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Es war wie bei der Überwachung eines Verbrechers, fand Pascoe.
Man hielt Wache, saß da und beobachtete, nichts geschah, man war erleichtert, ging weg, wusch sich, aß ein Sandwich, legte sich hin, wenn man konnte, hielt wieder Wache, und je länger das alles dauerte, desto mehr befürchtete man, daß es umsonst war, reine Zeitverschwendung, daß der Hinweis falsch gewesen oder die Tarnung aufgeflogen war, und daß nichts passieren würde, nicht jetzt, nicht in ein paar Minuten, nicht später … niemals niemals niemals niemals nie …
»Alles in Ordnung?« fragte Ellie.
»Was? Ja, sicher, gut, ich meine, keine Veränderung …«
»Du siehst schlechter aus als sie«, sagte Ellie, die von ihrer blassen, schmächtigen Tochter auf das müde, sorgenvolle Gesicht ihres Mannes blickte. »Warum gehst du nicht und versuchst, ein bißchen zu schlafen?«
Er schüttelte den Kopf. »Hab ich schon versucht. Ist schlimmer als Wachbleiben.«
»Na gut. Dann geh wenigstens mal raus hier und versuch’s mit frischer Luft und Sonne.«
»Die Sonne macht mich krank, könnte ich es nicht mit Regen versuchen?« fragte er und versuchte ein Lächeln.
Sie küßte ihn sanft auf die Lippen, und er verließ das Krankenzimmer.
Der Patientengarten war riesig und einst ein prächtig angelegter und gepflegter Ziergarten gewesen. Doch durch die Einsparungen im Krankenwesen in den letzten Jahren und durch die derzeitige Hitzeperiode mit Bewässerungsverbot war er beinahe zur Wüste verkommen. Pascoe ging eine Weile umher und setzte sich dann auf eine Bank, um den Besucherstrom auf dem Weg zwischen Parkplatz und Haupteingang zu beobachten. Zum Gebäude gingen sie langsam und zögernd, auf dem Rückweg war ihr Gang kraftvoll und beschwingt. Oder war sein scharfer Polizeiblick durch die Müdigkeit und diese grollende Wut getrübt?
Schließlich mußte er doch eingeschlafen sein, denn er wachte plötzlich in zusammengesunkener Haltung auf, wußte nicht, wo er war, und geriet in Panik, als es ihm wieder einfiel.
Doch ein Blick auf die Uhr sagte ihm, daß er nur eine halbe Stunde gedöst hatte. Er stand auf, streckte sich, eilte zurück ins Krankenhaus und suchte eine Toilette auf, wo er sich kaltes Wasser ins Gesicht spritzte.
Er holte sich einen Kaffee aus dem Automaten und ging wieder nach oben. Für die Rückkehr ins Krankenzimmer war es noch zu früh, entschied er. Ellie würde sich nur aufregen und ihm die Laß-uns-doch-vernünftig-sein-Predigt halten. Nicht, daß es ihm viel ausmachen würde. Wie in jeder guten Beziehung wechselten sie sich in der Rolle des Stärkeren und Schwächeren immer wieder ab. Die Predigt gehörte zu Ellies Rolle als starker Partnerin.
Die Tür des Wartezimmers stand leicht offen, und als er gerade hineingehen wollte, um dort seinen Kaffee auszutrinken, hörte er Derek Purlingstones Stimme. Er hatte ihn heute noch gar nicht gesehen. Vielleicht brauchte die Wassergesellschaft all ihre Angestellten, um nach Wasserquellen zu graben. Oder der Mann brauchte die Arbeit, um nicht durchzudrehen.
Im Moment klang er allerdings sehr erregt.
»Du weißt, wem ich die Schuld gebe, ja?«
»Derek, bitte …«, war Jills Stimme zu vernehmen.
»Dieser verdammten Schule! Wenn du nur zugestimmt hättest, sie auf eine vernünftige Schule zu schicken, dann wäre das nicht passiert. Nein! Komm nicht näher. Du stinkst wie ein alter Aschenbecher. Gott, mußtest du denn wieder anfangen zu rauchen?«
Bevor Pascoe sich zurückziehen konnte, wurde die Tür aufgestoßen, und Jill Purlingstone stürmte mit nassen Augen an ihm vorbei und lief den Korridor hinunter.
Pascoe trat ein. Eigentlich wollte er so tun, als hätte er nichts gehört, doch als er die bedrückende Stille brach, hörte er sich selbst sagen: »Sie glauben doch nicht im Ernst, daß die Schule etwas damit zu tun hat, oder?«
»Irgendwo müssen sie’s ja gekriegt haben«, erwiderte Purlingstone bissig.
»Und Sie denken wirklich, an einer, wie Sie es nennen, ›vernünftigen Schule‹ wäre die Gefahr geringer?«
Pascoe wollte nur Konversation betreiben, keine Aggression schüren. Bei ihren wenigen Zusammenkünften, meist wegen der Kinder, hatte er Purlingstone immer ganz nett gefunden. Sie hatten immerhin so viel gemeinsam, um sich einige Stunden ohne Berührung heikler Themen unterhalten zu können. Und wenn sie aus Versehen doch aufs Glatteis gerieten, etwa die Pflichten der Polizei in der heutigen Zeit oder Effizienz und Leistung der Mid-Yorkshire Wassergesellschaft, waren sie beide in der Lage, durch scherzhafte oder ironische Bemerkungen wieder auf sicheres Terrain zu gelangen. Vielleicht bemühte Purlingstone sich auch jetzt darum, als er sagte: »Sie etwa nicht? Man kriegt das, wofür man bezahlt, Peter. Okay, ich weiß, Sie und Ellie sind eingeschworene Linke, aber ich hatte immer den Eindruck, daß Sie sich in erster Linie doch um Rosies Wohl kümmern, egal wie.«
»Ihr Wohl im Rahmen unseres Systems, unbedingt«, erwiderte Pascoe. »Aber nicht, indem wir uns aus dem System freikaufen.«
»Sie halten es also für richtig, hie und da eine Gefälligkeit einzufordern, um Ihre Tochter in die Schule zu kriegen, die Sie ausgesucht haben, aber nicht, daß ich ein paar Pfund bezahle, um dasselbe zu erreichen?«
»Was zum Henker wollen Sie damit sagen? Es ist eine gute Schule, und ich bin froh, daß Rosie da hingeht.«
»Oh, natürlich! Vor allem, wo Bullgate drei Meilen näher an Ihrem Haus gelegen hätte. Ich frage mich, wie viele Strafzettel Sie wohl vernichten mußten, um sie in Edengrove einschreiben zu lassen.«
Diese höhnische Bemerkung kam ihm so glatt über die Lippen, daß Pascoe sich zusammenreimen konnte, daß sie schon des öfteren geäußert wurde. Na und? dachte Pascoe bei sich. Er war hinter Purlingstones Rücken auch nicht immer höflich gewesen. Es wurde Zeit, diesen Streit beizulegen und sich lieber in gemeinsamer Sorge um ihre Kinder zu verbünden.
Das sagte ihm die Vernunft, doch seine Worte klangen ganz anders.
»O Ja, Sie haben recht, eine verdammte Menge an Strafzetteln. Aber das kommt daher, weil ich kein dickes Portemonnaie habe, um die richtig dicken Schmiergelder zu zahlen.«
Himmel! Wo bleibt deine Selbstbeherrschung? stöhnte er innerlich auf. Hör auf. Hör bloß auf! Er sah, daß sein Gegenüber kurz vor dem Durchdrehen war. Jetzt kommt’s. Was immer er sagt, ignorier es einfach, geh weg.
Dennoch blieb er wie angewurzelt stehen, als Purlingstone mit schneidender Stimme sagte: »Das muß ich mir von einem neunmalklugen Polizeischeißer nicht bieten lassen. Ich arbeite verdammt hart für mein Geld, Freundchen. Ich lebe in der wirklichen Welt und muß mir jeden Penny verdienen.«
»Sie machen Witze!« entgegnete Pascoe ungläubig. »Sie machen doch dieselbe Arbeit wie vor der Privatisierung. Und wenn Sie Ihnen damals nur Peanuts bezahlt haben, was sind Sie dann jetzt anderes als ein Affe mit aufgeblähtem Bankkonto? Und wissen Sie, wo dieses Geld herkommt? Von uns armen Schweinen, die nicht mal anständiges Wasser in ihr Haus gepumpt bekommen. Himmel, wenn hier einer dafür verantwortlich ist, daß unsere Kinder krank sind, dann doch eher Sie mit Ihren verseuchten Stränden und Ihrem stinkenden Leitungswasser!«
Purlingstone machte ein verkniffenes Gesicht und ging einen Schritt auf ihn zu. Pascoe ballte die Faust. Dann spürte er, wie er von hinten gepackt und rücklings durch die Tür gezogen wurde, die vor seiner Nase zufiel.
»Peter, was zum Teufel machst du da?« zischte Ellie aufgebracht.
»Ich weiß nicht … er hat gesagt … und ich fand es einfach an der Zeit … Ach, verdammt, es war einfach dumm. Ein Wort gab das andere. Bei ihm auch. Er hat behauptet …«
»Mich interessiert nicht, was er behauptet hat. Mich interessiert nur unsere Tochter, und daß du dich im Wartezimmer duellierst, wird ihr nicht helfen, oder? Hör zu, wenn du es hier nicht aushältst, warum gehst du dann nicht einfach? Geh nach Hause und schlaf dich aus.«
Er atmete tief durch, suchte inneren Halt, fand ihn, beruhigte sich.
»Nein, ich bin wieder okay. Tut mir leid. Ich bin nur so frustriert, daß ich irgend jemanden zusammenscheißen mußte. Es hätte schlimmer kommen können, und du wärst diejenige gewesen, die es abbekommt. Was machst du überhaupt hier? Ist doch nichts passiert, oder?«
»Denkst du, dann würde ich die Zeit mit diesem Blödsinn vergeuden? Nein, keine Veränderung. Ich mußte nur mal eben aufs Klo, das ist alles. Und jetzt muß ich noch viel dringender.«
»Laß dir Zeit«, sagte Pascoe. »Ich werde zu Rosie gehen und nachsehen, ob ich nicht eine Schwester zum Zusammenschlagen finde.«
Sein schwacher Scherz schien sie zu beruhigen, und sie eilte davon. Pascoe sah zur Tür des Wartezimmers und überlegte, ob er mit Derek Frieden schließen sollte. Aber er merkte, daß er dazu noch nicht bereit war, und ging den Korridor hinunter in Rosies Krankenzimmer.
Eine Schwester überprüfte die Monitore. Sie lächelte ihm freundlich zu, ehe sie den Raum verließ, also sah er vielleicht doch nicht aus wie Mr. Hyde. Er setzte sich und nahm Rosies Hand.
»Hallo, Rosie. Ich bin’s. Ich habe mich gerade mit Zandras Vater gestritten. Das hättest du nicht gedacht, daß Väter auch streiten, was? Tja, das ist hier draußen auch nicht anders als auf dem Schulhof. Einen Augenblick kümmert man sich um seine eigenen Angelegenheiten, und im nächsten sagt jemand was Blödes, und man erwidert was Blödes, und dann wälzt man sich auf dem Boden und versucht, dem anderen das Ohr abzubeißen. Bei Jungs ist das zumindest so. Ihr Mädchen seid anders. Ihr seid vernünftiger, würde deine Mummy jetzt sagen. Vielleicht greifen Frauen sich aber auch nur nicht körperlich an. Sie rechnen auf andere Weise ab. Sicher, sie sind alle für Frieden, aber manchmal denke ich, daß Frieden für sie nur die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln ist. Das ist ein Erwachsenen-Witz, den du eines Tages verstehen wirst, wenn du eine Frau bist. Das wird nicht mehr allzu lange dauern, mein Schatz. Du wirst irgendeinen rebellischen jungen Mann nach Hause bringen und hoffen, daß deine Alten dich nicht blamieren, indem sie in den Tee sabbern oder das Gebiß rausnehmen, um Himbeerkerne rauszupulen. Rosie, sei nett zu uns. Das ist alles, was die Welt wirklich braucht, um sich weiter zu drehen: Kinder, die nett zu ihren Eltern sind, und Eltern, die nett zu ihren Kindern sind. Das ist für eine Familie das einzige, was wichtig ist, und es ist der einzige weise Rat, den ich an dich weitergebe. Ich hoffe, du kannst ihn hören. Kannst du ihn hören, mein Schatz? Hörst du mir irgendwo tief da drinnen zu?«
Er beugte sich über das Mädchen und starrte angestrengt auf ihr Gesicht. Er sah keine Regung, kein Zucken der Augenlider. Kein Lebenszeichen.
Voller Panik drehte er sich zum Monitor. Da war es, ein beständiger Pulsschlag. Er blickte von dem Gerät auf das Gesicht, immer noch zweifelnd. An ihrer Wange zuckte ein Muskel, wie das schwache Flirren einer Brise auf einem Sommerteich. Er atmete erleichtert aus und merkte jetzt erst, daß er die Luft angehalten hatte.
Er begann wieder zu reden, aber jetzt klang sein Monolog unsicher und gezwungen, also nahm er »Nina und der Nix« zur Hand und las da weiter, wo er vorher aufgehört hatte.
»Draußen war die Sonne so hell, daß ein wenig Licht durch den Gang drang. Bei seinem schwachen Schein sah sie, daß sie in einer Höhle saß. Auf dem Boden lagen überall Steine verstreut, und in der Mitte der Höhle war ein kleiner, stinkender Teich, an dessen Ufer ein Ungeheuer saß.
Sein Körper war lang und schuppig, seine Finger und Zehen hatten lange gebogene Nägel, sein Gesicht war hager und ausgezehrt, seine Nase krumm, sein Kinn spitz mit nadelspitzen Bartstacheln, seine Augen lagen tief in den Höhlen und …«
Plötzlich ertönte ein elektronischer Piepston, und er starrte eine Sekunde lang in blankem Entsetzen auf den Monitor, bis er erkannte, daß es sein Handy war. Verärgert schaltete er es ein und bellte: »Ja?«
Es herrschte einen Moment lang Schweigen, so als hätte die Vehemenz seiner Antwort den Anrufer verschreckt. Dann sagte eine Frauenstimme: »Hallo, hier ist Shirley Novello. Ich wollte nur anrufen, um … Ich habe mich gefragt, wie es ihr wohl geht, Ihrer kleinen Tochter?«
»Keine Veränderung«, sagte Pascoe.
»Tja, das ist … ich meine, ich bin froh … Ich hoffe, alles wird gut werden, Sir. Tut mir leid, Sie zu stören …«
»Ist schon gut.« Pascoe entspannte sich ein wenig. »Es ist nett, daß Sie anrufen. Hören Sie, ich sollte das Ding hier nicht benutzen. Sie sagen, es könnte die Elektronik hier beeinträchtigen …«
Während er sprach, beobachtete er aufmerksam den Monitor. Alles schien so zu sein wie vorher.
Novello sagte: »Tut mir leid. Ich wollte nicht … Hören Sie, das war keine gute Idee, tut mir leid, Sir. Ich hoffe, alles wird wieder gut.«
Keine gute Idee? Pascoe dämmerte, daß sie nicht nur aus Mitgefühl angerufen haben könnte.
Für eine Sekunde wurde er wütend. Dann dachte er: Was soll’s, zum Teufel? Was willst du? Daß die Welt da draußen stehenbleibt, nur weil sie hier drin zum Stillstand kam? Und seine Kollegin wußte ja nicht, daß er gerade direkt an Rosies Bett saß und einen Apparat beobachtete, um sicherzugehen, daß sie noch atmete.
Er sagte: »Geben Sie mir Ihre Nummer.«
Überrascht gehorchte sie. Er unterbrach die Verbindung ohne weiteres Wort, ging auf den Korridor, rollte ein fahrbares Telefon ins Zimmer, stöpselte das Gerät ein und wählte.
»Na gut«, sagte er. »Den Mitleidspart haben Sie hinter sich. Jetzt haben Sie zwei Minuten für den Rest.«
Sie sprudelte ihren Bericht hervor. Diesen Teil hatte sie geübt in der Vorahnung, daß sie schnell sein mußte, wenn sie überhaupt die Chance bekam.
Pascoe sagte: »Sie wissen, bei welcher Bank Mrs. Lightfoot ist?«
»Mid-Yorks Savings.«
»Das ist Willie Noolan. Zufällig ein alter Rugby-Kumpel vom Superintendent. Er wird kooperieren, wenn Sie Mr. Dalziels Namen erwähnen und verschwörerisch lächeln. Sagen Sie ihm, daß Sie wissen möchten, wann die große Geldsumme, die vor fünfzehn Jahren auf Mrs. Lightfoots Konto überwiesen wurde, wieder abgebucht wurde und in welcher Form.«
»Ja, Sir. Welche große Geldsumme?«
»Die Abfindung für Neb Cottage. Ich habe es erst vor kurzem herausgefunden … gestern …«
Er schwieg. Novello vermutete, daß er Schwierigkeiten hatte, die Geschehnisse zeitlich einzuordnen.
»… jedenfalls scheint es so, daß Agnes selbst die Eigentümerin von Neb Cottage war, also muß die Wasserbehörde einen schönen Batzen ausgespuckt haben, sonst wären sie überhaupt nicht befugt gewesen, die Hütte räumen zu lassen. Ich weiß nicht, wieviel es war, aber sicher ein paar Zehntausend. Wenn das Geld von ihrem Konto abgehoben wurde, nachdem sie bei ihrer Nichte einzog, setzen Sie sich mit Sheffield in Verbindung und lassen Mrs. Fleck hochgehen.«
»Aber das Sozialamt hat das überprüft, als sie nach ›Wark House‹ kam.«
»Ja, aber nur die letzten zwei Jahre. Da Fleck in dem Heim arbeitet, wird sie die Prozedur kennen und dementsprechend dafür gesorgt haben, daß Agnes noch ein paar Jahre bei ihr bleibt, nachdem sie sich die Kohle gekrallt hat. Wenn es natürlich vor dem ersten Schlaganfall bereits von ihrem Konto abgebucht wurde …«
Jetzt hatte Novello begriffen.
»Dann könnte es sein, daß Benny das Geld bekommen hat und damit seine Flucht finanzierte.«
»Genau. Mit vierzig- oder fünfzigtausend in der Tasche wäre es für ihn nicht allzu schwer gewesen, außer Landes zu kommen.«
»Denken Sie wirklich?« fragte Novello zweifelnd. »War der Kerl nicht ein bißchen blauäugig für so eine Aktion?«
»Er war seltsam, nicht blauäugig, wie Mrs. Shimmings mir erzählte. Sie sagen, dieser Besucher im Heim hätte einen australischen Akzent gehabt? Tja, Sie haben wahrscheinlich gehört, daß Bennys restliche Familie nach Australien ausgewandert ist. Wo hätte er also sonst hingehen sollen, wenn sein Zuhause hier zerstört war. Jedenfalls ist es wahrscheinlicher als die Idee, daß er wie ein Nix in den Neb gekrochen ist oder so etwas …«
Er blickte auf das Buch, das er immer noch in der Hand hielt. Der Nix grinste höhnisch zu ihm auf.
Er sah Lightfoots Personenbeschreibung ganz und gar nicht ähnlich.
»Überprüfen Sie es auf jeden Fall, Shirley. Überprüfen Sie alles, egal, wie unwahrscheinlich es klingt. Wir leben in einer Welt voller Überraschungen …«
Er klang traurig.
»Ich danke Ihnen, Sir. Tut mir leid, daß ich Sie jetzt gestört habe, wo … Ich hoffe, alles wird wieder gut. Heute morgen habe ich für Rosie eine Kerze angezündet …«
Sie hatte das nicht sagen wollen. Pascoe war bestimmt Agnostiker, und was seine Frau anging, so würde sie Gerüchten zufolge am liebsten alle Pfarrer splitterfasernackt in der Antarktis aussetzen. Aber es war alles an Hoffnung, das Novello geben konnte, also tat sie es.
»Danke«, sagte Pascoe. »Das war nett. Danke.«
Er legte den Hörer auf.
»Hast du das gehört, Rosie? Da brennt eine Kerze für dich. Wollen wir mal hoffen, daß es eine von diesen dicken großen ist, hm? Und daß sie lange, lange brennt.«
Er nahm »Nina und der Nix« wieder auf. Hatte das überhaupt einen Sinn? fragte er sich. Konnte sie überhaupt etwas hören?
Überflüssige Frage. Er begann wieder zu lesen.
Rosie Pascoe liegt in einer Ecke, wo der Nix sie hingeworfen hat. Sie liegt sehr unbequem. Kleine spitze Felssteine pieken ihr in den Rücken. Aber sie wagt es nicht, sich zu rühren.
Der Nix sitzt ein paar Meter vor ihr und starrt sie die ganze Zeit an, als versuche er zu entscheiden, was er tun soll. Ist da Mitleid in seinen Augen? Sie versucht, es zu erkennen, doch sie sieht nur eine furchterregende Leere.
Dann, irgendwo weit über sich, hört sie ein Telefon klingeln.
Der Nix sieht nach oben. Sie sieht auch nach oben. Und sie erkennt, daß es kein Telefon ist. Es ist das Quieken der Fledermaus, die kopfunter an der Höhlendecke hängt.
Der Nix sieht immer noch nach oben. Er hat seine schwimmhäutigen Hände um die Ohren gelegt und lauscht angestrengt. Der Anblick ist fast komisch, aber Rosie ist nicht nach Lachen zumute. Sie ahnt, daß ihr jede Nachricht von dort oben zum Verhängnis werden kann.
Doch sie nutzt die Gelegenheit, um ein paar spitze Steine unter ihrem schmerzenden Rücken wegzuschieben. Nur, als sie sie berührt, fühlen sie sich gar nicht wie Steine an. Und als sie sie anschaut, sind es Knochen.
Nun lauscht auch sie angestrengt in die Dunkelheit und bildet sich ein, diese hohen fremden Töne tatsächlich zu hören. Wie laut sie dem Nix erscheinen, kann sie nur vermuten, aber er nickt, wie um zu zeigen, daß er verstanden hat … und gehorchen wird.
Dies könnte ihre letzte Gelegenheit zur Flucht sein. Der Nix hockt zwischen ihr und dem Höhleneingang, durch den das schwache Licht hereinschimmert und eine sonnenhelle Welt verspricht. Ist er so verzückt von dem, was er hört, daß sie sich an ihm vorbeischleichen und noch einmal versuchen kann, den Gang hinaufzurennen? Sie muß es versuchen.
Sie bewegt sich ganz langsam und erhebt sich mit unendlicher Vorsicht vom knochenübersäten Boden. Dann, gerade als sie es auf alle viere geschafft hat, spürt sie einen Griff um ihre linke Hand.
Verwirrt blickt sie nach unten. Der Griff ist fest, aber es ist nicht die Klaue eines Ungeheuers, die sie da hält. Es ist eine Kinderhand. Sie läßt ihren Blick den schmalen, weißen Arm entlangwandern und sieht schließlich in das Gesicht eines anderen Mädchens, das aussieht wie sie selbst. Nein, nicht ganz wie sie, denn ihr Haar ist lang und blond, während Rosies kurz und schwarz ist. Aber sie sieht in dem blassen Gesicht dasselbe grausige Entsetzen, das auch sie verspürt. Und das Gesicht erkennt sie nun auch, zumindest glaubt sie das. Zuerst ist es Ninas Gesicht aus dem Märchen. Dann ist es das Gesicht ihrer Freundin Zandra. Dann plötzlich sieht sie ein anderes blondes Mädchen, das sie nicht kennt.
»Hilf mir«, sagte die Neue. »Bitte, hilf mir.«
Doch ein Blick auf den Nix verrät Rosie, daß es für jede Hilfe bereits zu spät ist. Er läßt die Hände von den Ohren sinken und starrt sie wieder durchdringend an.
Und seine Augen sind nicht mehr leer und ausdruckslos.
Nein, sie funkeln und glühen, funkeln und glühen.