172323.fb2
Wield gähnte.
Sergeant Clark, für gewöhnlich nicht besonders phantasiebegabt, mußte unweigerlich an einen Besuch des Wookey Hole denken, den er vor Jahren unternommen hatte.
»Was sagten Sie, Nobby?«
Wields Gesicht hatte wieder seine ursprüngliche zerklüftete Form angenommen.
»Ach ja. Sie meinte, lieber Sie als der Superintendent, falls das möglich wäre.«
Constable Novello hält mich also für umgänglicher als den dicken Andy, dachte Wield. Soll ich mich geschmeichelt fühlen?
Er gähnte erneut. Die Müdigkeit kam nicht nur durch sein außergewöhnlich frühes Aufstehen. Der Besuch im Krankenhaus hatte sehr viel emotionale Energie erfordert, und dazu waren die anschließenden Stunden im engen Verhörzimmer mit den sich im Kreise drehenden Fragen und Antworten und einem peitschenknallenden Huddle sehr nervenaufreibend gewesen.
Tja, das war nun vorbei. Dalziel hatte nach Clarks Unterbrechung die Hoffnung auf ein Geständnis erst einmal aufgegeben, obwohl ihm nach der Uhr noch zehn weitere Minuten geblieben wären.
Er nahm den Hörer ab. »Wield.«
Aufmerksam lauschte er Novellos Ausführungen und machte sich dabei Notizen.
Als sie geendet hatte, sagte er: »Und was passiert jetzt?«
Überrascht antwortete sie: »Aber deshalb rufe ich doch an, Chef. Um weitere Anweisungen zu erhalten.«
»Sie sind doch diejenige, die an der heißen Spur schnüffelt«, entgegnete Wield. »Was meinen Sie?«
Sie zögerte und sagte dann: »Ich weiß, daß es ein ungünstiger Zeitpunkt ist, aber ich denke, jemand sollte den Chief Inspector verständigen. Ich meine, es war seine Idee, und vielleicht hat er sich mehr dabei gedacht als wir anderen … Ich meine, so macht er das doch normalerweise, oder? Mit irgendeiner verrückten Idee … eh, damit wollte ich nicht sagen …«
»Ich weiß schon, was Sie sagen wollen«, meinte Wield gutmütig. »Und Sie haben absolut recht. Jemand sollte es ihm sagen.«
»Das meine ich auch«, bestätigte Novello erleichtert. »Also, was soll ich tun, bis ich wieder von Ihnen höre?«
»Von mir?« fragte Wield nach.
»Oder vom Superintendent, wer auch immer das macht.«
»Ah, wir üben wohl das Delegieren, wie? Nein, nein, das machen Sie schön selber. Haben Sie was zu schreiben? Ich gebe Ihnen Mr. Pascoes Handy-Nummer.«
»Chef, ich kann nicht … das ist nicht gut … vielleicht lieber jemand, mit dem er befreundet ist …«
»Wollen Sie das etwa auch so sagen, wenn Sie eine Frau befragen müssen, deren Mann gerade vor ihren eigenen Augen totgeschlagen wurde? Und wenn Sie nicht glauben, daß Mr. Pascoe Ihr Freund ist, dann weiß ich nicht, wen Sie sonst für einen Freund halten. Also, schreiben Sie. Und halten Sie mich auf dem laufenden.«
Nachdem er die Nummer durchgegeben und wieder aufgelegt hatte, klingelte das Telefon erneut.
»Mr. Dalziel, bitte«, sagte eine Frauenstimme.
»Mr. Dalziel ist …« – »beschäftigt« hatte er sagen wollen, doch da in diesem Moment der Dicke ins Büro trat, beendete er den Satz mit: »… hier« und reichte den Hörer weiter.
»Hallo?« brummte Dalziel.
»Wenn ich Sie wäre, würde ich mir Walter Wulfstan mal gründlich vornehmen.«
Die Verbindung wurde unterbrochen.
»Was Wichtiges?« fragte Wield, als Dalziel den Hörer auf die Gabel knallte.
»Irgendeine Verrückte, die mir sagt, ich solle mir Wulfstan vornehmen.«
»Und? Machen Sie’s?«
»Alles, was ich mir im Moment vornehmen will, ist ein Kübel voll Ale. Schleichen wir uns hinten raus, während Turnbull und Hoddle vorne die Schmeißfliegen von der Presse anziehen.«
Das »Coach and Horses« lag nur ein paar Meter die Straße runter. In der kühlen, dunklen Wirtsstube leerte der Dicke sein erstes Bier in einem Zug und hatte bereits den Großteil des zweiten getrunken, als Wield ihm von Novellos Neuigkeiten berichtete.
»Und Sie haben ihr gesagt, sie soll Pete anrufen? Bißchen hart, oder?«
»Für wen, Sir?«
»Für beide! Für sie, weil sie’s tun muß, und für ihn, weil er reagieren muß.«
Das war einmal etwas ganz Neues, daß Dalziel den netten Polizisten spielte und Wield den bösen.
Vorsichtig erwiderte er: »Als ich heute morgen mit Pete gesprochen hab, schien mir, daß er es jetzt am allerwenigsten braucht, in Ruhe gelassen zu werden. Ich würde sagen, daß es ihm in letzter Zeit nicht so gutging, und die Sache mit seiner Tochter könnte der letzte Tropfen sein, der das Faß zum Überlaufen bringt. Selbst wenn er Novello eine Abfuhr erteilt, war es wenigstens eine Ablenkung.«
»Für Pete ist also gesorgt. Und was ist mit unserem Schätzchen?«
»Muß ihre Erfahrungen machen, so heißt es doch, oder?«
»Tatsächlich? Aber Frauen machen andere Erfahrungen als Männer, falls Sie das noch nicht bemerkt haben. Mir scheint, daß sie in dieser Angelegenheit viel erreicht hat und ermutigt werden sollte.«
»So wie ich sie einschätze, ist es aber genau das. Eine Ermutigung.«
»Ach ja? Und wie sieht bei euch in Enscombe eine Belohnung aus? Ein Schlag ins Gesicht?«
Dalziel leerte sein zweites Bier und winkte nach einem dritten. Dabei fiel ihm das Glas ein, das er im »Book and Candle« hatte stehenlassen.
»Und? Was meinen Sie, Sir?« fuhr Wield fort. »Der Besucher der alten Dame: könnte das Benny gewesen sein?«
»Der seiner Mutter nach Australien folgt, dann wieder herkommt und nach einem Schwatz mit seiner Großmutter beschließt, nach Dendale zurückzukehren und da weiterzumachen, wo er aufgehört hat – kleine Mädchen umzubringen? Tolle Story, Wieldy. Ich warte dann auf den Film.«
»Aber die Aussagen, Sir …«
»Aussagen? Eine kleine Krankenschwester, die eine halb blinde, halb verrückte alte Frau aushorcht?«
»Und was Mrs. Hardcastle gesehen hat …«
»Das ist jetzt also eine offizielle Tatsache?« fragte Dalziel. »Die einzige diesbezügliche Tatsache ist, daß ihr Lausejunge sich deswegen mit einer Sprühdose über Hausmauern hergemacht hat.«
Er schwieg und nippte an seinem Glas.
»Es muß ihm einfach aufgefallen sein, Wieldy«, sagte er. »Wenn einer auf Gottes Erden den Spruch BENNY IST WIEDER DA! entdeckt, dann Walter Wulfstan. Aber er hat kein Wort gesagt. Und jetzt kriegen wir komische Anrufe.«
Er trank aus und erhob sich.
»Wo gehen wir hin, Sir?« wollte Wield wissen und nahm einen Abschiedsschluck von seinem Radler.
Dalziel zögerte und sagte dann: »Nee, mein Junge, Sie gehn zurück in die Aula und vergewissern sich, daß George Headingley die Computer nicht dafür benutzt, seine Pension auszurechnen.«
»Und Sie, Sir? Wo finde ich Sie, für den Fall, daß wir Sie brauchen?«
»Ich denke, ich werd mich noch mal mit Walter Wulfstan unterhalten.«
»In seiner Firma?«
»Vielleicht brauche ich gar nicht so weit zu fahren.« Mit lauter Stimme wandte er sich an den Mann hinter der Theke. »Herr Wirt, ich spüre einen plötzlichen Anfall von Religiosität. Wie, bitte, komme ich zur Beulah-Kapelle?«
Falls tatsächlich Schuldgefühl der Anfang religiöser Hinwendung ist, so enthielt Andy Dalziels scherzhafte Aussage auch ein Körnchen Wahrheit, denn er fühlte sich ein wenig schuldig, als er sich von Wield verabschiedete und auf den Weg zur Kapelle machte.
Er hatte wirklich allen Grund zu der Annahme, daß Wulfstan sich diesen Nachmittag in der Kapelle aufhalten würde, aber er ahnte, hoffte oder was auch immer, daß auch Cap Marvell anwesend sein würde. Wield kannte sie und wußte von seiner früheren Beziehung zu ihr. Während Dalziel nun zu dickfellig war, sich um die Spekulationen seiner Kollegen über eine aufgefrischte Beziehung zu sorgen, war es ihm allerdings nicht egal, wenn sie früher zu einem Ergebnis gelangten als er.
Daß er also den Sergeant entließ und außerdem von seltsam puritanischen Selbstzweifeln geplagt wurde, ob er in einem Fall wie diesem zu einer Zeit wie dieser ein Recht auf derart persönliche Gedanken hatte, machte den Dicken ein wenig nervös.
Er schüttelte den Kopf, um das Gefühl wieder abzuschütteln, so wie ein Bär eine Biene abschütteln will, und konzentrierte sich auf seinen Weg. Links unter dem Bogen hindurch, eine schmale Gasse entlang, und dann liegt die Kapelle am Ende des Innenhofs, hatte der Wirt gesagt.
Da war der Bogen. Im Gegensatz zur hell erleuchteten Straße war die Gasse ein Eisenbahntunnel, und als die Stimme ertönte, hatte Dalziel Schwierigkeiten, sie zu orten.
»Er ist also wieder da.«
»Hä?« meinte Dalziel, der auf Zehenspitzen und mit leicht geballten Fäusten innehielt, um für einen eventuell erforderlichen Boxhieb oder Catchergriff gewappnet zu sein. Fremde Stimmen an dunklen Orten bedeuteten nicht immer Unheil, aber man sollte auf alles gefaßt sein.
»Na, dieser Verrückte – Lightfoot. Er ist wieder da. Ich hätte ja gedacht, daß Sie das geahnt hätten.«
Die Stimme klang ruhig und schwach wie die eines alten Mannes oder Teenagers. Dalziel entspannte sich ein wenig und blinzelte heftig, um seine Augen an die Lichtverhältnisse zu gewöhnen.
Zuerst sah er den Umriß eines Körpers, der klein genug war, um einem Jungen zu gehören. Dann konnte er das Gesicht erkennen und korrigierte schnell das vermutete Alter. Es war ein mageres, eingefallenes Gesicht mit tiefen senkrechten Falten um die Mundwinkel und auf der Stirn, in die ein paar dünne, graue Strähnen hingen.
Es kam ihm irgendwie bekannt vor.
»Telford?« fragte Dalziel zweifelnd. »Joe Telford? Sind Sie das?«
»Ich war’s«, sagte der Mann. »Lang nicht gesehn, Mr. Dalziel.«
Das stimmte. Doch es war nicht so lange her, wie die äußere Erscheinung des Mannes vermuten ließ. Er kann noch keine fünfzig sein! dachte Dalziel erschrocken. Er war zwar nie groß gewesen, aber doch sicher größer als jetzt!
Er machte ein paar Schritte auf das Sonnenlicht am Ende der Gasse zu, und der Mann wich langsam vor ihm zurück. Nun wurde der Grund für die geringe Körpergröße sichtbar. Telford ging gebeugt und stützte sich schwer auf einen dicken Gehstock aus Eschenholz. Sein dunkelbrauner Anzug, den er trotz der Hitze trug, mochte einst gepaßt haben, doch jetzt hing er an ihm wie ein Küchenhandtuch an einem Zapfhahn.
Die Gasse führte auf einen kopfsteingepflasterten Innenhof, auf dem die Beulah-Kapelle stand. Es war ein imposantes Gebäude aus dunkelrotem Backstein, das an diesem Ort recht unpassend und deutlich überproportioniert wirkte. Ein schwaches Summen wie aus einem Bienenstock drang aus dem Inneren. Auf dem Hof standen eine Werkbank, einige Holzböcke mit langen Holzlatten und Plastikeimer voller Werkzeug.
Telford war im Schatten stehengeblieben. Trotz des schlecht sitzenden Anzugs machte er einen gepflegten Eindruck. Er war frisch rasiert und roch sauber nach Seife und Sägemehl. Das war immerhin ein wenig beruhigend, obwohl Dalziel schon zu viele Menschen kennengelernt hatte, bei denen Sauberkeit eine gewisse Geistesschwäche nicht ausschloß. Und sein Gefühl sagte ihm, daß Telford nicht mehr ganz bei Trost war.
»Wie geht’s Ihnen denn, Mr. Telford?«
»Geht so. Obwohl es ganz schön hart war.«
»Tja, das glaub ich Ihnen«, sagte Dalziel.
»Na ja, aber mit ’n bißchen Glück fangen Sie den Kerl diesmal, und dann hat die Sache ein Ende.«
Vermutlich war es dieser ständig nüchterne Tonfall, der ihn an diesem Mann so irritierte. Wenn man von der vorzeitigen Alterung einmal absah, war es sogar der einzig irritierende Punkt. Warum also spürte Dalziel dieses nervöse Kitzeln in seiner Gegenwart? Er entschied sich für einen unauffälligen psychologischen Test.
»Tut mir leid, was ich von Ihrer Frau gehört hab«, sagte er. »Muß ein schöner Schock gewesen sein.«
Telford sah ihn an und kratzte sich nachdenklich am Kinn.
»Kein so großer Schock, wie unser George ihn erleben wird, wenn er sieht, was sie einer Zahnpastatube antut.«
Dalziel lächelte anerkennend. Wenn schon untergehen, dann mit fliegenden Fahnen. Das konnte man von einem bodenständigen Yorkie erwarten.
»Dann überlassen Sie den Sängern also Ihre Kapelle?«
»Ja. Warum nicht? Um die Wahrheit zu sagen, Mr. Dalziel, ich verbringe nicht grad viel Zeit da drin. Und Mr. Wulfstan ist früher immer ein guter Kunde gewesen. Wenn an Heck was getan werden mußte, ließ er das von Leuten am Ort verrichten. Holte nicht so’n Lackmeier aus der Stadt, wie viele andere von den Zugezogenen. Er wird auch froh sein.«
»Froh darüber, daß er sein Konzert aufführen kann? Ja, das glaub ich auch.«
»Nein. Froh, daß Sie die Sache bald zum Abschluß bringen. Er wird sein kleines Mädchen ebenso gern wiedersehn wollen wie ich.«
»Sein kleines Mädchen?« wiederholte Dalziel. »O ja, allerdings, allerdings.«
Er dachte, die Überreste. Er brauchte keinen Trauerberater, der ihm sagte, wie wichtig es für den Seelenfrieden der Eltern war, einem richtigen Begräbnis beizuwohnen, richtig Abschied zu nehmen, egal, nach welcher Zeit.
Doch Telfords nächste Worte bestätigten ihm seine erste Diagnose.
»Die Sonne ist allerdings ein echtes Übel. Sie müssen aufpassen deswegen, wenn Sie sie finden. Könnte ihnen die Augen blenden nach all den Jahren in der Dunkelheit. Am besten, Sie warten bis zur Nacht, bevor Sie sie rausholen.«
»Sie rausholen? Wo rausholen, Mr. Telford?«
»Na, aus der Höhle im Neb, wo er sie die ganzen Jahre gefangenhält. Tja, in der Nacht wär’s wohl am besten. Und dann müssen sie sich allmählich wieder ans Licht gewöhnen.«
Oh, Scheiße, dachte Dalziel. Der arme Hund hatte nicht von Überresten gesprochen, sondern von Überleben, von Auferstehung. Er war überzeugt, sein vermißtes Mädchen würde blinzelnd aus irgendeiner Höhle kriechen, in der Benny sie all die Jahre gefangengehalten hatte. Ob er wohl dachte, daß sie jetzt fünfzehn Jahre älter oder durch irgendeinen magischen Zauber nicht mehr gealtert war? Dalziel wollte es gar nicht wissen. Das seltenste aller Ereignisse war eingetreten: Dalziel sah sich einem Problem gegenüber, dem er nicht gewachsen war. Er erinnerte sich an Telfords Frau. Sie hatte ihre Küchenschürze zusammengeknüllt und sich in den Mund geschoben, als sie die Nachricht hörte. Er vermutete, daß sie all ihr Leid, soweit es ging, mit sich selbst ausgemacht und sich schließlich irgendwie damit abgefunden hatte. Was ihre Kräfte jedoch überstieg und womit sie sich nach all den Jahren nicht hatte abfinden können, war die nüchterne Verrücktheit ihres Mannes, sein naives Beharren, daß die kleine Madge noch lebte und nur auf ihre Rettung wartete. Also war sie geflüchtet. Nicht weit, nur zu George, der seinem Bruder sehr ähnlich sah. Dalziel mochte wetten, daß sie in der Nähe wohnten und ein Auge auf Joe hatten. Und daß die Leute aus Danby das akzeptierten. Wenn es um außereheliche Freuden ging, waren Yorkshire-Bauern so nachtragend wie der Einpeitscher im Parlament, aber wenn es um den häuslichen Frieden ging, waren sie oftmals gelassener als die alten Römer.
Freundlich sagte er: »Wir werden tun, was richtig ist, Mr. Telford. Ist Mr. Wulfstan jetzt hier?«
»Ja, er und ein paar andere. Ich warte hier nur auf den Lastwagen. Mr. Wulfstan hat veranlaßt, daß meine Siebensachen bei ihm in der Firma eingelagert werden. Ich hab ihm zwar gesagt, er soll sich keine Mühe damit machen, bei diesem Wetter passiert ihnen schon nichts. Aber er hat darauf bestanden. Er ist ein guter Mann.«
»Ich werd mal hingehn und mit ihm reden, Mr. Telford. Machen Sie’s gut.«
Er überquerte den Hof und dachte, das ist nicht der richtige Ort für mich. Er meinte nicht die Kapelle, er meinte Danby. Als er die Nachricht von dem vermißten Mädchen bekam, hätte er sofort krank werden oder Urlaub nehmen und die ganze Sache Peter aufbürden sollen. Dann fiel ihm ein, was Peter Pascoe inzwischen aufgebürdet worden war, und er brummte bei sich: »Reiß dich zusammen, Mann, oder du endest noch wie der arme Joe Telford.«
Er blickte zurück zur Gasse. Telford war tiefer in den Schatten getreten, und das einzig Sichtbare war das Weiß seiner Augen. Vielleicht suchte er dunkle Orte, weil er sich dort auf irgendeine Weise seiner Tochter näher fühlte?
Dalziel schüttelte den deprimierenden Gedanken ab und öffnete die Tür der Kapelle.
Drei der dort anwesenden Personen schoben Industriesauger über den Boden, was das Summen erklärte. In dem Gebäude stand keine einzige Kirchenbank. Vielleicht waren sie entfernt worden, als man die Kapelle freigegeben hatte. Oder vielleicht hielten die Beulahiten nichts vom Gottesdienst im Sitzen. Es gab keine so harmlose Sache, daß nicht irgendeine religiöse Sekte sie zur Sünde erklärt hätte.
Am hinteren Ende, wo vermutlich der Altar gestanden hatte (falls Altare zu ihrer Religion gehörten), sah er Wulfstan mit einer Gruppe Leuten stehen, zu denen auch die beiden Sänger gehörten. Hinter ihnen saß Inger Sandel am Klavier, schlug Noten an und prüfte sie, noch lange nachdem sie in Dalziels Ohr verklungen waren. Cap Marvell war nirgends zu sehen. Er spürte einen Stich der Enttäuschung, sagte sich dann aber, daß er kein Recht hatte, enttäuscht zu sein. Nicht, wenn der Mann, den er hatte sehen wollen, zur Stelle war.
Wenn die Dinge ins Stocken gerieten, dann setzten sich einige Ermittlungsbeamte einfach hin und gingen die bisherige Geschichte noch einmal haarklein durch. In seinem Team waren zwei Leute, die genau das tun konnten, jeder auf seine Weise. Sein eigenes Vorgehen war jedoch, Dinge voranzutreiben, nicht lockerzulassen, dem Gegner keine Ruhe zu gönnen, selbst wenn er nicht im mindesten wußte, wer dieser Gegner war. Als Peter Pascoe eben diese Unwissenheit als Argument heranzog, um seine Technik für ungültig zu erklären, hatte Dalziel erwidert: »Nein, das macht nix. Der Kerl weiß, wer ich bin, und solang er mich arbeiten sieht, legt er sich nicht friedlich in sein Bettchen. Immer überall draufhaun und sehn, wo’s nachgibt!«
»Superintendent«, begrüßte ihn Wulfstan. »Ich hoffe, Ihnen ist nicht eingefallen, daß Sie diese Kapelle auch noch brauchen.«
»Nee, Sie gehört Ihnen«, entgegnete Dalziel großmütig. »Nur Stehplätze hier, was? Wie bei einem Stehkonvent?«
»Stehkonzert, meinen Sie. Da stehen die Leute, ja, aber hier werden alle sitzen. Sobald der Raum gereinigt ist, werden Stühle aufgestellt.«
»Wie ich sehe, machen Sie sich mit der Säuberung ja viel Mühe.«
»Die Luft in einer Tischlerei ist einem Sänger nicht besonders zuträglich«, erwiderte Wulfstan. »Ich werde später noch einen Staubextraktor aus meiner Firma bringen lassen, um den letzten Rest wegzubekommen. Nun, wie kann ich Ihnen helfen?«
»Nur ein paar Worte«, sagte Dalziel. »Allein.«
Er warf einen Blick auf die anderen. Die drei, die er nicht kannte, entfernten sich. Krog und Elizabeth blieben stehen.
»Bitte, Sie können vor Elizabeth und Arne sprechen«, erklärte Wulfstan. Dalziel zuckte mit den Schultern.
»Wie Sie wünschen. Als Sie am Sonntag morgen nach Danby fuhren, mußten Sie unter der alten Eisenbahnbrücke durch. Dort stand in großen roten Buchstaben was hingesprüht. BENNY IST WIEDER DA! Sie müssen es bemerkt haben. Aber Sie haben es mir gegenüber mit keinem Wort erwähnt.«
Er hatte sich so hingestellt, daß er alle drei beobachten konnte, und er sah, daß Elizabeth von ihm zu ihrem Vater blickte, als sei sie auf dessen Antwort ebenso neugierig wie er. Tja, warum nicht? Es war ja wirklich eine interessante Frage.
Wulfstan sagte: »Ich habe es nicht erwähnt, weil es mir nicht wichtig erschien, und ich zweifelte nicht im mindesten daran, daß Sie es bereits gesehen hatten, sonst hätte ich Sie bestimmt darauf hingewiesen.«
Eine glaubwürdige Erklärung? Oder Erklärungen, da es ja eigentlich zwei waren? Nach Dalziels Rechnung wurde die Glaubwürdigkeit hiermit eher halbiert als verdoppelt.
Er sagte: »Nicht wichtig? Nach allem, was in Dendale passiert ist? Ich hätte gedacht, daß gerade Sie es für wichtig halten würden.«
»Und daß der Schock, diesen Namen zu lesen, alles wieder in mir hochkommen ließe?« Wulfstan lächelte bitter. »Zunächst einmal, Mr. Dalziel, ist es nie weggewesen. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an Mary denke. Das ist auch der Grund, weshalb ich nach Yorkshire zurückkommen konnte, weil ich erkannte, daß räumliche Entfernung keine Rolle spielt.«
Dalziel warf einen kurzen Seitenblick auf Elizabeth, um zu sehen, wie sie auf diese unzweideutige Festlegung der Rangfolge reagierte, darauf, daß die tote leibliche Tochter mehr als die lebende Adoptivtochter galt. Sie reagierte nicht.
»Was Lightfoots Namen angeht«, fuhr Wulfstan fort, »so gab es tatsächlich einmal eine Zeit, in der ich schockiert war. Aber das ist viele Jahre her, damals, als ich wieder nach Danby zurückkehrte. Er ist Teil der hiesigen Redewendungen geworden. Die Kinder haben einen Seilspring-Reim mit seinem Namen, und wenn sie Verstecken spielen, dann heißt der Suchende Benny. Wenn die Männer im Pub über einen schnellen Fußballspieler reden, sagen sie: ›Er rennt wie Benny Lightfoot.‹ Die meisten wissen natürlich gar nicht, von wem sie da sprechen. Tja, da ich hier arbeite, mußte ich mich an den Namen gewöhnen. Und das habe ich.«
Dalziel nickte mitfühlend.
Wulfstan räusperte sich. »Wenn das alles war … Ich erwarte jede Minute den Brandschutzmeister.«
»Tut mir leid, ich weiß, daß Sie beschäftigt sind. Ja, das war alles … außer …«
Er machte eine bedeutungsvolle Pause.
»… außer, daß Sie jetzt schon einige Jahre in Danby wohnen, oder? Und die Zeugin, die Ihren Wagen am Leichenpfad gesehn hat, sagt aus, daß sie ihn erst seit ein paar Wochen ab und zu da stehen sieht, und sie geht da jeden Morgen mit ihrem Hund spazieren, bei jedem Wetter, schon seit Jahren.«
Wulfstan sah ihn eine Weile grübelnd an. Er sah aus wie … Dalziel kam nicht darauf. Dann lächelte er resigniert und sagte: »Falls Ihre Frage lautet: Warum ausgerechnet jetzt?, dann ist die Antwort so offensichtlich, daß ich gedacht hätte, ein Mann mit Ihrer beruflichen Qualifikation würde von selbst darauf kommen. Krankhafte Neugier, Superintendent. Die Hitzewelle hält nun schon so lange an, daß die Reste von Dendale aus dem Stausee auftauchen. Ich steige den Neb hinauf, um den Vorgang zu beobachten. Und manchmal, wenn ich den Leichenpfad entlanggehe, stelle ich mir vor, daß ich von oben alles so vor mir sehen werde, wie es einmal war, ich meine: wirklich alles. Da haben Sie’s. Jetzt sehen Sie die Tiefgründigkeit der Absurdität, in die sich selbst ein vernünftiger Mensch begeben kann.«
»Oh, ich habe so manche Menschen erlebt, die noch zehnmal tiefgründiger waren«, meinte Dalziel. »Danke für Ihre Offenheit. Und es tut mir leid, daß ich Sie gestört habe.«
»Schon gut. Und was für ein perfektes Timing! Da, glaube ich, ist der Brandschutzmeister. Entschuldigen Sie mich.«
Er ging auf den Mann zu, der gerade durch die Tür getreten war und sich mit einem skeptischen Na-das-gibt-Schwierigkeiten-Blick umsah, den Brandschutzmeister bei ihrer Ausbildung sicher als allererstes lernen.
»Was ist mit uns, Superintendent? Haben Sie auch ’n paar ›außers‹ für uns?«
Elizabeth Wulfstans Akzent störte ihn noch immer, auch wenn er inzwischen wußte, daß er keine Verarschung war, sondern echt.
Er antwortete: »Im Moment fallen mir keine ein, Miss. Außer … diese deutschen Lieder über tote Kinder, wollen Sie die immer noch morgen singen?«
»O ja. Sie wollen wohl ’ne Freikarte ergattern, was? Tja, eine könnten wir wohl entbehren, aber ich nehme mal an, so’n Fettbrocken wie Sie wird sicher zwei brauchen, und ob wir so viele hergeben können, weiß ich dann doch nicht.«
Das war auf jeden Fall eine Verarschung, egal mit welchem Akzent.
Dalziel sagte: »Ich dachte nur, Sie hätten es sich unter den Umständen vielleicht anders überlegt.«
Der Smörebröd nickte ihm anerkennend zu, aber Elizabeth zuckte nur gleichgültig mit den Schultern.
Sie sagte: »Kinder sterben, ständig. Zeigen Sie mir einen Ort, wo ich die Lieder singen kann, an dem keine Kinder gestorben sind.«
»Wir sprechen hier nicht im allgemeinen, sondern im speziellen«, erwiderte Dalziel.
»Ich dachte, das Mädchen von der Liggside wird nur vermißt«, entgegnete sie. »Genau wie die andern. Sie werden nur vermißt. ’ne Leiche haben Sie doch nie gefunden, oder?«
Sie sprach ganz ruhig, als ginge es nur um höfliche Konversation.
Dalziel erwiderte: »Fünfzehn Jahre sind ’ne lange Zeit fürs Vermißtsein. Ich glaube nicht, daß irgend jemand …«
Er hielt inne. Daß irgend jemand erwartet, sie plötzlich durch die Tür kommen zu sehen, hatte er sagen wollen, doch da fiel ihm seine Begegnung mit Joe Telford wieder ein. Und was wußte er wirklich über Wulfstan und seine Frau – was dachten sie? Oder die Hardcastles? Nach dem, was Clark ihm erzählt hatte, hörte es sich so an, als sei jeder aus der Familie irgendwie durchgedreht, mehr oder weniger.
Vielleicht war er der einzige Mensch in Mid-Yorkshire, der ohne Zweifel glaubte, daß die Kinder tot waren … Nein, nicht der einzige … Einer mußte es sogar ganz sicher wissen.
Er sagte: »Jedenfalls ist das nicht mein Bier. Sie können singen, was Sie wollen, Herzchen, solange es kein öffentliches Ärgernis wird.«
»Danke«, erwiderte sie ernsthaft. »Aber ich werd überhaupt nicht singen, wenn der Raum hier nicht geeignet ist. Bist du fertig, Inger?«
Inger Sandel hatte während der ganzen Unterhaltung nur ein einziges Mal zu Dalziel geblickt, während sie sich mit dem – für sein ungeübtes Ohr vermeintlich überflüssigen – Stimmen des Klaviers beschäftigte. Allerdings hatte er den Eindruck, daß ihr kein einziges Wort entgangen war. Jetzt lehnte sie sich etwas zurück und spielte langsam eine Tonleiter, erst bedächtig, dann immer kräftiger, bis sie schließlich die gesamte Tastatur bearbeitete. Die Töne erfüllten den Raum der Kapelle. Schließlich hörte sie auf und lauschte dem verhallenden Echo mit derselben andächtigen Verzückung wie dem vorherigen Klang. Dann drehte sie sich zu Elizabeth und nickte ihr kaum merklich zu.
»Na, dann woll’n wir mal«, meinte die.
Dalziel wandte sich zum Gehen, und Arne Krog folgte ihm Richtung Tür.
»Ich finde, Sie haben recht, Mr. Dalziel«, sagte er. »Elizabeth sollte die ›Kindertotenlieder‹ nicht singen. Um dieses Ortes willen. Und um ihrer selbst willen.«
»Ihrer selbst willen?«
Krog zuckte mit den Schultern.
»Elizabeth ist stark, wie eine Stahltür. Man sieht nicht, was dahinter liegt. Aber wie Sie wissen, wird ein Erwachsener als Kind bereits geformt. Vielleicht sollten wir dort einmal hinsehen.«
Ehe Dalziel antworten konnte, begann Inger Sandel zu spielen; ein abrupter, schneller, aufwühlender Sturzbach von Noten, bevor der Gesang mit den passenden Worten einsetzte.
»In such foul weather, in such a gale,
I’d never have sent them to play up the dale!
They were dragged by force or fear.
Nought I said could keep them here.«
Elizabeth schmetterte die Worte mit solcher Wucht in den Raum, daß sich die Kapelle inmitten des sonnigen Wetters zu einer Sturmoase verwandelte. Während sie sang, waren ihre Augen auf Wulfstan gerichtet, der zunächst seine Unterhaltung mit dem Brandschutzmeister fortzuführen versuchte, bald aber den Kopf drehte, um die Sängerin zu beobachten.
»In such foul weather, in sleet and hail,
I’d never have let them play out in the dale,
I was feart they’d take badly;
Now such fears I’d suffer gladly.«
Sie hielt abrupt inne, ebenso die Begleitung.
»Ein bißchen viel Hall«, sagte Elizabeth. »Aber das wird bestimmt besser, wenn die Zuhörer drinsitzen. Arne, du weißt doch sonst alles, was meinst du?«
Sie sprach nicht laut, aber mit Nachdruck. Macht sie einen auf Primadonna, oder paßt es ihr nicht, daß Smörebröd und ich ein Pläuschchen halten? überlegte Dalziel.
Er sah zu Krog und wartete auf eine Antwort. Der blickte etwas irritiert drein, lächelte dann aber entschuldigend und sagte: »Verzeihen Sie. Wir werden später noch einmal reden – vielleicht.«
Und eilte zu den beiden Frauen am Klavier.
Dalziel war nicht entgangen, daß auch Wulfstan trotz seiner Unterhaltung mit dem Brandschutzmeister immer wieder zu ihm und Krog herübergeblickt hatte, und er murmelte bei sich: »Das ›vielleicht‹ können Sie sich sparen, Bursche.«
Dann ging er hinaus in die Sonne.