172323.fb2 Das Dorf der verschwundenen Kinder - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 34

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Drei

Peter Pascoe beobachtete den Sonnenaufgang vom Dach des Krankenhauses aus.

»Na gut«, sagte er und applaudierte. »Du bist ja so verdammt klug, dann zeig mir mal, was du für meine Tochter tun kannst.«

Hinter sich hörte er ein Geräusch, und als er sich umdrehte, sah er Jill Purlingstone an das Schutzgitter gelehnt auf der Brüstung sitzen und eine Zigarette rauchen. Er vermutete, daß sie absichtlich mit den Füßen gescharrt hatte oder ähnliches, um ihn wissen zu lassen, daß er nicht allein war. Nicht, daß es ihm etwas ausmachte.

Er sagte: »Scheint ein schöner Tag zu werden.«

Sie erwiderte: »Für uns sind die Regentage die schönen.«

Sie sah vollkommen fertig aus.

Er sagte: »Ich wußte gar nicht, daß Sie rauchen.«

»Ich hab’s aufgegeben, als ich schwanger war.«

Dann ist dies ein schlechter Zeitpunkt, es wieder anzufangen, dachte er abergläubisch.

Als hätte er es laut gesagt, entgegnete sie wie zu ihrer Verteidigung: »Ich brauchte irgend etwas, und Betrinken schien mir keine gute Idee.«

»Klingt aber auch verlockend«, meinte Pascoe.

Er mochte Jill. Sie war so absolut nüchtern angesichts aller Versuchungen abzuheben. Sie und ihr Mann kamen ursprünglich aus der unteren Mittelschicht wie er, und der spontane Reichtum (der kein Mythos war; die Gehälter und Aktienbezugsrechte aller Direktoren der Wassergesellschaft waren oft genug in kritischen Artikeln der Lokalzeitungen aufgelistet worden) hatte sie kaum verändert. Derek Purlingstone hingegen hatte sich – absichtlich oder instinktiv – neu erschaffen und war zum perfekten Privilegiertensohn geworden.

Pascoe, Ellie und Jill hatten die Nacht im Krankenhaus verbracht. Es waren nur sehr wenige Zusatzbetten für Angehörige verfügbar, und man hatte ihnen vorgeschlagen, daß die Männer nach Hause fuhren und nur die Frauen blieben. Purlingstone hatte sich überreden lassen, Pascoe nicht einmal zugehört. »Nein«, hatte er gesagt und war einfach weggegangen.

»Sonntag war so ein schöner Tag«, sagte Jill. »Sie wissen schon, einer von diesen vollkommenen Tagen.«

Warum zum Teufel redet sie von Sonntag? fragte sich Pascoe. Dann begriff er. Sie suchte nach etwas, um sich vor dem völligen Zusammenbruch zu bewahren, und Sonntag, der letzte Tag vor dem Ausbruch der Krankheit, wurde zu einem Bild der Vollkommenheit retuschiert.

»Alles lief einfach perfekt, Sie wissen, wie das manchmal ist«, fuhr sie fort, nachdem sie eine neue Zigarette an der alten angezündet hatte. »Wir sind früh aufgestanden und haben das Auto vollgepackt. Ich wollte den Tisch fürs Frühstück decken, aber Derek meinte, nein, mach dir damit keine Umstände, wir essen auf dem Weg, also haben wir alles mitgenommen, Milch, Cornflakes, Orangensaft, Brötchen und so weiter, und nach einiger Zeit haben wir angehalten und uns zum Frühstückspicknick ins Gras gesetzt. Durch Dereks Fernglas haben wir einen Adler gesehen, na ja, es war gar kein Adler, sondern ein Wanderfalke, wie Derek meinte, aber die Mädchen waren so aufgeregt über den Adler, daß wir sie nicht enttäuschen wollten, und man konnte wirklich meilenweit sehen, und ich hätte auch einfach den ganzen Tag da sitzenbleiben können, aber die anderen wollten unbedingt weiter, und sie hatten recht. Wir haben auf den Nebenstraßen kaum andere Autos gesehen und fanden dann diesen herrlichen Platz in den Dünen …«

»Ich glaube, ich gehe lieber zurück«, sagte Pascoe. »Damit Ellie sich mal ausruhen kann.«

Er merkte an ihrem Gesichtsausdruck, daß er barscher geklungen hatte als beabsichtigt, aber konnte nicht einfach dastehen und ihre Sorge um die Lebenden in eine Totenwache ausarten lassen.

Oder störte es ihn nur, daß dieser Tag, den sie heraufbeschwor, ein Tag war, an dem er nicht teilgehabt hatte? Wie weit würde er in seiner Erinnerung zurückgehen müssen, um solch einen vollkommenen Tag zu finden, einen Tag, den er ausschließlich mit seiner Familie verbracht hatte, ohne jede Unterbrechung durch Arbeit? Oder warum die Arbeit verantwortlich machen? Unterbrechung durch sich selbst, seine eigenen Gedanken und Probleme? Selbst wenn er mit Rosie zusammen war und ihre Gesellschaft noch so sehr genoß, war es dann nicht so, daß auch darin eine Eigennützigkeit lag, ein Mißbrauch ihrer Energie und Freude als Therapie für seine eigene gequälte Seele …?

Er eilte die Treppen hinunter, als laufe er vor etwas davon. Seine Wut, die ihn nun schon so lange begleitete, hatte ein Ziel gefunden, oder besser zwei Ziele: die Welt, in der seine Tochter so furchtbar krank werden konnte, und sich selbst, weil er es zugelassen hatte. Aber es gab immer noch keine Möglichkeit, sie rauszulassen. Er griff mit der rechten Hand in die Luft, als wäre sie irgendwie entschwunden und könnte gefaßt und wieder zurückgeholt werden.

Eine Gestalt erschien auf dem unteren Treppenabsatz und blickte zu ihm hoch. Verlegen versuchte er ein einarmiges Gähnen vorzutäuschen. Dann erkannte er die Gestalt und brach sein Täuschungsmanöver ab.

»Wieldy!« rief er aus. »Was führt Sie denn her?«

Das war bestimmt die dümmste Frage, die er je gestellt hatte, aber das war egal, weil er jetzt den Treppenabsatz erreicht hatte und sich nicht dagegen wehrte, geradewegs in seine ausgestreckten Arme zu laufen.

Sie hielten einander eine ganze Weile fest, dann machte Wield sich los und sagte: »Ich hab Ellie gesehen. Sie meinte, Sie könnten oben auf dem Dach sein. Pete, es tut mir leid, daß ich es gestern nicht mehr geschafft habe …«

»Himmel, Sie müssen gestern losgefahren sein, um hier so früh am Morgen aufzutauchen!«

»Ja, nun … ich bin Frühaufsteher. Ellie sagt, es gibt nichts Neues.«

»Nein, aber gestern abend ist was passiert. Ellie war nicht im Zimmer, und ich habe mit Rosie gesprochen, und einen kurzen Augenblick lang dachte ich, sie würde aufwachen … Ich habe mir das nicht eingebildet, wirklich nicht … sie hat auf mich reagiert …«

»Das ist toll«, sagte Wield. »Hören Sie, alle sind … na ja, Sie wissen schon. Andy nimmt das ganz schön mit.«

»Ja. Wir haben telefoniert. Er klang … wütend. Und so habe ich mich auch gefühlt. Immer noch. Ich bin seit einer ganzen Zeit schon wütend, wissen Sie, eine Art allgemeine Wut auf … bestimmte Dinge. Mein Zuhause war meine Zuflucht davor. Jetzt habe ich etwas Konkretes, um darüber wütend zu sein, aber es hat mir auch diese Zuflucht genommen …« Er fuhr mit der Hand über sein schmales, blasses Gesicht.

»Pete, hören Sie, ich wäre beinahe nicht gekommen, fragen Sie mich nicht warum, es war dumm, ich hatte Angst …«

»Ist schon in Ordnung. Ich kann Krankenhäuser auch nicht ausstehen«, versicherte Pascoe.

»Nein. Sehen Sie, ich sage das nur aus dem Grund, weil ich jetzt froh bin. Weil ich glaube, daß alles gut wird. Seit ich hier bin, habe ich dieses Gefühl. Sonst würde ich es nicht sagen.«

Sie standen da und sahen einander schweigend an – und blickten dann verlegen zur Seite.

Pascoe sagte: »Danke, Wieldy. Wie läuft es denn überhaupt – mit dem Fall, meine ich? Andy erzählte was von einem Verdächtigen.«

»Ja. Ein Kerl namens Geordie Turnbull. Hat ein Abrißunternehmen. Wenn Sie die Dendale-Akte gelesen haben, erinnern Sie sich vielleicht, daß er auch damals schon zu den Verdächtigen gehörte. Tja, prima Zufall, aber ich bezweifle, daß was dabei rauskommt.«

»Mag sein. Schade«, meinte Pascoe, unfähig, großes Interesse aufzubringen. Beschämt fügte er dann hinzu: »Wissen Sie, ob Andy etwas wegen meiner Verabredung mit Jeannie Plowright heute morgen unternommen hat?«

»Ja. Er hat Novello hingeschickt.«

Pascoe lächelte schwach.

»Na ja. War sowieso keine besonders gute Idee.«

»Das klingt aber ein bißchen sexistisch«, schalt Wield.

»Nein, sie ist eine gute Polizistin. Ich glaube nur, daß Andy selbst hingegangen wäre, wenn er die leiseste Aussicht auf Erfolg verspürt hätte.«

»Andy wird genug damit zu tun haben, in Danby die Daumenschrauben anzusetzen, und da muß ich jetzt auch hin.«

»Sie haben einen Riesenumweg gemacht. Danke vielmals, Wieldy.«

»Ach, na ja. Ich melde mich wieder. Halten Sie die Ohren steif. Tschüs.«

»Tschüs.«

Er berührte den jüngeren Mann am Arm, drehte sich um und ging.

Pascoe blickte ihm nach. Die Begegnung hatte ihm Trost vermittelt, das konnte er nicht leugnen. Aber nun, wieder allein, suchte er erneut nach Schuldigen. Worauf war er gerade gekommen, als er die Stufen hinunterrannte? Ach ja. Die Welt und sich selbst.

Er ging zurück ins Krankenzimmer.

»Hast du Wieldy getroffen?« fragte Ellie.

»Ja.«

»Es war schön, ihn zu sehen«, sagte sie.

»Ja.«

Er blickte von ihrem Gesicht zu Rosies, von der Blüte zur Knospe, und spürte, er würde der Verantwortung weder entgehen noch sie ertragen können, wenn hier irgend etwas Schreckliches geschah. Die Welt war vor seiner Wut sicher. Er müßte sie schon gegen sich selbst richten.

»Warum gehst du nicht ein bißchen spazieren?« fragte er. »Jill ist auf dem Dach und raucht. Oder hol dir einen Kaffee. Geh nur. Ich bleibe hier.«

»Einverstanden«, sagte sie, unfähig, sich seinem sanften Drängen zu widersetzen. »Ich bleibe nicht lang.«

Sie verließ das Zimmer wie eine Schlafwandlerin.

Mist, dachte er. Sie gibt sich ebenfalls die Schuld. Was Blödsinn ist, wo es doch meine Schuld ist. Alles ist meine Schuld.

»Selbst die Arbeitslosigkeit ist meine Schuld«, sagte er laut. »Hörst du das, meine Kleine? Und dein Vater hat zwar keine Millionen in Aktienanteile gesteckt, aber wahrscheinlich ist auch die Wasserknappheit seine Schuld.«

Der alte Trick, seine Ängste bis ins Absurde zu übertreiben, schien zu funktionieren. Er setzte sich ans Bett und nahm die Hand seiner Tochter.

»Ja, meine Süße, ich bin’s«, sagte er. »Aber das hast du bestimmt schon gemerkt. Meine weichen Konzertpianistenhände sind ganz anders als die rauhen, hornhäutigen Pranken deiner Mutter. Aber die steckt auch die ganze Zeit bis zu den Ellbogen in Seifenwasser, wenn sie nicht gerade draußen ist und Sisal erntet.«

Er schwieg. Sie hatten sich erkundigt, ob es helfen würde, mit Rosie zu sprechen, und ein unverbindliches »Kann nicht schaden« zur Antwort bekommen. Toll. Aber konnte sie ihn tatsächlich hören? Das mußte er unbedingt wissen. Nein, er mußte es nicht wissen. Wenn nur die leiseste Aussicht bestand, daß seine Stimme irgendeinen Einfluß auf sie hatte, würde er sich die Stimmbänder wund reden. Aber was sollte er sagen? Er bezweifelte, daß seine selbstquälerischen Grübeleien therapeutische Wirkung hatten. Wie sollte es seiner Tochter helfen, wenn sie erfuhr, daß ihr Vater ein egozentrischer Neurotiker war?

Er betrachtete den Haufen Sachen, die sie für Rosie mitgebracht hatten, Lieblingspuppen, Kleider, Bücher – ein großer Haufen, um sich selbst zu versichern, daß sie bald wieder gesund sein würde.

Obenauf lag »Nina und der Nix«. Er nahm das Buch, öffnete es und begann laut zu lesen.

»Es war einmal ein Nix, der lebte an einem Teich in einer Höhle unter einem Berg …«