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Dalziel tunkte seinen Keks in den »Tee danach«, führte ihn zum Mund, ehe er abbrechen konnte, biß hinein und nuschelte schmatzend: »Du meine Fresse!«
»Schlimmer Zahn?« fragte Cap Marvell mitfühlend.
»Nein. Das ist ein Grannie’s Golden Shortie.«
»Ist das ein Problem?«
»Für meinen Vater war es eins«, erwiderte Dalziel. »Es war nämlich sein Rezept.«
Cap fiel ein, daß sie absolut nichts über Dalziel wußte, bevor er Polizist wurde, und kaum etwas über die Zeit, bevor er sich als Detective Superintendent in ihr Bett – und Herz – gehievt hatte.
In ersterem lag er jetzt, weil sie nach seinem Klingeln am Abend zuvor gemerkt hatte, daß er das letztere nie verlassen hatte.
Er war im Krankenhaus gewesen, um die kranke Tochter seines Kollegen zu besuchen. Am Nachmittag hatte es wohl eine Krise gegeben, aber jetzt war das Kind wieder stabil. Die Eltern waren natürlich vollkommen fertig, und Dalziel hatte, wie sie vermutete, all seine Energie in aufmunternd optimistische Worte gesteckt. Als er auf ihrer Türschwelle stand, wirkte er ganz und gar kraftlos, was etwa so schockierend war wie der Anblick eines ausgetrockneten Loch Lomond. Er hatte von dem kranken Kind erzählt, von dem vermißten Kind, von den Kindern aus Dendale, und das auf so uncharakteristisch unzusammenhängende Weise, daß es irgendwann schwierig wurde, die einzelnen Geschichten auseinanderzuhalten. Dabei wurde allerdings deutlich, daß er sich auf irgendeine Art für alle verantwortlich fühlte, und der Schmerz ihrer Eltern wog so schwer, daß selbst seine breiten Schultern ihn kaum noch tragen konnten.
Sie hatte ihm Whisky gegeben und dreimal nachgeschenkt, und erst als das dritte Glas leer war, hörte er auf zu reden, leckte sich die Lippen, schnüffelte und sagte anklagend: »Das ist Macallan. Fünfundzwanzigjähriger.«
»Stimmt.«
In den alten Zeiten war ihre Ignoranz gegenüber den Feinheiten von Single Malt Whiskys und ihre Vorliebe für den Kauf von ›Sandpapierwhiskys‹, wie Dalziel sie nannte, ein Hauptreibungspunkt gewesen.
»Kommt heut noch wer?«
»Bisher nicht. Aber man kann ja hoffen«, erwiderte sie.
Auf diese Zweideutigkeit hin hatte Dalziel gehandelt.
Es war eine eher ungestüme als zärtliche Begegnung gewesen, doch das hatte ihr so sehr gefallen, daß sie auf seine noch etwas atemlose, aber sehnsuchtsvolle Bitte: »Hmm, für eine Tasse Tee könnt ich jetzt ’nen Mord begehen«, demütig aus dem Bett geschlüpft war und welchen gekocht hatte.
Auch im emanzipiertesten Haushalt gab es Zeiten, zu denen ein Mann verwöhnt werden mußte.
Der Keks war so etwas wie eine Zugabe gewesen.
»Dein Vater war also Bäcker?« fragte Cap nun.
»Ja. Bäckermeister sogar. Ging aus gesundheitlichen Gründen aus Glasgow weg und kriegte ’ne Stelle bei Ebor.«
Die Ebor Kekse- und Konfekt-Fabrik war eine der größten Industrien von Mid-Yorkshire.
»Aus gesundheitlichen Gründen? War er krank?«
»Sei nicht albern«, sagte Dalziel, entsetzt über die Vorstellung, daß die Lenden, denen er entsprungen war, etwas anderes als gesund sein sollten. »Er hat mit ’nem Typen in Glasgow Zoff gekriegt, mit dem man keinen Zoff haben sollte. Mißverständnisse wegen eines Darlehens. Er war noch ein ganz junger Bursche gewesen. Wenn’s die Schwerkraft nicht geben würde, hat er immer gesagt, hätt er nicht gewußt, wie man in die Schüssel scheißt.«
»Aha, jetzt weiß ich, woher du deine vornehme Ausdrucksweise hast«, bemerkte Cap. »Und was war mit den Golden Shorties?«
»Er machte zu Hause immer sein eigenes Shortbread nach dem Rezept seiner Oma und nahm sich was zur Arbeit mit. Eines Tages kam der Fabrikdirektor in der Teepause auf ein Schwätzchen vorbei. Er sah, wie Dad sein Shortbread aß und meinte fast vorwurfsvoll: ›Das ist aber nicht von uns, oder?‹ Mein Dad sagte ganz frech: ›Nein, das ist nicht von uns, und ich bezweifle, daß Sie sich das leisten könnten.‹ Der Direktor brach ein Stückchen ab und aß es. Dann noch ein Stück. Und noch eins. Dann sagte er: ›Na gut, Junge, warum sagen Sie mir nicht, wieviel genau Sie meinen, das ich mir nicht leisten kann?‹ Dad, der natürlich wußte, daß seine ganzen Kumpel zuhörten, sagte großspurig: ›Der nächste Biß kostet Sie fünfhundert Eier‹, was zu der Zeit eine Stange Geld war. ›In diesem Fall‹, sagte der Direktor, ›kommen Sie am besten mit in mein Büro.‹ Und ’ne Viertelstunde später fuchtelte Dad seinen Kollegen mit dem dicksten Bündel an Geldscheinen vor der Nase herum, das die meisten von ihnen je gesehen hatten.«
»Ein Happy-End also« sagte Cap.
Dalziel verschlang den Rest seines Kekses.
»Wie man’s nimmt«, meinte er. »Klar, in seiner Backstube war er danach der König. Und als die ersten Pakete mit Grannie’s Goldens rauskamen, war er richtig stolz. Dann wurde es Ebors bestverkaufter Artikel. Und immer wenn Dad irgendwo zum Einkaufen ging und die aufgestapelten Kekse sah, wurde ihm fast schlecht. Er war ein gelassener fröhlicher Mensch, mein Vater, aber sobald er was getrunken hatte und damit anfing, daß er sein Geburtsrecht für wäßriges Porridge verkauft habe, gingen wir Kinder in Dekkung, weil dann oft auch Sachen durch die Gegend flogen. Ist mir alles wieder eingefallen, als ich hier reingebissen hab.«
Cap merkte sich den Ausspruch »wir Kinder«, um bei Gelegenheit nachzuhaken. »Tolle Geschichte. Jetzt mußt du nur noch einen Roman über dein Leben und deine Lieben schreiben, in sieben Bänden.«
»Ach, das reicht nicht«, entgegnete Dalziel grinsend.
Eine Weile sahen sie einander nur an. Dann fragte Cap: »Was wird nun aus uns, Andy?«
Dalziel zuckte mit den Schultern. »Wir bumsen ein bißchen, blödeln ein bißchen, und dann sterben wir.«
»Danke sehr, La Rochfoucauld«, sagte sie. »Ich meinte aber uns im speziellen und nicht im allgemeinen.«
»Ich auch. Ich wüßte nicht, mit wem ich beides lieber täte als mit dir, Schätzchen.«
»Soll das ein Kompliment sein?«
»Brauchst du Komplimente?«
»Mögen, ja. Brauchen, nein.«
»Dann war’s ein Kompliment. Oh, Scheiße, wo ist meine Hose?«
Letzteres war die Antwort auf ein gedämpftes Schrillen, das von seinem Handy stammen mußte.
»Ich glaube, wir haben in der Küche angefangen«, sagte Cap. »Ich hasse diese Dinger.«
»Hätt schlimmer sein können«, meinte Dalziel und rollte sich aus dem Bett. »Hätt vor ’ner Viertelstunde klingeln können.«
Sie sah ihm nach, wie er aus dem Zimmer tapste, und erinnerte sich an eine Abhandlung über Sumo-Ringer als Sexobjekte, die sie mal in einer Sonntagsbeilage gelesen hatte. Zu der Zeit hatte sie die Sache nicht so ernst genommen, aber jetzt …
In der Küche lauschte Dalziel Wields Zusammenfassung von Novellos neuesten Erkenntnissen mit so wenig Begeisterung, wie sie befürchtet hatte.
»Das bedeutet, daß der Kerl möglicherweise an die fuffzigtausend Kröten in der Tasche hatte, als er sich aus dem Staub machte. Toll!«
»Es kommt noch besser. Oder schlechter«, fuhr Wield fort. »Wir haben alle Hotels und Frühstückspensionen in der Gegend abgecheckt, ohne Erfolg. Aber wenn er einen Campingbus hat … Ich bin also nach Dendale gefahren.«
»Abstellen von Campingbussen, -anhängern oder nicht genehmigten Fahrzeugen im Stausee-Schutzgebiet verboten«, zitierte Dalziel. »Sie mögen es nicht, wenn die Leute in unser Trinkwasser pinkeln.«
»Ja, ich weiß, Sir. Aber etwas weiter vom Tal entfernt gibt es einen Bauern, der ein Feld an Camper vermietet. Ein Typ namens Holmes, sieht aus wie Rübezahl und hätte mich wohl lieber erschossen, als mir zu helfen. Aber seine Frau ist in Ordnung und hat ihn zum Stallausmisten geschickt oder so was, während sie mir erzählte, ja, da sei ein Campingbus gewesen, und der Fahrer habe so komisch gesprochen, könnte Australier gewesen sein …«
»Sind das Alteingesessene, diese Holmes?«
»Sie meinen, ob sie Lightfoot erkannt hätten? Holmes ja, aber er hat den Kerl nie gesehen. Um die Camper kümmert sich seine Frau, und die stammt aus Pately Bridge.«
»Und wann ist unser Känguruh angekommen?«
»Letzten Freitag abend. Und gestern morgen ist er wieder weg.«
»Mist«, sagte Dalziel. »Aber ganz schön cool, wenn das unser Mann ist. Sonst noch was, Wieldy? Das Autokennzeichen vielleicht?«
»Mrs. Holmes meinte, es sei ein C und eine 2 und eine 7 dabeigewesen. Nicht viel, aber die Verkehrsabteilung arbeitet daran. Allerdings kennt sie seinen Namen. Slater.«
Die besondere Betonung war unnötig. Dalziel erkannte den Namen sofort.
»Wie Marion Slater, meinen Sie. Der neue Name von Bennys Mutter, als sie mit ihrem zweiten Mann auswanderte. Haben Sie eigentlich schon Antwort auf unsere Anfrage an Adelaide?«
»Noch nicht.«
»Na ja, wollen wir uns mal nicht zu sehr freuen. Der Name ist recht häufig.«
»Das Gesicht allerdings nicht.«
»Was meinen Sie damit? Ich denke, diese Mrs. Holmes ist nicht von hier …«
»Ja, aber ich habe ein altes Foto von Benny aus der Akte genommen, es kopiert und ein bißchen auf älter getrimmt und ihr dann gezeigt.«
»Und?«
»Und sie meinte, das sei er. Mr. Slater. Kein Zweifel.«
Cap sah, wie Dalziel mit dem Arm voller Klamotten wieder ins Schlafzimmer kam, sie aufs Bett warf und sich anzog.
»Du willst gehen? Ich hatte gehofft, daß du die Nacht über bleibst.«
»Ich auch. Tut mir leid. Ist was dazwischengekommen.«
»Etwas, das du mir erzählen kannst?«
»Ist noch nicht spruchreif. Nur ein Verdächtiger.«
»Und ihr habt ihn?«
»Nein. Der Stinkstiefel läuft noch irgendwo rum. Aber wenn er der Richtige ist, werd ich ihn kriegen, da hab ich absolut keine Zweifel.«
Er sprach mit solch finsterem Nachdruck, daß Cap erschauerte.
Mit unverhohlenem Interesse beobachtete er die Auswirkungen dieses Erschauerns auf ihre Brüste.
Sie sagte: »Tja, nimm doch den Schlüssel, falls du Lust hast, hinterher noch vorbeizukommen.«
»Ich werd sehen, was sich machen läßt.«
Nachdem er gegangen war, zog sie ihren Bademantel an und genehmigte sich einen Scotch aus der Supermarkt-Billigflasche, die sie in der Küche versteckt hatte. Der Single Malt schmeckte natürlich besser, aber das war kein Grund, alte Gewohnheiten abzulegen.
Die Dinge entwickelten sich schneller, als sie erwartet hatte. Zu schnell? Wer konnte das sagen? Sie spielte dieses Stück nach Gehör, und ihr Ohr war nicht mehr so zuverlässig wie früher. Was sie brauchte, war ein Zeichen, oder besser ein Geräusch, nach dem sie ihre Feinabstimmung vornehmen konnte.
Das Telefon klingelte.
Tja, das war ein Geräusch. War das die Antwort?
Sie nahm den Hörer ab. »Hallo? Beryl, hi. Ja, mir geht’s gut. Nein, im Moment ist niemand da. Das heißt aber nicht … na ja, vielleicht doch … Mein Gott, du bist ekelhaft … aber wenn du eine Stunde Zeit hast, und da du ja den Anruf bezahlst, mach’s dir bequem, und ich erzähl dir alles.«