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Am dritten Tag der Suche nach Lorraine Dacre erwachte Shirley Novello mit einem blöden Gefühl.
Das Gefühl beschlich sie gut eine Minute, bevor sie sich soweit aus den Klauen des Schlafs befreit hatte, daß sie den Grund dafür erkennen konnte. Gefühle waren so. Manchmal wachte sie glücklich auf und lag dann einen Moment lang da und schwelgte in gedankenloser Glückseligkeit, bis ihr erwachendes Gehirn sie daran erinnerte, worüber sie eigentlich glücklich war.
Jetzt öffnete sie die Augen, sah das unvermeidlich strahlende Sonnenlicht durch die dünnen Baumwollvorhänge ins Zimmer dringen, gähnte und erinnerte sich.
Andy Dalziel, der Pol Pot von Mid-Yorkshire, hatte sie abkommandiert, heute morgen Peter Pascoes Termin mit dieser dämlichen Ms. Jeannie Plowright wahrzunehmen, der Leiterin des Sozialamts.
Sie versuchte sich einzureden, daß sie sich geschmeichelt fühlen könne, die Aufgabe eines Chief Inspectors zugeteilt zu bekommen, aber sie fühlte sich nun eben mal saublöd. Wie gestern. Sie hatte all die harte Arbeit mit den Fahrzeugen erledigt und war dann in die Schule abgeschoben worden, um mit den Rotznasen zu reden. Danach hatte sie wie irre auf Wield eingeredet, wie wichtig es sei, entlang der Moorstraße allen Anwohnern Fragen über den blauen Kombi zu stellen. Er war darauf eingegangen, wenn auch eher aus dem Grund, weil er nichts Besseres für sie wußte, und nicht, weil er sich irgendwelche Ergebnisse davon versprach. Nun, sie hatte ihn eines Besseren belehrt. Ergebnis: sie hatten einen Verdächtigen. Na ja, niemand schien große Hoffnungen zu hegen, aber bisher hatte noch niemand was Besseres präsentiert. Turnbull war zur Zeit der Mittelpunkt ihrer Untersuchungen. Die Zeit lief. Wenn sich nichts Konkretes ergab, würden sie ihn später am Tag entlassen müssen. Aber bis dahin hatten sie noch einige Stunden Zeit, ihn in die Mangel zu nehmen. Sie wollte dabeisein und bei der Aktion helfen. Statt dessen wurde sie wieder an die Peripherie geschoben, nur weil diese armseligen Männer Angst hatten, der Geist eines fünfzehn Jahre alten verpfuschten Falles könnte sie verfolgen.
Es ist einfach unfair, dachte sie. Den größten Teil der letzten Nacht hatte sie die Dendale-Akte gelesen. Beim Anblick der Fotos von den drei blonden Mädchen hatte sie eine kalte Hand um ihre Kehle gespürt und sich einen Drink einschenken müssen. Auch ein Foto des vierten Mädchens war dabeigewesen, von Betsy Allgood, die davongekommen war – ein kleines pausbäckiges Wesen, das mit seinen kurzgeschorenen Haaren mehr wie ein Junge als ein Mädchen aussah, abgesehen von den großen wachsamen Augen. Was war aus ihr geworden? Hatte Benny Lightfoots Angriff für immer ihre Seele gezeichnet? Oder war die kindliche Widerstandskraft stark genug gewesen, das Erlebnis so weit abzuschütteln, um ihr ein unbelastetes Weiterleben zu ermöglichen?
Aber wie auch immer – wäre sie an solch einem Fall beteiligt gewesen und hätte ihn nicht zu befriedigendem Abschluß gebracht, dann würde wohl auch sie für den Rest ihres Lebens von Alpträumen geplagt werden. Wer weiß – falls sie den Fall Lorraine Dacre nicht lösten, vielleicht würde sie in fünfzehn Jahren …
Sie schob den Gedanken beiseite. Sie würden den Fall lösen. Und wenn die Erinnerung an Dendale den Dicken noch entschlossener machte, den Mann zu fassen, um so besser.
Aber diese Suche nach der alten Mrs. Lightfoot war ganz sicher das Klammern an einen Strohhalm. Schon vor fünfzehn Jahren war sie alt und krank gewesen, und bestimmt war sie mittlerweile lange tot. Friede ihrer Seele, fügte sie in Gedanken hinzu und bekreuzigte sich. Polizeiarbeit bedeutete, daß man dem Tod im körperlichen Sinne gegenüber abgebrühter werden und imstande sein mußte, sich ohne Erbrechen alle möglichen Leichen in allen möglichen Zuständen anzusehen. Darin wurde sie immer besser. Aber sie war fest entschlossen, gleichzeitig diese unwiderrufliche gefühlsmäßige Abgebrühtheit zu vermeiden.
Dabei fiel ihr ein, warum der Chief Inspector seinen Termin nicht selbst wahrnehmen konnte, und sie bekam ein schlechtes Gewissen wegen ihrer Gereiztheit.
Sie schlüpfte aus dem Bett und kniete sich vor das totenbleiche Abbild der Jungfrau Maria, das ihre Mutter ihr in Lourdes gekauft und ihr das Versprechen abgerungen hatte, daß sie es in ihr Schlafzimmer hängen würde. Vermutlich war das die einzige Form von Verhütung, die ein gutes katholisches Mädchen benutzen sollte. Sie sprach ein kurzes Gebet für Pascoes Tochter, stand dann auf und betrachtete sich im Spiegel.
Sie sah abgekämpft aus, urteilte sie. Na, und wenn schon! Selbst eine abgekämpfte Polizistin wäre neben den unscheinbaren Sozialamts-Heimchen eine strahlende Erscheinung!
Es war beinahe ein Schock, um neun Uhr einer großen, schlanken Frau in einem Gucci-ähnlichen Kostüm gegenüberzustehen.
Und sie selbst war für die Leiterin des Sozialamts ganz offensichtlich eine herbe Enttäuschung.
»Ich hatte Chief Inspector Pascoe erwartet«, sagte Ms. Plowright.
Und dich auf ihn gefreut, dachte Novello. Den Anblick eines schmucken Polizisten.
»Er konnte nicht kommen«, erwiderte sie und erklärte den Grund.
»O Gott, wie furchtbar«, sagte Ms. Plowright, und ihre Anteilnahme war so überzeugend, daß sie damit sicherlich viele Antragsteller beruhigte, die sich anfangs von ihrem Äußeren hatten einschüchtern lassen. Sie machte sich ein paar Notizen und kam dann nüchtern und geschäftsmäßig zur Sache.
»Also, wie kann ich Ihnen helfen? Wie mir ausgerichtet wurde, geht es um Mrs. Lightfoot aus Dendale.«
Novello erklärte die Angelegenheit. Sie dachte, sie sei gleichermaßen nüchtern und geschäftsmäßig gewesen, aber als sie geendet hatte, sagte Ms. Plowright: »Und Sie halten es für Zeitverschwendung?«
Mist, dachte Novello. In dieser Hinsicht mußte sie noch an sich arbeiten. Ms. Plowrights Arbeit erforderte, wie ihre eigene, auch eine Sensibilität gegenüber dem Ungesagten, und diese hatte offenbar mehr Erfahrung darin.
Sie versuchte, es als Mißverständnis darzustellen. »Tut mir leid, ich kann mir vorstellen, wie beschäftigt Sie sind …«
»Eine Verschwendung Ihrer Zeit, nicht meiner«, erwiderte Ms. Plowright lächelnd und zog ein goldenes Zigarettenetui hervor, das sie Novello entgegenhielt. Novello schüttelte den Kopf. Rauchen war eine Form der Weiblichkeitstarnung, der sie hartnäckig widerstanden hatte. Ms. Plowright zündete sich ohne die heutzutage fast obligatorische Frage nach Zustimmung eine Zigarette an. Nun, es war ja ihr Büro.
»Aber Peter, Chief Inspector Pascoe, hielt es vermutlich nicht für Zeitverschwendung«, fuhr sie fort.
»Mr. Pascoe ist ein sehr gründlicher Mensch.« Novello war entschlossen, wieder Boden zu gewinnen. »Er will jeder Möglichkeit nachgehen, egal, wie unwahrscheinlich sie ist. Also, können Sie mir helfen, Ms. Plowright?«
»Nennen Sie mich Jeannie«, sagte sie. »Ja, ich glaube, das kann ich. Es ist lange her, aber glücklicherweise neigen wir dazu, unsere Akten zu horten. Ich bekam mit Agnes zu tun, also Mrs. Lightfoot, nachdem sie sich genug von ihrem Schlaganfall erholt hatte, um aus dem Krankenhaus entlassen zu werden. Damals war es zwar noch nicht so schlimm um das nationale Gesundheitswesen bestellt, aber schon da nahm die Zahl der freien Betten beständig ab. Die Krankenhausleiter waren besonders erpicht darauf, alte und gebrechliche Langzeitpatienten loszuwerden.«
»Dann mußte Agnes also nicht weiter behandelt werden?«
»Sie mußte gepflegt werden«, sagte Ms. Plowright. »Auf keinen Fall konnte sie sich selbst versorgen. Geistig war sie wieder voll auf der Höhe, aber sie konnte nicht ohne Hilfe gehen und ihren linken Arm und die Hand nur eingeschränkt gebrauchen. Eine Verbesserung dieses Zustands wurde nicht erwartet, also wandte sich das Krankenhaus an uns. Unsere Aufgabe … meine Aufgabe war es, entweder einen Platz im Pflegeheim für sie zu finden oder ein Familienmitglied, das bereit wäre, sich um sie zu kümmern. Letzteres schien nicht wahrscheinlich.«
»Warum?«
»Weil ihr Sohn tot war und ihre Schwiegertochter wieder geheiratet hatte und nach Australien ausgewandert war. Und ihr nächster Anverwandter war Benny, von dem niemand wußte, wo er sich aufhielt, aber ich nehme doch an, das wissen Sie alles.«
»Was geschah dann?« fragte Novello, die den Seitenhieb ignorierte.
»Ich machte mich dran, einen Platz in einem unserer Vertragspflegeheime zu finden. Agnes stellte sich quer. Es mußten Formulare ausgefüllt und Details überprüft werden, all die üblichen bürokratischen Maßnahmen. Sie weigerte sich schlichtweg, irgendwelche Fragen zu beantworten oder irgendwo zu unterschreiben. Und dann tauchte ihre Nichte auf.«
»Wie kam das zustande?«
»Ich war in Agnes’ Papieren auf ihren Namen und die Adresse gestoßen. Eine ihrer alten Bekannten aus Dendale, die sie besuchen kam, erzählte mir, daß diese Winifred Fleck Agnes’ Nichte sei. Sie hatten sich gegenseitig Weihnachtskarten geschrieben, weil sie eben verwandt waren, aber ansonsten herrschten wohl kaum familiäre Gefühle. Ich schrieb ihr aber trotzdem, weil ich – wie Peter Pascoe – gern allen Möglichkeiten nachgehe, egal, wie unwahrscheinlich sie sind.«
Sie lächelte dabei, vermutlich um zu zeigen, daß es als Scherz gemeint war und nicht als Seitenhieb. Novello probierte ein Lächeln, um zu zeigen, daß ihr das eine wie das andere egal war, und sagte: »Aber in diesem Fall wurde die unwahrscheinliche Möglichkeit zur Wirklichkeit, stimmt’s?«
»Das stimmt. Mrs. Winifred Fleck tauchte eines Tages im Krankenhaus auf, plauderte mit Agnes und benachrichtigte dann die Behörde, daß sie ihre Tante mit zu sich nach Hause nehme.«
»Nette, fürsorgliche Frau«, meinte Novello anerkennend.
»Und außerdem qualifiziert. Sie hatte früher in einem Pflegeheim gearbeitet und wußte, was auf sie zukam.«
»Aber Sie mochten sie nicht«, stellte Novello fest, froh, zeigen zu können, daß auch sie Zwischentöne bemerkte.
»Nicht besonders. Aber das heißt nichts. Ich kann auch nicht gerade sagen, daß mir die alte Agnes besonders ans Herz gewachsen war. Man mußte ihre Willenskraft bewundern und ihre Unabhängigkeit, aber in ihren Augen war ich eine Autoritätsperson, und Autoritätspersonen gegenüber war sie nicht sonderlich bemüht, sich von der besten Seite zu zeigen. Jedenfalls war sie zurechnungsfähig, so daß ich Agnes nicht einmal dann hätte daran hindern können, bei ihrer Nichte einzuziehen, wenn sie gerade aus dem Gefängnis entlassen worden wäre, weil sie Altersheiminsassen mißhandelt hatte.«
»Und sie stimmte zu?«
»Sie unterschrieb alle Entlassungspapiere und machte sich nicht mal die Mühe, jemandem zu danken. Dann wurde sie von Winifred in ein Auto verfrachtet, und weg war sie.«
»Und Sie haben nichts mehr von ihr gehört?«
»Ich reichte die Unterlagen an das zuständige Sozialamt in Sheffield weiter und rief einige Wochen später noch einmal an. Sie sagten, es sei alles in Ordnung, Mrs. Fleck nehme ihre Verantwortung ernst und habe alle Zuschüsse und Pflegegelder beantragt.«
»Und das war der Beweis dafür, daß sie die Sache ernst nimmt?«
»An sich nicht, aber das autorisierte die entsprechende Behörde, die Sachlage hin und wieder persönlich zu überprüfen. Wir verteilen unsere Gelder nicht verschwenderisch und ohne Nachkontrolle, müssen Sie wissen.«
»Nein. Entschuldigen Sie. Und haben Sie seither was von ihr gehört?«
»Nein. Ich hab genug eigene Sorgen, um mich um die anderer Leute zu kümmern.«
»Natürlich. Wobei Sie allerdings die Leiter ein wenig höher geklettert sind«, sagte Novello.
»Und einen besseren Ausblick habe, meinen Sie?« Ms. Plowright grinste. »Kommt drauf an, in welche Richtung man blickt. Ich bin sicher, das werden Sie eines Tages selbst herausfinden. Sind wir fertig?«
»Sobald Sie mir die Adresse von Mrs. Fleck gegeben haben.«
Sie war bereits auf einen einfachen Zettel getippt worden.
Winifred Fleck, 9 Branwell Close, Hattersley, Sheffield (Süd).
Während Novello den Zettel sorgsam faltete und in ihre Umhängetasche steckte, dachte sie, diese Frau muß in aller Herrgottsfrühe aufgestanden sein, um all diese alten Akten auszugraben und sich so gründlich auf das Gespräch vorzubereiten. Wäre sie wohl ebenso gründlich und kooperativ gewesen, wenn sie gewußt hätte, daß die Magd kommt und nicht der Herr?
Miau! Fügte sie schuldbewußt hinzu.
Sie stand auf, streckte die Hand aus und sagte: »Danke, daß Sie so hilfsbereit waren.«
»War ich das? Dann haben Sie also Ihre Meinung geändert, daß es Zeitverschwendung war?«
Sie sprach vollkommen ernst, und eine Sekunde lang schwankte Novello zwischen höflicher Unehrlichkeit und ehrlicher Unhöflichkeit.
Dann lachte Jeannie Plowright laut auf und sagte: »Keine Sorge, meine Liebe. Auch Peter läßt hin und wieder die Maske fallen. Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder.«
Novello ging zügig und zornig die Treppen hinunter.
Blöde arrogante Ziege! Bei einem Mann wußte man zumindest, woran man war – selbst wenn man in der Gosse lag und getreten wurde.
Bis sie das Erdgeschoß erreichte, hatte sie sich etwas beruhigt. Vielleicht war es ihre eigene Schuld. Sie wußte, daß sie Inspector Maggie Burroughs immer mit einer Art aggressivem Vorbehalt gegenübertrat, um ja nicht den Eindruck zu erwecken, sie erwarte so etwas wie schwesterlichen Beistand. Nicht, daß sie den nicht hätte haben wollen, aber es sollte nicht so aussehen, als erwarte sie ihn. Vielleicht hatte diese trotzige »Ich mach’s auf meine Weise«-Haltung ihren Ton gegenüber Jeannie Plowright beeinträchtigt.
Sie mußte lächeln und machte sich auf die Suche nach einer Telefonzelle.
In der Zentrale fragte sie direkt nach Wield und resümierte nüchtern das Gespräch, indem sie die Lektionen anwandte, die sie von ihm gelernt hatte.
»Und was soll ich jetzt tun, Chef?« wollte sie am Ende wissen.
Er zögerte und sagte dann: »Tja, der Superintendent ist im Moment noch mit Turnbull zugange …«
»Irgendwas dabei rausgekommen?«
»Nicht viel. Wenn die Zeit abgelaufen ist, wird er wahrscheinlich wieder gehen. Hören Sie, ich glaube, Sie sollten der Sache nachgehen, selbst wenn es nur eine Sackgasse ist. Ich sage in Sheffield Bescheid, damit Sie nicht verhaftet werden, weil Sie sich für eine Polizistin ausgeben.«
»Wenn Sie meinen, Chef«, erwiderte sie mutlos.
»Glauben Sie mir, ich wünschte, ich könnte mit Ihnen fahren«, sagte Wield. »Dies ist nicht unbedingt ein schöner Ort, wenn Geordie wieder nach Hause geht.«
Wollte er nur nett sein? überlegte sie, als sie in ihren Wagen stieg. Oder meinte er das so?
Ein bißchen von beidem, vermutete sie.
Aber sie konnte das Gefühl nicht abschütteln, daß sie sich vom wahren Mittelpunkt des Falls entfernte, während sie nach Süden aufbrach.