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Hattersley erwies sich als weit auseinandergezogene Siedlung am südwestlichen Rand von Sheffield, deren Straßengewirr durch den ausschließlichen Gebrauch von Namen aus der Brontë-Familie zusätzliche Unübersichtlichkeit erhielt. Selbst unter Einbeziehung der im Kindesalter verstorbenen Schwestern Maria und Elizabeth standen nur sieben Namen zur Verfügung, und dieser Mangel wurde dadurch wettgemacht, daß es jeden Namen als Straße, Weg, Pfad, Steg, Steig, Gasse, Koppel, Hain, Platz und Ring gab.
Eine Gegend, dachte Novello, die zur Strafversetzung von Postboten geeignet war.
Sie brauchte eine halbe Stunde, um Branwell Close zu finden, aber dort angekommen, stieg sie nicht sofort aus ihrem Wagen. Nicht, weil sie erhitzt und derangiert war, sondern weil der Anblick des Hauses Nummer 9 sie so sehr verblüffte.
Ihre Arbeit hatte sie schon zu Häusern geführt, die so vernachlässigt aussahen, daß man überrascht war, überhaupt einen Bewohner vorzufinden. Mrs. Flecks Bungalow rief dieselbe Wirkung hervor, allerdings aus gegenteiligem Grund. Er sah eher wie das Modell eines Architekten aus als ein richtiges Haus, mit so leuchtendem Anstrich, so perfekter Ziegelfassade, so exakt bemessenem smaragdgrünen Rasenquadrat, so sorgsam geharkten Grenzwegen, so akkurat gepflanzten Blumen, so glänzend geputzten Fensterscheiben, so symmetrischen Seidenvorhängen und so blankpoliertem schmiedeeisernen Gartentor, daß Novello kaum wagte, den funkelnden Knauf zu berühren und die pastellrosa Steinplatten des schnurgeraden Pfades zu betreten, als sie schließlich den Mut faßte, sich zu nähern.
Dann bewegte sich ein Vorhang, und der Bann war gebrochen.
Die Eingangstür wurde geöffnet, ehe sie davorstand – vermutlich, um ein Beschmutzen des Klingelknopfs zu verhindern.
Winifred Fleck gehörte zu jenen dünnen, stocksteifen, ausgezehrten Frauen, die aussahen, als seien sie ewig fünfzig. Sie trug einen Nylon-Overall, der so steril wirkte wie ein Chirurgenkittel, und in der rechten Hand hielt sie einen Staubwedel von solch grellem Gelb, daß der Staub sich wohl allein durch seinen Anblick verflüchtigte.
»Mrs. Fleck?« fragte Novello.
»Ja.«
»Ich bin Detective Constable Novello von der Mid-Yorkshire Kriminalpolizei«, sagte sie und zeigte ihren Dienstausweis. »Es geht um Ihre Tante, Mrs. Agnes Lightfoot. Ich glaube, sie hat bei Ihnen gewohnt.«
Sie gebrauchte die Vergangenheitsform, ohne darüber nachzudenken. Ein kurzer Blick ins Hausinnere bestätigte die Vermutung, daß auch dort die Götter der Geometrie und Hygiene walteten. Diese Wände beherbergten auf keinen Fall eine alte Verwandte, es sei denn, sie wäre dem Tode geweiht und in eine Zwangsjacke aus gestärkten weißen Laken gesteckt.
»Ja«, antwortete Winifred Fleck.
Anscheinend waren Worte ebenfalls verseuchungsgefährdend. Je weniger man benutzte, desto geringer das Risiko.
»Und? Was ist passiert? Ist sie gestorben, Mrs. Fleck?«
Novello versuchte, angemessen mitleidsvoll zu klingen, merkte jedoch, daß es ihr nicht recht gelang. Mitleid schien hier absolut fehl am Platze. Und um ehrlich zu sein, hoffte sie, daß die alte Dame friedlich entschlafen war. Dann konnte sie dieses fruchtlose Unterfangen endlich abbrechen und zur richtigen Arbeit zurückkehren, die in Danby ohne sie stattfand.
»Nein«, sagte Mrs. Fleck.
»Nein?« wiederholte Novello. Diese Frau brauchte ganz offensichtlich eine Art Katalysator, um in die Gänge zu kommen. Kühl kalkulierte sie die Möglichkeiten und entschied sich für die wirkungsvollste.
»Könnten wir vielleicht im Haus darüber sprechen? Hier draußen ist es so warm, daß ich schon klitschnaß geschwitzt bin. Ich würde meinen rechten Arm für ’n kalten Drink und ’ne Zigarette geben.«
Novello war Nichtraucherin. Aber die Androhung ihrer schwitzenden, ascheverstreuenden Anwesenheit in diesem Tempel der Hygiene mußte abschreckend genug wirken.
So war es.
»Sie ist im ›Wark House‹. Dem Pflegeheim.«
»Aha. Aber sie hat hier gewohnt?«
»Eine Weile. Dann wurde es mir zuviel. Mein Rücken.«
»Ich verstehe. Wie lange hat sie denn hier gewohnt?«
»Fast vier Jahre.«
»Vier Jahre. Und dann wurde es Ihnen zuviel?«
Mrs. Fleck sah sie gekränkt an.
»Sie hatte noch einen Schlaganfall. Wir konnten sie nicht mehr versorgen. Nicht mit meinem Rücken.«
Wir. Also gab es einen Mr. Fleck. Der stand wahrscheinlich irgendwo im Regal, damit er die Sofaschutzbezüge nicht verknitterte.
»Und sie lebt noch?«
»O ja.«
Das klang überzeugt, wenn auch wenig begeistert.
»Sehen Sie sie hin und wieder?«
»Ich schau rein, wenn ich mal da bin. Ich helfe gelegentlich dort aus. Nur noch leichte Arbeit. Mit meinem Rücken.«
Plowright hatte gesagt, daß sie Pflegerin in einem Heim gewesen war. Mit ihrem Rücken!
Novello schalt sich selbst für ihren Mangel an Nächstenliebe. Diese Frau hatte schließlich ihre Tante aufgenommen, als niemand anders sich um sie kümmern konnte. Und eine bettlägerige Invalidin war etwas anderes als eine leicht verwirrte alte Dame. Novello fragte sich, wie sie selbst mit solch einer Situation fertigwerden würde, schauderte bei dem Gedanken und lächelte Mrs. Fleck schuldbewußt an, während sie sagte: »Wenn Sie mir die Adresse geben könnten, werde ich Sie nicht weiter belästigen.«
Als sie davonging, fragte Mrs. Fleck: »Worum geht es eigentlich?«
Endlich Neugierde. Novello hatte sich schon gewundert.
»Nur eine Routinenachfrage. Nichts, worüber Sie sich Gedanken machen müssen.«
Sie schloß vorsichtig das Gartentor, widerstand der Versuchung, es mit ihrem Taschentuch nachzupolieren, und stieg in den Wagen. Es war fast ein Vergnügen, wieder in dieser unordentlichen, unhygienischen Kiste zu sitzen, selbst wenn es ein paar Minuten dauerte, bis sie die Landkarte finden konnte. Mrs. Flecks Wegbeschreibung war naturgemäß sehr präzise gewesen, aber Novello wollte sichergehen, keine unnötige Zeit zu verlieren.
Novello fuhr eine Hauptstraße entlang, bis sie – überraschend abrupt – die Stadt verlassen hatte und sich in wilder Moorlandschaft befand. Zu ihrer Rechten sah sie ein einzelnes Gebäude gegen den Himmel aufragen, das sie an Norman Bates’ Haus in Psycho erinnerte. Der Weg dorthin war eine gleichmäßig ansteigende Nebenstraße, und fünf Minuten später fuhr sie durch ein Tor, das aussah wie der Eingang einer kleinen, ummauerten Stadt.
Der Ausblick war phantastisch, meilenweit hügeliges Moor, das jetzt im goldenen Sonnenlicht ausgesprochen malerisch wirkte, das unter düsteren Wolken und prasselndem Regen auf alte, sterbende Menschen jedoch kaum tröstlich wirken mochte.
Im Gebäude atmete sie einmal tief ein und aus, als sie an Pater Kerrigans Methode dachte, Altersheime zu bewerten. »Wenn man in der Eingangshalle schon die Pisse riecht, sollte man mal nachhaken.«
»Wark House« bestand den Test zum Glück. Als Novello sich umsah, war sie sogar angenehm überrascht über den Unterschied zur äußeren Erscheinung des Gebäudes.
Eine Krankenschwester trat aus einem Zimmer, erblickte sie und fragte, ob sie helfen könne.
»Könnte ich die Leiterin sprechen, bitte?«
Sie wurde in ein Büro mit offenen Türen und Fenstern geführt, in dem eine kleine, farbige Frau von ungefähr vierzig Jahren hinter einem von Papieren übersäten Schreibtisch saß. Sie war wie eine Krankenschwester gekleidet, allerdings vollkommen unaufdringlich, und ihr Lächeln wirkte ganz natürlich.
»Shirley Novello«, sagte Novello, während sie die ausgestreckte Hand drückte.
»Billie Saltair«, erwiderte die Frau. »Was kann ich für Sie tun?«
Novello sah zur Tür, um sicherzugehen, daß die Schwester außer Hörweite war.
»Sie können sie schließen, wenn Sie möchten«, sagte die Leiterin. »Ich lasse sie nur offen, damit die Leute sehen, wie hart ich arbeite. Bei diesem Wetter schaffe ich außerdem gern ein bißchen Durchzug. Wenn man hier sonst ein Fenster aufmacht, entsteht ein Orkan, der all diese Papiere innerhalb von zehn Sekunden im gesamten Gebäude verteilen würde – das wäre wahrscheinlich das Sinnvollste, was man mit ihnen machen sollte.«
Novello schloß die Tür.
»Ich bin Polizistin«, sagte sie. »Es ist nichts Ernstes, aber die Leute könnten auf falsche Gedanken kommen.«
»Ach ja?« meinte Saltair leicht amüsiert. »Dann sagen Sie mir gleich, was los ist, bevor ich mich den Leuten anschließe.«
»Hier im Haus wohnt, glaube ich, eine Mrs. Agnes Lightfoot.«
»Das stimmt.«
»Wie geht es ihr?«
»Ganz gut, unter den Umständen.«
»Welchen Umständen?«
»Den Umständen, daß sie nicht gehen kann, halb blind ist, Probleme beim Sprechen hat und so gut wie nie Besuch bekommt.«
»Auch nicht von Mrs. Fleck?«
»Sie kennen Winifred?« fragte die Leiterin ohne sichtbare Gefühlsregung.
»Nur flüchtig. Sie arbeitet hier, oder nicht?«
»Gelegentlich.«
»Ja, natürlich. Ihr Rücken.«
»Ach, ihren Rücken kennen Sie also auch?«
Eine Weile sahen die Frauen einander an, ohne mit der Wimper zu zucken, dann lächelten sie beinahe gleichzeitig.
»Vielleicht sollte ich Ihnen die Sache näher erklären«, sagte Novello, die gerade entschieden hatte, daß man bei Billie Saltair mit Offenheit wohl am weitesten kam.
Sie berichtete kurz über den Fall und sagte dann: »Sie müssen mir jetzt also nur bestätigen, daß Mrs. Lightfoot in den letzten Wochen keinen Besuch von irgendeinem seltsamen Mann zwischen dreißig und vierzig bekommen hat, dann lasse ich Sie wieder in Ruhe.«
Saltair runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf.
»Tut mir leid, aber das kann ich nicht.«
»Ach, kommen Sie! Das fällt doch wohl nicht unter die Schweigepflicht, oder?« sagte Novello etwas gereizt, da sie sich aus lauter Sympathie zur Heimleiterin zu beinahe streng vertraulichen Äußerungen hatte hinreißen lassen.
»Sie haben mich falsch verstanden«, entgegnete Saltair. »Ich meinte, daß ich Ihnen nicht bestätigen kann, daß Agnes keinen solchen Besuch erhielt. Letzte Woche kam da nämlich ein Mann, am Freitag morgen, um genau zu sein. Ich war nicht hier, aber man hat mir später alles erzählt. Es war eine Sensation, daß Agnes Besuch bekam, müssen Sie wissen. Unglücklicherweise war es ausgerechnet Sally, die ihn in Empfang nahm, als er plötzlich auftauchte. Sally ist unsere jüngste Schwester, hat gerade angefangen. Normalerweise wird jeder Besucher zuerst hierher gebracht, damit wir Bescheid wissen, und auch, um ihn über den Zustand des Patienten zu informieren, wenn wir den Besuch genehmigen können. Aber Sally hat vergessen, den Kerl meiner Stellvertreterin vorzustellen, und führte ihn gleich in Agnes’ Zimmer, wo sie die beiden allein ließ. Und als sie Mary schließlich davon erzählte – Mary ist meine Stellvertreterin –, war der Vogel ausgeflogen.«
»Könnte ich mit Sally sprechen?« fragte Novello so beiläufig wie möglich, während ihr Magen vor Aufregung flatterte. Bis jetzt hatte sie diese ganze Sache nur unter dem Aspekt betrachtet, daß der übervorsichtige Pascoe alle Möglichkeiten ausschöpfen wollte. Sie hatte dabei seinen Ruf ignoriert, daß er in einer Untersuchung Möglichkeiten fand, auf die andere Polizisten niemals kommen würden. Was hatte Constable Dennis Seymour, einer ihrer netteren männlichen Kollegen, noch gesagt, als er sie zum Abendessen zu sich und seiner netten irischen Frau eingeladen hatte? »Es ist leicht, dem dikken Andy zu folgen. Er geht durch Wände, und man steigt ihm einfach durch die Löcher hinterher. Aber dieser Pascoe ist anders. Er zwängt sich durch Mauerrisse, und man hat keine Ahnung, wo dieser Schlaumeier einen hinführt.«
Saltair ging zur Tür und bat eine Schwester, Sally zu ihr zu schicken, wenn sie kurz Zeit hätte.
»Können Sie mir sonst etwas über diesen Mann sagen?« wollte Novello wissen.
»Ich weiß das alles nur vom Hörensagen, da fragen Sie lieber Sally«, meinte Saltair, woraus Novello schloß, daß es auf jeden Fall etwas zu berichten gab.
»Ja, gut«, meinte sie. »Dann erzählen Sie mir etwas über Agnes. Waren Sie schon hier, als sie ins Heim kam?«
»Ja, sicher war ich das. Ich bin von Anfang an hier. Dieses Haus war früher das Wohnhaus von einem der Fachärzte des Krankenhauses, in dem ich früher gearbeitet habe. Seine Frau starb, seine Familie zog weiter, und er vereinsamte in diesem großen Gemäuer, so daß er beschloß auszuziehen. Aber dann erkannte er – das war in den Achtzigern damals –, daß der Bedarf an Pflegehelmen sehr bald steigen würde, und anstatt zu verkaufen, ließ er das Haus umbauen und machte seiner Lieblingskrankenschwester – das war ich – ein Angebot, das sie nicht ausschlagen konnte. Das war vor siebzehn Jahren. Himmel, wo die Zeit bleibt!«
»Und Winifred Fleck?«
»Sie war auch von Anfang an dabei. Als Pflegerin. Sie hatte schon etwas Erfahrung und war ganz gut. Vielleicht nicht gerade ein Vorbild an Einfühlsamkeit, aber Sie werden sicher bemerkt haben, daß ihr in bezug auf Hygiene und Ordnung niemand das Wasser reichen kann.«
»Es sah ganz so aus, als sei ihr Rasen in Schutzfolie geschweißt«, sagte Novello.
»Ja, ich weiß … Man sollte sich eigentlich nicht darüber lustig machen. An einem Ort wie diesem ist Hygiene wirklich wichtig, und jemand wie Winifred hielt uns ganz schön auf Trab. Ich muß zugeben, daß wir uns alle ein bißchen gewundert haben, als es hieß, sie würde eine pflegebedürftige Tante bei sich aufnehmen.«
Novello meinte leichthin: »Wahrscheinlich würden wir alle gern eine wohlhabende Verwandte bei uns aufnehmen.«
»Das mag sein. Und wenn das ein Motiv war, hätte ich es auch verstehen können. Aber Agnes hatte nur ein paar hundert Pfund auf der Bank, nicht mehr. Ich weiß das, weil sie nach ihrem zweiten Schlaganfall, als sie dann hierher kam, von Anfang an den vollen Satz an Beihilfe bekam.«
»Entschuldigung, aber was bedeutet das?«
»Einfach gesagt, je mehr man gespart hat, desto höher ist der eigene Beitrag zu unseren Kosten. Aber wenn die Ersparnisse unter einer – damals vor zehn Jahren sehr bescheidenen – Grenze liegen, übernimmt das Sozialamt die Bezahlung. Die Grenze wurde mit der Zeit immer höher angesetzt, weil sich viele gutbetuchte Leute beschwerten, daß es so etwas wie eine heimliche Vermögenssteuer sei.«
»Und die Behörden prüfen das nach?«
»O ja. Sie fordern Bankauskünfte et cetera der letzten paar Jahre, um sicherzugehen, daß im Hinblick auf spätere Pflegekosten nicht größere Summen verschoben wurden.«
»Welche Bank?« hörte Novello sich zu ihrem eigenen – und Saltairs – Erstaunen fragen. Doch die Heimleiterin sah kurz nach und sagte: »Die Mid-Yorkshire Savings Bank.« Während Novello sich Notizen machte, überlegte sie laut: »Agnes hatte also kein oder sehr wenig Geld, als sie hierher kam. Natürlich bedeutet das nicht unbedingt, daß sie auch damals nichts hatte, als sie zu Winifred zog.«
Augenblicklich merkte sie, daß sie einen Fehler begangen hatte. Billie Saltair kniff den Mund zusammen, als hätte sie an einer Zitrone gelutscht, und sagte: »Lassen Sie uns eines klarstellen, Detective Constable. Winnie Fleck kann eine rechte Nervensäge sein, und ich weiß, sie würde sich tief bücken, selbst mit ihrem schlechten Rücken, um einen Penny aufzuheben, aber sie ist so ehrlich, wie der Tag lang ist. Sicher, wenn Agnes vermögend wäre, würde Winifred den ihr zustehenden Anteil erwarten, wenn sie mal stirbt. Aber sie würde das Geld nicht aus ihr herauspressen, auf keinen Fall.«
»Verzeihung«, murmelte Novello kleinlaut, wurde jedoch durch die Ankunft einer jungen Krankenschwester mit kurzen roten Haaren und ängstlichem Gesicht vor weiteren Entschuldigungen bewahrt.
»Sally, das ist Shirley Novello«, stellte die Heimleiterin sie vor. Offensichtlich hatte sie entschieden, daß eine Erwähnung der Polizei das Mädchen nur noch verkrampfter machen würde. »Wir sprechen gerade über Agnes. Miss Novello glaubt, daß sie den Besucher von letzter Woche vielleicht kennt, und da Sie die einzige sind, die ihn mit eigenen Augen gesehen hatte, würde ich Sie bitten, alles zu erzählen, woran Sie sich erinnern können. Ist schon in Ordnung, es ist nichts Schlimmes passiert.«
Sie lächelte dem Mädchen aufmunternd zu, das sich daraufhin etwas entspannte und zu erzählen begann. »Na ja, er kam einfach rein, und als ich ihn ansprach und er sagte, daß er Agnes’ Enkel ist, wurde ich ganz aufgeregt, weil ich wußte, daß Agnes nicht oft Besuch bekommt, also brachte ich ihn gleich in ihr Zimmer. Normalerweise bringen wir sie nach elf Uhr in den Aufenthaltsraum, aber sie fühlte sich nicht besonders, und es schien das beste, sie einfach noch ein bißchen liegen zu lassen und abzuwarten, wie sie sich nach dem Mittagessen fühlt …«
Das Mädchen redete wie ein Wasserfall. Doch Billie Saltair fuhr kurzentschlossen dazwischen: »Ist gut, Sally, wir verstehen schon. Miss Novello?«
»Er hat Ihnen gesagt, er sei Agnes’ Enkel?« fragte Novello nach.
»O ja, deshalb hab ich ihn ja auch gleich nach oben gebracht. Er sagte: ›Hallo, ich glaube, Sie haben meine Großmutter hier, Mrs. Agnes Lightfoot‹, und ich sagte: ›ja …‹«
»Hat er seinen Namen genannt?« unterbrach Novello nach Saltairs Vorbild.
»Nein, aber als wir zu Agnes’ Zimmer kamen und ich sagte: ›Agnes, Sie haben Besuch, Ihr Enkel ist da‹, sagte sie: ›Benny, Benny, bist du das? Ich wußte, daß du eines Tages kommen würdest, ich wußte es.‹ Und dann nahm er ihre Hand und setzte sich zu ihr ans Bett, und ich ließ sie allein, weil ich nicht stören wollte …«
»Das war richtig, Sally«, sagte Novello lächelnd. »Sie mußten allein sein. Tja, da kommt also der Enkel nach all den Jahren her! Wie sah er denn aus? Eher klein und rundlich?«
»O nein, er war ziemlich groß und sehr dünn, sogar sein Gesicht war lang und schmal – und braun, von der Sonne, meine ich, na ja, ich weiß, daß im Moment jeder braun ist bei dieser Hitze, aber sein Gesicht war irgendwie ledrig, als wäre er’s gewohnt, die ganze Zeit draußen in der Sonne zu sein, was auch kein Wunder ist, weil sie in Australien ja immer so ein Wetter haben …«
»Warten Sie«, meinte Novello. »Warum sagen Sie Australien?«
»Weil er so redete, mit diesem Akzent, Sie wissen schon, wie Cockney, nur anders. So, wie sie in australischen Filmen immer reden und in dieser Serie im Fernsehen, Neighbours …«
»Und seine Kleidung?«
»Blau-weiß-kariertes Hemd mit kurzen Ärmeln, dunkelblaue Baumwollhose, schwarze Mokassins«, berichtete Sally mit beinahe schockierender Präzision im Vergleich zu ihrer sonst ausufernden Geschwätzigkeit.
»Alter?«
»So um die Dreißig. Bei dieser sonnengegerbten Haut ist das schwer zu sagen.«
»Wie lange ist er geblieben?«
»Hm, das weiß ich nicht genau, es gab eine kleine Krise mit Eddie, also Mr. Tibbett, der hingefallen war, und wir mußten ihn wieder ins Bett heben und dann den Arzt rufen, um sicherzugehen, daß er sich nicht ernsthaft verletzt hatte, und als ich das nächste Mal in Agnes’ Zimmer sah, war er weg – ihr Enkel, meine ich …«
Ganz klar waren eher Kleidung und Aussehen ihre Spezialität.
»Sie haben nicht zufällig gesehen, wie er hergekommen ist?« fragte Novello weiter. »Mit dem Auto? Taxi? Fahrrad?«
»Tut mir leid«, entgegnete Sally. »Er war in der Eingangshalle, als ich ihn das erste Mal sah, und ich weiß nicht, wie er …«
Dieses Mal hielt sie von selbst inne und sah Novello schuldbewußt an.
»Schon gut«, meinte Novello fröhlich. »Ist egal. Sie haben mir sehr geholfen. Es ist nicht so wichtig. So was, Agnes’ Enkel! Ich wette, sie spricht seither von nichts anderem.«
»Na ja«, sagte Sally, »sie spricht nicht gerade viel. Sie hat Schwierigkeiten, die rechten Worte zu finden, wissen Sie. Ich hab nach ihm gefragt, einfach so, um ein bißchen Konversation zu machen. Aber sie sagte nur: ›Ich wußte, daß er kommen würde, er ist ein guter Junge, was immer sie sagen.‹ Und als ich weiter fragte, machte sie einfach die Augen zu, also hab ich nichts mehr gesagt. Ich dachte, daß sie die Erinnerung vielleicht für sich behalten möchte. Das ist vielleicht das einzige, was sie noch hat.«
Novello lächelte und sagte: »Nein, sie hat gute Schwestern und Freunde wie Sie, Sally, und das ist viel wert. Ich danke Ihnen. Sie waren eine große Hilfe.«
Das Mädchen errötete, warf einen Blick auf die Heimleiterin, die ihr zunickte, und eilte aus dem Zimmer.
»Sie können gut mit Menschen umgehen«, sagte Saltair.
»Danke. Und nochmals Entschuldigung, daß ich Sie wegen Winifred verärgert habe.«
»Sie prüfen es trotzdem nach?«
»Wenn ich Ihnen sagen würde, daß einer Ihrer Patienten kein Herzleiden hat, würden Sie das dann einfach in sein Krankenblatt übernehmen?«
»Sicherlich nicht. Aber Winifred ist keine Ihrer Patientinnen. Ich meine, sie hat doch nichts mit dieser anderen Geschichte zu tun, oder?«
»Soweit ich das sehen kann, nicht«, antwortete Novello. »Überhaupt nicht.«
»Dann war Sally doch keine Hilfe?«
»In gewisser Hinsicht schon. Aber manchmal bedeutet mehr Information einfach nur mehr Verwirrung.«
»Das Gefühl kenne ich. Wie bei Krankheitssymptomen. Die helfen auch nicht immer, die richtige Diagnose zu stellen.«
Novello streckte die Hand aus.
»Jedenfalls vielen Dank für Ihre Hilfe. Hören Sie, ich sehe keine Veranlassung, Agnes im Moment wegen dieser Angelegenheit zu stören. Oder überhaupt irgendwann, so wie es sich anhört. Aber vielleicht denken andere da anders. Ich muß das mit meinen Vorgesetzten besprechen. Vielleicht wollen die mit ihr reden.«
»Dann müssen sie zuerst mit mir reden«, sagte Billie Saltair mit herausforderndem Lächeln. »Niemand sagt mir, was hier auf ›Wark‹ zu tun ist.«
»Nicht einmal Ihr Boß?«
»Mein Boß?« Saltair klang überrascht.
»Der Besitzer. Der Facharzt, der Ihnen das Angebot machte, das Sie nicht ausschlagen konnten.«
»Ach, mein Mann?« Sie mußte über Novellos erstauntes Gesicht lachen. »Ich hätte es Ihnen sagen sollen. Das war das Angebot, das ich nicht ausschlagen konnte. Er ist jetzt im Ruhestand.« Sie lächelte hintergründig. »Ich habe ihm gesagt, daß hier ein Bett für ihn bereitsteht, sobald er erste Anzeichen von Altersschwäche zeigt – etwa, sich in meinen Führungsstil einzumischen. Ich glaube, er nimmt es halbwegs ernst.«
Das tue ich auch, dachte Novello, während sie wieder in die grelle Hitze der Moorlandschaft hinaustrat.
Das tue ich auch!