.

»Verdammte Scheiße!«

»Ja, das faßt die Situation im großen und ganzen zusammen. Aber wir können da nix tun, also tun wir lieber hier unsre Arbeit.«

Er stieg aus dem Wagen. Wield, den diese Zurschaustellung stoischer Gelassenheit nicht täuschen konnte, blickte auf das zersprungene Armaturenbrett des Fahrzeugs.

»Hatten Sie Ärger, Sir?«

»Na ja«, erwiderte Dalziel und rieb sich die linke Hand. »Der Tacho hat geklemmt, da mußte ich mal draufhaun.«

»Hoffentlich komme ich nicht mal in die Klemme«, murmelte Wield und schloß vorsichtig die Tür.

»Hoffentlich kommen Sie gleich in die Gänge«, sagte Dalziel. »Turnbull. Von Anfang an.«

Wield war der Schubert der Berichterstatter. Er faßte in einem kurzen Opus zusammen, wofür andere sich mit Sinfonien abmühen würden. Selbst die geistige Anstrengung, die Neuigkeiten über Rosie zu verdauen, minderte nicht seine Ausdrucksfähigkeit, und während des kurzen Wegs vom Parkplatz bis ins Polizeibüro, wo Sergeant Clark bei Dalziels Anblick augenblicklich strammstand, hatte er den Dicken über alles informiert.

Als er Turnbulls Anwalt erwähnte, mußte Dalziel schmunzeln. Es gefiel ihm, wenn die Verdächtigen gleich schreiend zu ihren Rechtsvertretern rannten.

»Dick Hoddle? Bei dem die Nase zur einen und die Zähne zur andern Seite geh’n?«

»Genau der.«

»Bißchen teuer für jemanden wie Turnbull, würd ich meinen.«

»Er ist ganz gut im Geschäft, Sir. Sein alter Boß hat ihm die Firma überlassen, oder so was.«

»Ja, so was mußte es wohl sein«, sagte Dalziel. »Schien mir nicht der Typ, der seine Kröten aufspart. Also, was meinen Sie, Wieldy?«

»Turnbull macht bisher brav alles mit. Na gut, er hat Hoddle angerufen, aber wer würde das unter den Umständen nicht tun? Verzichtete auf sein Recht, bei der Durchsuchung anwesend zu sein. Hoddle war nicht besonders glücklich darüber, aber Geordie sagte so was wie: Wenn’s um Drogen ginge, wär’s was anderes, weil jeder weiß, daß die Bullen den Mist überall verstecken, aber nicht mal die Mid-Yorkshire-Kriminalpolizei wäre in der Lage, jemandem in so einem Fall was unterzuschieben.«

Ohne beleidigt zu sein, entgegnete Dalziel: »Der ist nicht blöd. Dieser Turnschuh und das Haarband aus dem Auto …?«

»Novello ist damit gerade auf dem Weg zu den Eltern. Die Sachen stimmen nicht genau mit der Beschreibung überein, was die Kleine angehabt haben könnte, sind aber auch nicht meilenweit entfernt.«

»Und Turnbull sagt dazu …«

»Anscheinend nimmt er oft Kinder in seinem Wagen mit. Tut viel für die Leute da, kutschiert sie herum, Kinder zu Fußballspielen, solche Sachen. Aber nicht nur Kinder. Alte Leute, Behinderte und so weiter. Er ist ziemlich beliebt.«

»Das war der Duke of Windsor auch«, sagte Dalziel. »Sie haben mir immer noch nicht gesagt, was Sie denken.«

»Dasselbe wie in Dendale. Ich denke, daß jeder, der ihn kennt – selbst der eine oder andere Ehemann, der ihn nicht leiden kann –, verwundert wäre, wenn er unser Mann ist«, erwiderte Wield. »Und ich denke, das wäre ich auch. Was bedeutet, daß er entweder sehr, sehr clever ist oder wir woanders suchen sollten.«

»Ach ja? Irgendwelche Vorschläge?«

Wield holte tief Luft und sagte: »Da sollten Sie vielleicht mal mit Sergeant Clark reden, Sir.«

»Das werd ich, wenn er sich von seinem Anfall erholt hat. Können Sie mich hören, Sergeant, oder ist das schon die Totenstarre?«

Clark, der sich gemäß dem Prinzip ›kein Risiko – keine Reue‹ entschieden hatte, in einer Art Habachtstellung zu verharren, entspannte sich.

»Besser so, Junge. Ich vermute, Sie haben mir irgendwelche Geistergeschichten zu erzählen, Sir. Raus damit.«

Clark hatte wenig von Wields Wortgewandtheit, und Dalziel machte aus seiner Ungeduld kein Hehl.

»Soso, Mrs. Hardcastle, die jeder für ’n bißchen kraus im Kopf hält vor Trauer, hat also angefangen, irgendwelche Dinge zu sehen? Klingt, als sollte sie lieber mit ihrem Arzt reden und nicht mit hart arbeitenden Polizisten. Meinen Sie nicht auch, Clark?«

Clark, dem die Tücke fehlte, seine Abneigung gegen Dalziels abwertende Bemerkung über Molly Hardcastle zu verbergen, sagte: »Ich glaub, sie hat wirklich was geseh’n, Sir.«

»Ach was!« Dalziel spuckte die Worte aus wie eine Cocktailkirsche, die sich in einen zwanzigjährigen Whiskey verirrt hatte. »Sie meinen, so was wie’n Schaf? Oder ’n Busch? Oder was?«

Der Sergeant wurde durch das Eintreten Shirley Novellos gerettet.

»Ivor, lassen Sie die Sonne aufgeh’n. Sagen Sie mir, daß die Dacres die Sachen aus Turnbulls Wagen wiedererkannt haben.«

»Der Turnschuh gehört definitiv nicht Lorraine«, antwortete sie. »Aber das Haarband – könnte sein. Lorraine trug gerne Haarbänder, sammelte sie, tauschte mit Freundinnen, also hatte sie eine ganze Schachtel voll. Keiner kann sagen, was für welche da drin waren und welches sie an dem Morgen umgebunden hat. An dem Band aus Turnbulls Wagen war ein Haar, und das vergleichen sie gerade mit denen aus Lorraines Zimmer. Wird aber noch eine Weile dauern.«

»Na toll«, brummte Dalziel. »Das bedeutet, daß mir ein Frettchen im Hosenbein sitzt.«

Mit anderen Worten, wenn er Turnbull zu lange dabehielte, würde er anfangen zu beißen, und wenn er ihn zu früh gehenließe, würde er auf Nimmerwiedersehen im nächsten Loch verschwinden, mutmaßte Novello.

Der Dicke musterte sie nachdenklich.

»Das waren Sie, die als erste auf Turnbull kam, ja?«

»Mit Sergeant Wields Hilfe«, antwortete sie vorsichtig.

»Nein. Ehre, wem Ehre gebührt. Gute Arbeit. Schon wieder.«

Er klang nicht so, als erwarte er, daß sie es zur Gewohnheit werden ließ.

»Und? Was halten Sie von diesem Turnbull? Damals in Dendale hieß es, er würd den Frauen den Kopf verdrehn. Also, wie ist die weibliche Sicht? Er hat’s noch drauf, oder?«

»Er ist … attraktiv«, erwiderte Novello. »Nicht körperlich, ich meine, nicht sein Äußeres, aber er hat … Charme.«

»Charme?« Dalziel ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen. »Würden Kinder ihn mögen?«

»O ja. Ganz bestimmt.«

»Und könnte er Kinder mögen?«

»Sie meinen sexuell? Ich weiß nicht. Ich würde sagen, daß er auf reife Frauen fixiert ist, vor allem solche, die verheiratet sind und nichts gegen eine kleine Affäre nebenbei haben, ohne Schaden anzurichten …«

»Aber?« drängte Dalziel, der ein Aber schon dann spürte, wenn der Aber-Sager noch gar nicht daran dachte.

Novello zögerte. Dann schoß sie ihre Vorsicht in den Wind.

»Aber es könnte eine Finte sein. Oder keine Finte, jedenfalls nicht bewußt. Er könnte hinter Frauen her sein, weil er sich nicht eingestehen will, daß er in Wahrheit hinter kleinen Mädchen her ist …«

Dalziels Gesichtsausdruck ließ sie wünschen, sie könnte den Wind wieder einfangen.

Er sagte: »Tja, danke, Frau Freud. Haben Sie sich am Meßwein vergangen, oder haben Sie auch nur den halben Ansatz einer Begründung für diesen Schwachsinn?«

»Er ist wegen irgendwas nervös, das spüre ich«, verteidigte sich Novello.

Es klang für sie viel schwammiger und nichtssagender als ihre vorherige Spekulation, doch zu ihrem großen Erstaunen nickte Dalziel beinahe anerkennend und sagte: »Na, das ist doch was. Wieldy?«

»Genau. Würde ich auch sagen, Sir.«

Novello hätte ihn küssen mögen. Vielleicht verwandelte er sich in einen Frosch?

»Also gut, dann wolln wir mal reingeh’n und ein bißchen plaudern, ehe Hoddle das Innenministerium verständigt.«

»Soll ich mitkommen?« fragte Novello hoffnungsvoll.

Dalziel überlegte und schüttelte dann den Kopf.

»Nein. Keine Ablenkungen.« Als er ihren enttäuschten Blick sah, den sie diesmal nicht verbergen konnte, ließ er sich zu einer Erklärung herab. »An diesen Turnbull kann ich mich noch gut erinnern, und Männer wie den kenn ich gut. In Gegenwart von Frauen blühn die auf. Können nix dafür. Wenn Sie ihn kopfüber über ’ne Wanne Maden hängen und eine Frau in den Raum lassen, geht’s ihm sofort besser. Ich will aber nicht, daß es ihm bessergeht. Ich will, daß er die Hosen voll kriegt. Kommen Sie, Wieldy. Und vergessen Sie die Maden nicht!«

Und Novello, die den beiden nachblickte, hatte beinahe Mitleid mit Geordie Turnbull.

Dalziel hatte drei Stunden später mit niemandem Mitleid außer mit sich selbst. Dazu hatte er schreckliche Kopfschmerzen.

Sie rührten von Dick Huddle her und wollten einfach nicht verschwinden, jedenfalls nicht bevor Geordie Turnbull abtauchte.

Was die Sache nicht gerade leichter machte, war, daß das Verhörzimmer des Reviers das Nebenzimmer des »Book and Candle« (an das er mit großer Sehnsucht zurückdachte) wie die Albert Hall erscheinen ließ. Sein einziges Fenster ließ sich nicht öffnen (die Folge von Farbe und Rost, und nicht etwa Sicherheitsvorkehrungen), und selbst mit weit geöffneter Tür hätte man in der Hitze Pfannkuchen backen können.

Hoddle war ganz offensichtlich ein akribischer Mensch. Jede Stunde um dieselbe Zeit plädierte er für ein Ende des Verhörs, und jedesmal mit schärferen Argumenten. Dies war das dritte Mal.

»Mein Klient war überaus kooperativ, weit über das normale Maß an Gesittung hinaus, und zwar in jeder einzelnen ihrer grundlegenden Bedeutungen …«

Er hielt inne, wie um Dalziel zur Nachfrage einzuladen, doch der Dicke tat ihm diesen Gefallen nicht. Es gab Zeiten, vor der Einführung des obligatorischen Tonbandgeräts in Verhörzimmer, in denen er angeboten hätte, jeden einzelnen verdammten Zahn des Anwalts in seinen verdammten Hals zu rammen, wenn er nicht still wäre und seinen Klienten für sich selbst sprechen ließe. Das wäre zwar nicht besonders fair gewesen, da Turnbull einige Male gegen den Rat seines Anwalts auf Fragen geantwortet hatte, aber Dalziel fühlte sich nicht besonders fair, sondern nur besonders beschissen.

»… und da mir als vernünftigem Menschen bereits vor zwei Stunden klarwurde, daß er keinen Grund hat, Ihnen zu antworten, kann ich nur vermuten, daß selbst Sie, verehrter Superintendent, mittlerweile zu derselben Ansicht gelangt sind. Sie haben natürlich das Recht, ihn vierundzwanzig Stunden lang ab dem Zeitpunkt der Festnahme festzuhalten …«

»Und weitere zwölf, wenn ich es will«, warf Dalziel dazwischen.

»Sehr wohl. Aber geben Sie es zu, Superintendent, es besteht keine Aussicht, daß Sie meinen Klienten mit irgend etwas belangen können, also wird jeder Versuch, die Qualen unnötig zu verlängern, als Boshaftigkeit ausgelegt werden können und sicherlich jeder Anzeige wegen polizeilicher Schikane und fälschlicher Verhaftung Gewicht verleihen, die Mr. Turnbull möglicherweise bereits jetzt in Erwägung zieht.«

»Nein«, sagte Geordie Turnbull mit Nachdruck. »Nichts dergleichen. Wenn ich hier raus bin, werd ich froh sein, die nächsten fünfzehn Jahre nichts mehr mit der Polizei zu tun zu haben.«

Dalziel registrierte die Zeitspanne, versuchte sie als ein Geständnis zu interpretieren, daß Turnbulls Tötungsdrang abgeklungen war und erst in fünfzehn Jahren wieder erwachen würde, was ihm jedoch mißlang, woraufhin er sich so heftig am Kinn kratzte, daß die Nadel des Tonbandgeräts ausschlug.

Hinter ihm öffnete sich die Tür. Er sah sich um. Es war Wield, der einige Minuten zuvor von Novello hinausgebeten worden war. In seinem Gesicht konnte man nicht leicht lesen, aber Dalziels geübtes Auge erkannte, daß er nicht besonders glücklich war.

Zumindest erlaubte ihm das eine kurze Verschnaufpause. Er unterbrach das Verhör, schaltete das Band ab und ging hinaus auf den Korridor.

»Erheitern Sie mich«, lud er Wield ein.

»Um die Ecke im ›Queeds Head‹ gibt es gutes Bier.« Wield warf einen mitleidsvollen Blick auf Dalziels schweißbeperlte Stirn.

»Das war’s?«

»Zur Erheiterung, ja, Sir. Nachricht vom Gerichtsmediziner. Das Haar am Haarband stammt definitiv nicht von Lorraine. Und auch sonst nichts aus dem Wagen, womit nachgewiesen werden könnte, daß sie jemals drin gesessen hat. Dasselbe gilt für Novellos Müllsammlung.«

»Verdammt«, sagte Dalziel.

»Sie denken wirklich, er war’s, Sir?«

Dalziel zuckte mit den Schultern. »Gott, ich hasse diesen Mistkerl. Ich würd ihn wirklich gern einbunkern und den Schlüssel wegschmeißen.«

»Turnbull?« fragte Wield erstaunt.

»Nein! Hoddle, diesen verdammten Anwalt. Noch mehr gute Nachrichten?«

»Nicht aus Bixford. Wenn Turnbull sich als Abgeordneter aufstellen ließe, würden sie ihn wählen. Die Damen finden ihn reizend, und die Männer halten ihn für einen tollen Kumpel, solange er nicht gerade mit einer ihrer Frauen schäkert. Der Pfarrer ist bereit, das Kirchensilber zu verpfänden, falls Geordie eine Kaution braucht. Und die Gemeinde würde lieber all ihre Kinder Geordie Turnbull anvertrauen als dem örtlichen Kinderarzt.«

»Ach ja? Das wird sich bestimmt ändern, sobald Gerüchte aufkommen und die Leute sich das Maul zerreißen. Diese Christen können alles vergeben, nur keine Unschuld. Glauben Sie, er ist unschuldig, Wieldy?«

Wield zuckte mit den Schultern. »Das macht keinen Unterschied, oder? Wenn er’s nicht war, haben wir eine Menge anderer Verdächtiger, oder nur ein paar … Ich glaube, wir stecken fest. Wie steht’s mit Ihnen, Sir?«

»Ich weiß nicht«, antwortete der Dicke. »Irgendwas ist da faul … er ist nicht wütend genug, vielleicht ist es das. Hoddle droht mit allen möglichen Klagen wegen fälschlicher Verhaftung und solchem Scheiß, aber Turnbull sitzt nur gelassen und großmütig da. Und das, obwohl er aus Newcastle stammt! Wenn die Typen von da aufhörn, dir zu erzählen, wie oft sie die Meisterschaft gewonnen haben, fangen sie an, alle Fehlentscheidungen gegen ihre Mannschaft seit 1893 aufzuzählen.«

»Ich bezweifle, daß das vor Gericht ein Beweisgrund wäre, Sir.«

»Wahrscheinlich nicht. Von Burroughs nix?«

»Rein gar nichts. Sie haben das ganze Tal hin und zurück durchgekämmt. Sie wartet auf weitere Anweisungen.«

Dalziel dachte nach. Man hätte meinen können, man sehe Gott vor sich, wie er über einem kniffligen Aspekt der Plattentektonik brütet.

»Sie sollen aus dem Gelände abziehn«, sagte er schließlich. »Geh’n wir wieder auf die Gebäude. Ich will, daß jedes Bauernhaus mitsamt Scheune, Schuppen, Schweinestall, Hühnerstall, Gartenhäuschen, Hundehütte, Klohäuschen und so weiter auf den Kopf gestellt wird. Sie ist in der Nähe, Wieldy, das spüre ich.«

Es hätte schon eines überaus tapferen Mannes bedurft, um Dalziel darauf hinzuweisen, daß er damals in Dendale genau dasselbe gespürt hatte. Wield war zwar kein Feigling, aber auch nicht gerade ein Trophäenjäger.

Er fragte: »Und Turnbull, Sir? Lassen Sie ihn laufen?«

»Sind Sie wahnsinnig? Was immer Hoddle brabbelt, der geht hier nicht weg, ehe die vierundzwanzig Stunden um sind. Mir soll keiner nachsagen, daß ich einen möglichen Kindsmörder vorzeitig freilasse, diesmal nicht!«

»Nein, Sir. Novello läßt anfragen, ob sie jetzt vielleicht, wo das Verhör schon so lange läuft, doch reinkommen …«

»Nein«, bellte Dalziel. »Abgeseh’n von dem, was ich vorhin gesagt habe, wird Hoddle mit hundertprozentiger Sicherheit denken, er hat uns am Schlafittchen. Sagen Sie ihr, sie soll sich die Dendale-Akte vornehmen und auswendig lernen. Morgen früh um neun Uhr hatte Peter einen Termin bei dieser Plowright vom Sozialamt. Er dachte, er findet so vielleicht eine Spur zur alten Mrs. Lightfoot, die aber wahrscheinlich schon tot ist, aber wenn nicht, ist sie die einzige, die Benny wohl besuchen würde, wenn er wirklich wieder da ist, was ich auch nicht glaube. Ivor kann für ihn da hingehen.«

»Klingt nach Zeitverschwendung«, meinte Wield.

»Besser die Zeit eines Constables als eines Chief Inspectors«, erwiderte Dalziel. »Denken Sie an all das viele Geld, das wir sparen. Irgendwas von der Kleinen, übrigens?«

»Ich habe das Krankenhaus angerufen«, sagte Wield so ausdruckslos, daß die Willensanstrengung, die hinter dieser Tat steckte, nicht herauszuhören war. »Keine Änderung.«

Er hatte sich immer noch nicht dazu durchringen können, Pascoe direkt anzurufen. Er mußte ihn schon persönlich sprechen, sagte er sich immer wieder.

»Das Leben ist hundsgemein, wie?« meinte Dalziel düster.

»Ja, Sir. Und dann sterben wir«, sagte Edgar Wield.

Und so neigt sich der zweite Tag der Suche nach Lorraine Dacre dem Ende zu.

Während die Schatten immer länger werden, sitzen ihre Eltern, die niemanden mehr in ihrer Nähe ertragen können, im kleinen Wohnzimmer ihres Häuschens und halten sich an der Hand, doch keiner von ihnen findet Trost in der Berührung, abgesehen von der Vorstellung, sie dem anderen zu geben. Die Hoffnung in ihren Herzen ist tot, und was bleibt, ist allein das Verhehlen der Verzweiflung.

Auch zwischen Peter und Ellie Pascoe besteht ein aus verhohlenen Gedanken geborenes Schweigen, doch hier geht es nicht um den Tod der Hoffnung, sondern um ihr Überleben. Ein Leben ohne Rosie ist unvorstellbar, also weigern sie sich, es sich vorzustellen. Wie Urmenschen in einer Höhle sehen sie die Dunkelheit über die Berge auf sich zueilen und wissen, daß sie Gefahren birgt, wissen aber auch, daß am nächsten Tag erneut die Sonne aufgeht und alles wieder gut macht.

Und Rosie Pascoe?

Rosie Pascoe ist in der Höhle des Nix.

Es ist dunkel hier unten, aber ein wenig Licht schimmert durch den langen, gewundenen Gang, der zum Eingang führt. Nach und nach gewöhnen sich ihre Augen an die Dunkelheit, und Umrisse und Strukturen treten hervor.

Sie befindet sich am Rand eines kleinen Teichs aus schwarzem Wasser. Zumindest wirkt er zunächst schwarz und trübe, aber als sie hineinsieht, glitzert ein wenig von dem Licht der sonnenhellen Welt auf seiner Oberfläche und läßt ihn wie blankgeputzt erscheinen, so daß das Schwarz wie ein Spiegel glänzt, der dem Nachthimmel entgegengehalten wird.

In diesem dunklen Spiegel sieht sie weit, weit oben die Dekke der Höhle wie das Dach einer großen alten Kathedrale. Und dort oben bewegt sich etwas, nicht auffällig, nur gerade so, daß sie es erkennen kann.

Es ist eine Fledermaus, die kopfunter am höchsten Punkt der hohen Höhlendecke hängt.

Rosie erschauert und läßt ihren Blick über den Teich schweifen, bis ans hintere Ende. Und dort sieht sie in dessen schwarzem Spiegel ein weiteres Gesicht mit hell leuchtenden Augen, scharfer krummer Nase, breitem Kinn mit spitzen Kinnbartstacheln und Zähnen, so lang wie die einer Spaltsäge, in dem höhnisch grinsenden Mund.

Sie schreit auf und blickt entsetzt vom Spiegelbild auf das echte Gesicht.

Es ist der Nix selbst, der auf der gegenüberliegenden Seite des Teiches kauert. Als er merkt, daß sie ihn entdeckt hat, hebt er langsam die linke Hand und winkt sie mit seinem langen dünnen Krallenfinger zu sich.

Rosie schüttelt den Kopf.

Der Nix erhebt sich. Im Kauern hatte er wie ein Frosch gewirkt; wie ein großer Frosch zwar, doch mit der tröstlichen Vorstellung plumper Behäbigkeit außerhalb des Wassers. Nun richtet er sich zu einer großen schlanken Männergestalt auf, deren langen Beine ihn um den halben Teich tragen, ehe die Angst, die ihre Muskeln lähmt, zu Panik wird, die sie in Bewegung setzt und sie über die Steine und Gebeine auf dem Höhlenboden hinweg von ihm fortstolpern läßt.

Ihr erster Gedanke – denn trotz allem kann sie immer noch denken – ist es, Wasser zwischen sich und dem Nix zu belassen, und für eine Weile gelingt ihr das auch. Aber ihre Kinderbeine werden allmählich müde, und bei ihrer dritten Runde um den Teich sieht sie das schwache Licht, das in den Gang eindringt, zu einem goldenen Leuchten anschwellen, so als schiene die entfernte Sonne direkt auf den Höhleneingang dort oben am grauen Talhang.

Der Weg ist lang und beschwerlich, und sehr steil. Bei einem Wettrennen hätte sie gegenüber diesen langen, dünnen Beinen kaum eine Chance, das weiß sie. Aber die Anziehungskraft der Sonne ist zu stark.

Sie ändert die Richtung und läuft geradewegs in den Gang.

Wie steinig der Boden ist! Und wie steil und gewunden! Und wie niedrig die Decke!

Sie tröstet sich mit dem Gedanken, daß all die Hindernisse für den Nix noch hinderlicher sein müssen, aber als sie einen Blick zurück riskiert, sieht sie ihn wieder dicht an den Boden gedrückt, diesmal nicht wie ein Frosch, sondern flink wie eine riesige Spinne.

Der Anblick verleiht ihr neue Kräfte, wie auch die immer stärker werdende Helligkeit, die nicht nur das Licht, sondern auch die Wärme der Sonne mit sich bringt.

Sie biegt um eine Kurve. Immer noch weit entfernt, aber nun deutlich sichtbar, erspäht sie den kleinen Kreis blauen Himmels. Und während sie hinsieht, wird das Blau zum Rahmen um ein vertrautes Gesicht, und sie hört eine vertraute Stimme, die ihren Namen ruft.

»Rosie. Rosie.«

»Daddy! Daddy!« ruft sie zurück und eilt auf ihn zu.

Doch das flinke Spinnengetrappel hinter ihr kommt immer näher. Sie spürt die knochigen Finger um ihre Fußgelenke, sie spürt die dolchartigen Fingernägel sich in ihr Fleisch bohren.

Und sie sieht, wie der blaue Kreis zu einem Nadelloch zusammenschrumpft und dann ganz verschwindet, als der Nix sie zurück in seine düstere Höhle mit ihrem schwarzen, unendlich tiefen Teich hinunterzieht.