172323.fb2 Das Dorf der verschwundenen Kinder - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 38

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Sieben

Shirley Novello war immer der Meinung gewesen, man brauche eine Verfügung vom Obersten Gerichtshof, wenn nicht gar einen päpstlichen Erlaß, um eine Bank zum Brechen des Bankgeheimnisses zu bewegen. Nun aber mußte sie feststellen, daß alle Schlösser aufbrachen, sobald die Mid-Yorkshire-Version des Sesam, öffne dich in Form von Dalziels Namen erklang.

Vielleicht war es ja auch ihr Lächeln gewesen, dachte sie, während sie Pascoes Anweisungen aufs Wort befolgte und Willie Noolan in der Mid-Yorkshire Savings Bank verschwörerisch anlächelte.

Er erwiderte ihr Lächeln mehr lüstern als verschwörerisch und beugte sich über die Tastatur seines Computers.

»Die alte Agnes Lightfoot? Lebt die noch? Bei Gott, Sie haben recht«, sagte er mit einem Blick auf den Bildschirm. »Ist nicht viel, aber immerhin. Da wird keiner reich von, wenn sie den Löffel abgibt.«

»Mr. Dalziel interessiert sich mehr für die Vorgänge vor fünfzehn Jahren.«

»Bevor wir auf Computer umstellten …« Noolan sprach mit nostalgischem Unterton.

»Dann haben Sie also keine Belege mehr?« fragte Novello enttäuscht.

»Ich bitte Sie! Man wird keine Bank, indem man Sachen wegwirft! Das werden wir im Keller haben. Mein Assistent Herbert wird Ihnen die Unterlagen gleich raussuchen. Herbert!«

Herbert war der sichtbare Beweis dafür, daß die Bank nur ungern etwas wegwarf, da er das Rentenalter schon weit überschritten zu haben schien.

Er bewegte sich jedoch auf flinkem Fuß und legte Novello binnen kürzester Zeit eine Akte vor, die so zerknittert und staubig aussah wie sein Anzug.

»Danke, Herbert«, sagte Noolan. »Gehen Sie und legen sich ein wenig hin, bis Sie wieder ruhig atmen können.«

»Ist er nicht ein bißchen zu alt, um noch zu arbeiten?« fragte Novello, nachdem er aus dem Büro geschnauft war.

»Finden Sie? Und sind Sie nicht ein bißchen zu jung, um so was zu fragen?«

»Tut mir leid.«

»Nee, meine Liebe, nun gucken Sie mal nicht so schuldbewußt!« lachte Noolan. »Herbert ist schon lang im Ruhestand. Er ist nur lieber hier als zu Hause. Sagt, seine Frau stellt laufend Forderungen. Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, was er damit meint. Tja, dann wollen wir mal sehen, oder? O ja. Da ist es, ich dachte mir schon, daß ich da was hab läuten hören. Fünfzigtausend Pfund Abfindung von der Wasserbehörde. Das war Ende Juli. Und dann wurden kurze Zeit später neunundvierzigtausend abgehoben. In bar. Ja, jetzt erinnere ich mich. Bei so viel Bargeld will sich jeder durch alle möglichen Unterschriften absichern. Hier sind mehr Unterschriften als auf einem Friedensvertrag. Mir fällt so langsam alles wieder ein. Ich hab versucht, es ihr auszureden, aber sie sagte, wenn ich ihr Konto nicht wolle, dann kenne sie genug andere Banken. Und weg war sie mit ihrer Tasche voll Geld.«

»Und das ist fünfzehn Jahre her?«

»Wie ich’s gesagt habe.«

»Und das Geld ist nie wieder auf ihr Konto eingezahlt worden?«

Noolan sah alle schriftlichen Unterlagen bis zur Computerisierung durch.

»Nein, niemals.«

»Tja, vielen Dank für Ihre Hilfe, Mr. Noolan«, sagte Novello. »Mr. Dalziel wird zufrieden sein.«

»Das ist schön. Ich freue mich immer, wenn ich der Polizei helfen kann. Sie haben Ihr Sparkonto nicht zufällig bei uns, Herzchen?«

»Ich verdiene nicht genug, um überhaupt ein Sparkonto zu haben«, entgegnete Novello. »Tut mir leid.«

Während sie das Gebäude verließ, überdachte sie die Fakten. Damit konnten sie Winifred vom Haken lassen. Wie Billie Saltair gesagt hatte – sie mochte habgierig sein, aber sie hatte nichts Unrechtes getan. Möglicherweise war sie in ihrer Gier eher von Tante Agnes ausgenutzt worden, die sie in dem Glauben gelassen hatte, die Abfindungssumme sei noch auf ihrem Konto. Und all die Jahre in Branwell hatte Mrs. Lightfoot bestimmt dafür gesorgt, daß Winifred nie einen ihrer Kontoauszüge zu sehen bekam. Doch nach dem zweiten Schlaganfall war sie dazu vielleicht nicht mehr in der Lage gewesen, und als Winifred merkte, wie es stand, wollte sie die Last der Pflege nicht mehr auf sich nehmen.

Und so nahm das verrückte Szenario, in dem Benny Lightfoot mit Hilfe des Geldes seiner Großmutter nach Australien floh und nun zurückgekehrt war, um erneut kleine Mädchen umzubringen, immer mehr Gestalt an.

Das bedeutete, daß jemand mit Agnes sprechen mußte. Jemand! Natürlich war das ihre Aufgabe.

Was bedeutete, daß sie zuerst mit Billie Saltair sprechen mußte.

Sie rief lieber erst einmal an, ehe sie sich auf den weiten Weg nach Sheffield begab. Es war eine weise Entscheidung.

»Heute nicht mehr«, erklärte die Heimleiterin bestimmt. »Wir habe sie gerade zu Bett gebracht. Es geht ihr nicht so gut, sie hat Fieber. Wenn es schlimmer wird, muß ich den Arzt kommen lassen. Rufen Sie mich morgen früh wieder an.«

Wäre die Heilige Dreifaltigkeit beharrlicher gewesen? überlegte Novello. Der dicke Andy war sicher in der Lage, eine gebrechliche alte Frau auf ihrem Sterbebett zu verhören, aber war er auch in der Lage, an Billie Saltair vorbeizukommen?

»Ja, morgen früh«, wiederholte sie.

Durch ihr rasches Nachgeben anscheinend besänftigt, sagte Saltair: »Eines könnte Sie vielleicht interessieren. Ich weiß nicht, ob es etwas mit Agnes’ Besucher zu tun hat, aber einer unserer Handwerker erinnert sich an ein weißes Fahrzeug, wie ein Campingbus, der an jenem Freitag morgen die Auffahrt runterfuhr.«

Novello schmunzelte. Detektivarbeit war ansteckend. Nicht einmal Billie Saltair war dagegen immun.

»Haben Sie vielen Dank«, sagte sie, diesmal sehr viel freundlicher. »Ich melde mich wieder.«

Sie legte den Hörer auf, hob ihn wieder hoch und wählte die Einsatzzentrale in Danby. Wield sei da, im Moment aber nicht zu sehen, also hinterließ sie ihren Bericht bei Inspector Headingley, der ihr onkelhaft dankte, als wäre sie ein kleines Mädchen, das wegen seiner Lispelstimme und goldenen Locken in der Erwachsenenwelt geduldet wurde. Doch irgendwie war das sogar angenehmer als die erwartete Antwort von Sergeant Wield, dem es sicher gar nicht recht war, daß sie dieses BENNY IST WIEDER DA!-Szenario stützen konnte.

War er denn wieder da? fragte sie sich. Nun, irgend jemand war ganz sicher zurück.

Sie stand am Fenster ihres Dezernats, das in der Hoffnung auf eine ermutigend kühle Brise weit geöffnet war. Doch alles, was hereinkam, waren Lärm und Gestank der vorbeifahrenden Autos. Sie blickte zum blauen Himmel hinauf, als erwarte sie von dort einen Fingerzeig auf Agnes’ mysteriösen Besucher.

Hätte sie statt dessen ihre Augen in Demut gesenkt, hätte sie vielleicht ebendiesen Mann vor dem Haupteingang des Polizeipräsidiums von Mid-Yorkshire stehen und auf die alte blaue Laterne blicken sehen, die noch immer dort hing. Sie hätte vielleicht gemerkt, daß dieser Mann einen Moment lang mit dem Gedanken spielte, hineinzugehen und jemandem anzuvertrauen, was ihn bedrückte.

Doch dann war dieser Moment vorbei. Der Mann drehte sich um und war mit wenigen Schritten in der Menge verschwunden.