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Am Morgen des vierten Tages stand auch Elizabeth Wulfstan zeitig auf.
Sie stieg aus dem Bett, zog die Vorhänge ihres Schiebefensters zurück und badete genüßlich im hereinflutenden Licht, ungeachtet der Tatsache, daß sie splitternackt war und das Fenster direkt auf die Holyclerk Street hinausging.
»Hail to the joyous morningtide!« Sie formte die Worte mit den Lippen, sprach sie jedoch nicht aus und sang sie auch nicht.
Unter ihr lag die Straße verlassen da. Nicht einmal ein Milchmann kam vorbei, um die dargebotene Vorstellung zu genießen, wobei sie nicht gerade einen klassisch weiblichen Körper zu bieten hatte. Sie hatte den gut entwickelten Brustkorb einer Sängerin, aber kleine, fast mädchenhafte Brüste und kaum Fleisch auf den Rippen. Was dem Milchmann wohl am deutlichsten ins Auge gefallen wäre, war das völlige Fehlen von Haaren an Kopf und Scham.
Was nun Elizabeth ins Auge fiel, waren zwei Parklücken inmitten der Anwohner-Parkreihe am Straßenrand. Während sie dastand und eine Folge von Atemübungen machte, blickte sie nach links und rechts und konnte weder Walters Discovery noch Arnes Saab entdecken.
Sie beendete ihre Übungen, durchquerte das Zimmer, öffnete die Tür und spazierte mit derselben Gleichgültigkeit gegenüber eventuellen Zeugen ihrer Nacktheit durch den Flur ins Badezimmer.
Dort putzte sie sich die Zähne, gurgelte vorsichtig mit einem milden, antiseptischen Mundwasser, spülte aus und begutachtete ihre feuchten, rosa Mundschleimhäute mit kritischem Interesse. Jetzt sang sie die Worte, pianissimo.
»Hail to the joyous morningtide.«
Schließlich duschte sie mit lauwarmem Wasser, so daß sich nicht zuviel Wasserdampf bildete, rubbelte sich kräftig ab und kehrte in ihr Zimmer zurück.
Inger Sandel, in Shorts und Trägerhemdchen, saß auf dem Bett.
Elizabeth trat ohne Zögern an ihre Frisierkommode, setzte sich und begann, ihr Gesicht zu schminken. Es war eine langsame, heikle Prozedur. Ihre Haut war von Natur aus blaß, und es bedurfte mühevoller Arbeit, den gewünschten frischen, hellen Teint herbeizuzaubern.
Als sie endlich zufrieden war, trafen sich die Blicke der Frauen im Spiegel. Elizabeth drehte sich langsam auf ihrem Schemel herum und fragte in beiläufigem Tonfall: »Bist du eigentlich aktive Lesbe, oder spannst du nur gern?«
Inger sagte: »Ob ich praktizierende Lesbierin bin? Ja.«
»Schon immer? ’tschuldige, das war blöd. Ich meine, wann hast du’s gemerkt? Als Mädchen schon oder erst später?«
»Schon immer.«
»Dann hast du’s nie mit ’nem Mann probiert? Nicht mal mit Arne?«
Inger schenkte ihr ein seltenes Lächeln und sagte: »Natürlich mit Arne. Ein Mal. Er wollte. Und ich wollte mit ihm arbeiten. Es schien notwendig, und als es vom Tisch war, blieb es dabei. Und du?«
»Nicht mit Arne, absolut nicht!«
»Sonst jemand?«
»Ein Tutor an meinem College. Ich dachte, ich seh mal zu, daß ich’s hinter mich bringe.«
»Und?«
»Ich hab’s hinter mich gebracht.«
»Dann hattest du mit diesem Tutor weder vorher noch nachher eine Beziehung?«
»Absolut nicht.«
»Wie ich sehe, bist du dir ganz sicher. Aber was war mit ihm? Wollte er nicht mehr?«
»Na ja, ich hab am nächsten Morgen ’nen Fünfer aufs Kopfkissen gelegt und bin abgehaun. Ich nehme an, er hat verstanden.«
Dies war ein Moment, in dem sie zum erstenmal gemeinsam hätten lächeln können, doch er verging.
»Noch weitere Fragen?« meinte Elizabeth.
»Warum rasierst du deinen Busch?«
»Um das da oben auszugleichen«, erwiderte Elizabeth und tätschelte ihre Glatze. »Das macht dich an, wenn du mich so siehst, stimmt’s?«
»Es ist … ganz nett, ja.«
»Nett?« Sie erhob sich, gähnte, streckte sich. »Tja, mach dir mal keine zu großen Hoffnungen, Herzchen.«
Sie schlüpfte in ein Höschen und zog ein schwarzes T-Shirt über den Kopf, wobei sie darauf achtete, ihr Gesicht nicht zu berühren. Dann nahm sie die blonde Perücke vom Ständer, stülpte sie über den Kopf und musterte sich im Spiegel.
»Ich habe mir keine Hoffnungen gemacht«, sagte Inger.
»Das ist sowieso die beste Einstellung. Irgendwo ist immer Mitternacht, hat mein Vater immer gesagt. Wenn es also keine Hoffnungen waren, die dich hergeführt haben, wieso hockst du dann auf meinem Bett?«
»Es sind die ›Kindertotenlieder‹. Ich bin derselben Meinung wie die anderen. Ich finde, du solltest sie nicht singen.«
»Welche anderen?«
»Arne. Der fette Polizist. Walter.«
»Walter hat nichts gesagt.«
»Wann sagt Walter schon mal was gegen dich? Aber ich kann sehen, wie er sich fühlt, wenn du sie singst.«
»O ja. Toll, wie du das machst, während du auf die Tasten haust. Hast wohl hinten Augen im Kopf, wie?«
Inger antwortete nicht, sondern saß nur reglos und mit gleichgültigem Gesichtsausdruck da, während sie Elizabeth unverwandt anstarrte, die einige unnötige Korrekturen an ihrer Perücke vornahm.
»Also, was willst du damit sagen, Inger?« fragte sie schließlich. »Daß du dir dein Klavier untern Arm klemmst und in ’ner andren Kneipe spielst?«
»Nein. Wir müssen alle unsere eigenen Entscheidungen treffen. Deine werde ich dir nicht abnehmen. Wenn du singen willst, dann spiele ich.«
»Dann ist ja alles eitel Sahnekuchen, oder? Wie sieht’s aus? Gehn wir frühstücken?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, verließ sie das Zimmer und lief die Treppe hinunter. In der Küche sah sie durch die geöffnete Hintertür Chloe mit einem Becher Kaffee auf der Veranda stehen. Das lange schmale Gartenstück zeigte deutliche Anzeichen der Dürre. Der Rasen war so rissig und vergilbt wie ein altes Ölgemälde.
»Morgen«, rief Elizabeth und stellte den Wasserkocher an. »Hast du ins Bett gemacht, oder warum bist du so früh wach?«
»Das wäre direkt eine Idee. Wenn wir alle auf den Rasen pinkeln, meinst du, es würde etwas nützen?« erwiderte Chloe. »Walter ist sehr früh aufgestanden, da bin ich wach geworden. Und ich bin hierher gegangen in der Hoffnung, vielleicht ein bißchen Tau zu sehen, aber selbst den gibt es nicht mehr.«
»Vielleicht haben sie den verboten, wie das Rasensprengen. Pinkeln würd ich nicht versuchen, das ist wahrscheinlich auch verboten.«
Chloe kam schmunzelnd in die Küche. Zwischen ihnen würde niemals eine innige Mutter-Tochter-Beziehung bestehen, aber gelegentlich, wenn sie allein waren, erlaubte ihre gemeinsame Yorkshire-Herkunft eine derbe Verbundenheit, in der keine von beiden sich bedroht fühlte.
Ebenso häufig waren die Momente, in denen Chloe das Gefühl hatte, eine Außerirdische zu beherbergen.
»Ich hab mit Inger geredet. Sie findet, ich sollte den Mahler-Zyklus nicht singen. Was denkst du?« wollte Elizabeth plötzlich wissen.
Chloe nippte aus Verlegenheit an ihrer leeren Tasse und fragte sich, wie jemand so offen und gleichzeitig so undurchschaubar sein konnte.
»Seit wann interessiert dich, was ich denke?« gab sie zurück, um Zeit zu gewinnen.
Elizabeth warf sich eine Handvoll trockenes Müsli in den Mund und spülte es mit einem Schluck schwarzen Kaffee hinunter.
»Sie hat gesagt, daß Walter und Arne und dieser Fettbrocken von Polizist finden, daß ich’s nicht tun soll. Aber sie hat nix von dir gesagt. Also dachte ich, ich frag dich mal, ob dich die Lieder stören.«
»Wegen Mary, meinst du? Der Teil meiner Seele, der dafür zuständig ist, kann schon lange nicht mehr von so etwas Belanglosem wie Liedern beeinträchtigt werden«, sagte Chloe.
»Das hab ich mir auch gedacht«, meinte Elizabeth. »Ach, übrigens, danke.«
»Wofür?«
»Daß du mich großgezogen hast.«
Chloe ließ in gespieltem Erstaunen, das nicht vollkommen gespielt war, den Unterkiefer fallen. Ehe sie etwas erwidern konnte, wurde die Tür geöffnet, und Inger kam herein. Elizabeth trank ihren Kaffee aus, schnappte sich eine Handvoll frischer Trauben, rief: »Bis dann« und ging.
Inger fragte: »Ißt sie genug?«
»Für eine Sängerin, meinst du?«
»Für eine Frau. Heute morgen habe ich sie nackt gesehen. Sie hat kräftige Knochen, deshalb ist mir nie aufgefallen, wie wenig Fleisch daran hängt. Sie war einmal magersüchtig, oder?«
Noch so eine von der Sorte mit undurchschaubarer Offenheit, dachte Chloe bitter. Die einzig mögliche Antwort war entweder Schweigen oder gleichermaßen Offenheit.
Sie setzte sich und sagte: »Als Betsy eine Zeitlang bei uns war – damals hieß sie noch Betsy –, wurde bei ihr Magersucht festgestellt. Sie wurde behandelt, sowohl medizinisch als auch psychologisch. Schließlich wurde sie wieder gesund.«
Bitte sehr. So einfach war es, ganz offen zu sein und trotzdem nichts preiszugeben!
»Dann hat sie also ein Phase durchgemacht wie viele Kinder heutzutage, ihr habt es gemerkt und behandeln lassen. Warum fühlst du dich dann so schuldig?«
Nichts preiszugeben! Wem wollte sie etwas vormachen? Nicht dieser Frau mit den scharfen Ohren, das war sicher. Einmal hatte sie Arne nach ihr ausgefragt. Sie war ein wenig eifersüchtig gewesen, damals, als der junge Sänger ihren Körper mit Empfindungen überrascht hatte, die sie nach ihren Erfahrungen mit Walter nie für möglich gehalten hatte.
Arne hatte gelacht und gesagt: »Inger ist lesbisch, also brauchst du nicht eifersüchtig zu sein, mein Herz. Aber fühl dich jetzt bloß nicht überlegen, wie es die meisten Frauen Lesben gegenüber tun – auch wenn sie es abstreiten –, weil sie meinen, Lesben stellen keine Bedrohung dar. Inger hört mehr in der Stille zwischen den Noten, als die meisten von uns in der Musik an sich hören.«
Vielleicht also hatte sie Dinge von Arne gehört, die nicht hätten ausgesprochen werden dürfen, oder sie hatte aufmerksam in die Stille zwischen seinen Worten gelauscht.
Ironischerweise war es die Krise mit Betsy gewesen, die Arne wieder in ihr Bett zurückbrachte. Nach Marys Verschwinden hatte sie das Verhältnis mit ihm beendet – aus Gründen, die so unlogisch waren, daß man sie nicht als solche bezeichnen konnte, die aber etwas damit zu tun hatten, daß sie sich für ihre Untreue bestraft fühlte und alles ablehnte, was ihren Schmerz auch nur im mindesten lindern könnte.
Doch die Krise mit Betsy war anders gewesen. Da hatte sie vor sich selbst fliehen wollen und es in den Armen des Sängers geschafft.
Sie konnte sich jetzt nicht mehr genau erinnern, wieviel von ihren Gefühlen sie ihm gegenüber offengelegt hatte. Aber wenn er darüber mit Inger gesprochen hatte, war selbst ein bißchen wohl ausreichend gewesen.
Dann soll sie es jetzt eben aus erster Hand erfahren, warum nicht? Das Herz eines Menschen kann nur ein bestimmtes Maß an Leid ertragen.
Sie sagte: »Ich wollte nicht, daß Betsy zu uns kommt, weißt du. Wir waren in den Süden gezogen, ich hatte meine gesamte Willenskraft darauf verwandt, die Tür hinter Dendale und der Vergangenheit zu schließen, und nun war da dieses Kind, und alles drohte wieder aufzubrechen. Ich hatte sie auch nie richtig gemocht, sie war ein recht häßliches Kind, dunkelhaarig und dick und auch irgendwie seltsam. Man bekam so ein komisches Gefühl, und dann drehte man sich um, und Betsy stand da und beobachtete einen und wartete, daß man Notiz von ihr nahm, um dann zu fragen, ob Mary zum Spielen käme. Wir führten das auf ihre Mutter zurück, Lizzie, meine Cousine, die immer sehr nervös gewesen war und nach Betsys Geburt Depressionen bekommen hatte und sie nie wieder richtig loswurde. Es war kaum jemand wirklich überrascht, glaube ich, als sie eine Überdosis nahm. Nach der Untersuchung sagten sie, es hätte auch versehentlich passiert sein können, aber ich glaube, sie wollten nur nett sein. Bei Jack, also Betsys Vater, war es ein viel größerer Schock. Er war ein ganz bodenständiger Yorkshire-Bauer, zäh wie Leder, der würde alles durchstehen, dachten die meisten. Als er dann ins Wasser ging …«
»Und da gab es keinen Zweifel?« wollte Inger wissen.
»Nicht viele Menschen gehen mit den Taschen voller Steine schwimmen«, erwiderte Chloe. »Da war nun Betsy. Elfeinhalb Jahre. Eine Waise. Ohne jede Verwandtschaft – außer mir.«
»Also hast du sie aufgenommen?«
Chloe schüttelte den Kopf.
»Ich schrie und heulte und vergoß literweise Tränen jedesmal, wenn das Thema zur Sprache kam, daß sie bei uns leben könnte. Walter hat mich schließlich überzeugt … nein, nicht überzeugt … das würde bedeuten, er hätte an meine Vernunft appelliert … er hat mich einfach bearbeitet, so wie die Sonne auch durch eine dicke Schicht Wolken immer noch durchscheinen kann. Tja, ich ließ vor mir die Wolken aufziehen, aber Walter war immer da oben und kam durch. Und am Ende hat er gewonnen.«
»Findest du, daß er recht hatte?«
»Natürlich hatte er recht. Das Kind brauchte ein Zuhause. Und als sie kam, war es viel einfacher, als ich gedacht hatte. Sie wollte die Tür, die ich so mühsam geschlossen hatte, überhaupt nicht aufbrechen, im Gegenteil. Sie hatte keinerlei Bedürfnis, über ihre Eltern oder Dendale oder irgend etwas aus der Vergangenheit zu sprechen. Tatsächlich hat sie überhaupt sehr wenig gesprochen und mit der Zeit noch weniger, und ich dachte (falls ich überhaupt etwas gedacht habe), wie gut, sie hat auch die Tür hinter sich zugemacht. Und mir schien, daß wir in dieser unproblematischen Stille sehr gut miteinander leben könnten.«
»Sie war ein Kind«, sagte Inger in neutralem Ton, der dennoch vorwurfsvoll klang.
»Ich weiß. Ich hätte mit ihr reden sollen … aber ich habe es nicht getan. Sie schien in Ordnung. Na gut, sie hat ein bißchen abgenommen, aber das hat mir sogar gefallen. Ich sagte ihr sogar hin und wieder, sie solle nicht so viele Süßigkeiten und Kekse essen, und ich dachte, sie verliert eben ihren Babyspeck.«
»Wie alt war sie dann, als du gemerkt hast, daß es ein Problem gab?«
»Gemerkt?« Chloe lachte bitter. »Ich habe es überhaupt nicht gemerkt. Eines Abends kamen diese fürchterlichen Schreie von oben. Ich rannte hinauf und fand Betsy im Badezimmer. Ihr Kopf … O Gott, was für ein schrecklicher Anblick! Sie hatte sich die Haare färben wollen und eine gefährlich starke Menge Bleichpulver angerührt … Ich zerrte sie unter die Dusche und schrie, daß sie die Augen zukneifen solle, und hielt sie viel länger drunter, als nötig war, weil ich in dem Moment das Gefühl hatte, das Richtige zu tun, und nicht darüber nachdenken mußte, was ich falsch gemacht hatte. Aber schließlich habe ich sie dann ins Krankenhaus gebracht. Sie wurde untersucht, die Ärzte sagten, sie hätte ihre Kopfhaut teilweise so stark geschädigt, daß ihre Haare womöglich ganz ausfallen und nur büschelweise nachwachsen würden, aber das sei nicht der Hauptgrund für ihre Sorge, sondern ihre Magersucht, und sie wollten wissen, welche Behandlung sie bekäme.«
»Und du hattest keine Ahnung davon?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht doch, ganz tief drin, aber ich wollte mir keine Sorgen machen müssen. Walter war zu der Zeit lange auf Geschäftsreise gewesen, einige Monate schon. Vielleicht hätte er etwas gemerkt. Er hat ihr schon immer nähergestanden als ich.«
»Davon merkt man jetzt aber nichts mehr«, meinte Inger.
»Nicht?« Chloe lächelte in sich hinein. Vielleicht überhörte Inger bei all ihrem Lauschen auf die Stille ja doch ein paar der richtigen Töne. »Na gut. Damals jedenfalls muß es sehr offensichtlich gewesen sein. Sie wurde von einer Kinderpsychiaterin behandelt, Dr. Paula Appleby – vielleicht hast du von ihr gehört. Ich glaube, sie ist ziemlich bekannt. Walter hat sich schon immer nur mit dem besten zufrieden gegeben. Dr. Appleby hat sie achtzehn Monate lang betreut, oder zwei Jahre, ich weiß gar nicht mehr. Ich ließ einfach Walter alles machen. Ich fühlte mich schuldig, ja, aber ich wollte da immer noch nicht hineingezogen werden. Ich hatte die Tür hinter Dendale zugemacht und es ausgeschlossen. Betsy hatte ebenfalls eine Tür zugemacht, sich aber anscheinend selbst mit ausgeschlossen, und ich wollte beim Öffnen auf keinen Fall beteiligt sein. Und als Dr. Appleby dann sagte, die Geschichte mit den Haaren und der Magersucht sei ein Versuch, sich von einem dicken, dunkelhaarigen in ein schlankes, blondes Mädchen zu verwandeln, so daß sie wie Mary aussieht und wir sie lieben, wurde mir nur schlecht. Höre ich mich an wie ein Ungeheuer?«
»Du hörst dich an wie jemand, der genausoviel Hilfe nötig hatte wie Betsy. Es überrascht mich, daß Walter das nicht gemerkt hat.«
»Walter war zu sehr damit beschäftigt, Betsy bei ihren Schwierigkeiten zu helfen. Dr. Appleby brachte sie dazu, über die Vergangenheit zu reden, und wollte, daß wir die Abschriften lesen. Sie meinte, es sei ein familiäres Problem, und wir müßten alle übereinander Bescheid wissen. Ich habe es rundheraus abgelehnt und hätte mich, glaube ich, auch nicht überreden lassen, aber dann sagte Betsy wohl selbst, sie habe nichts dagegen, daß Walter die Sachen liest, aber ich sollte sie nicht sehen. Ich glaube, als ich das hörte, spürte ich zum erstenmal so etwas wie Zuneigung zu ihr.«
»Weil sie dir den Schmerz ersparen wollte?«
»Das war der einzige Grund, den ich dahinter sah. Nach der Therapie, als sie dann wieder normal war, falls man das überhaupt so sagen kann, kamen wir viel besser miteinander aus. Ich glaube, wir haben beide gespürt, daß sie mir zwar nie eine Tochter sein könnte, wir unsere Blutsverwandtschaft aber auch nicht leugnen können.«
»Aber obwohl sie normal ist«, sagte Inger, »hält sie weiterhin Diät und trägt eine blonde Perücke?«
»Ihre Haare sind nicht mehr richtig nachgewachsen. Sie brauchte eine Perücke. Sie fragte, ob es mir etwas ausmachen würde, wenn sie blond wäre. Ich fragte, warum sollte es? Was ihre Diät betrifft, habe ich mir schon Sorgen gemacht und ihr beim Essen immer ins Gewissen geredet. Dann zeigte sie mir eines Tages eine sorgsam aufgelistete Kalorientabelle mit allem, was sie so aß, und sagte: ›Ich werde mich auf keinen Fall mit Keksen und solchem Schwachsinn vollstopfen. Das hier esse ich, und es reicht vollkommen, und ich geh auch nicht aufs Klo und steck mir den Finger in den Hals und kotze alles wieder aus. Also mach dir keine Sorgen, mir geht’s gut.‹ Das war’s. Zu der Zeit hat sie auch mit dem Singen angefangen. Sie hatte schon immer eine gute Stimme, das weißt du ja. Und nun wollte sie herausfinden, ob sie gut genug ist, daß sie sich ihren Lebensunterhalt damit verdienen kann. Um diese Zeit herum haben wir sie auch offiziell adoptiert. Wir haben sie von Anfang an Elizabeth genannt, und in der Schule schien es einfacher zu sagen, sie hieße Wulfstan.«
»Und sie hatte nichts dagegen?«
»Wer weiß schon, was in ihrem Kopf so vorgeht? Aber sie hat nichts gesagt. Und als Walter vorschlug, daß wir es offiziell machen, schien sie sogar erfreut.«
»Und du?«
»Mir hat es nichts ausgemacht. Irgendwie war sie dadurch weniger eine Erinnerung an die Vergangenheit. Ich glaube, deshalb hat mir das mit der blonden Perücke und ihrer schlanken Figur auch gefallen. Alles, was von der Betsy Allgood aus Dendale blieb, war der Akzent.«
»Hat der dich gestört?«
»Nein, aber ich dachte, sie könnte deswegen in der Schule Probleme kriegen. Und später, wenn sie mal älter ist. Ich habe ihr einmal vorgeschlagen, Sprechunterricht zu nehmen. Sie sagte: ›Warum? Mit meiner Sprache ist doch alles in Ordnung, oder?‹ Und da merkte ich, daß sie in perfektem BBC-Englisch sprach. Dann fuhr sie fort: ›Aber ich schäme mich nicht, so daherzureden wie Mam und Dad, und wem das nicht paßt, der soll sich verpissen!‹ Das war das letzte Mal, das ich das Thema angeschnitten habe.«
»Also wurdet ihr Freunde.«
»So würde ich es nicht unbedingt ausdrücken«, entgegnete Chloe. »Aber wie ich schon sagte, wir sind blutsverwandt, und man muß seine Verwandten nicht immerzu mögen, oder? Sie hat mir geholfen, glaube ich. Oder vielleicht war es nur die Zeit, die mir geholfen hat.«
»Daß es dir bessergeht, meinst du?«
»Nicht unbedingt. Wie bei Elizabeths Haaren gibt es keine Heilung für das, was in mir kaputtgegangen ist. Aber man lernt, mit einer Perücke zu leben. Wie auch immer – vor vier Jahren, als Walter immer mehr Zeit in der Firma hier verbrachte, hörte ich mich selber sagen, ob es nicht sinnvoller wäre, wenn wir hier herziehen. Er war sehr überrascht. Ich auch. Er fragte: ›Bist du sicher?‹ Und ich sagte, weil ich schließlich eine Frau bin und wir unsere Chancen nutzen müssen: ›Ja, aber nur wenn wir uns ein Haus im Glockenviertel kaufen.‹ Und hier sind wir.«
»Du wolltest nicht mehr auf dem Land leben?«
Chloes Gesicht wurde traurig, und sie sagte leise: »Nein. Ich bin ein Mädchen vom Land, durch und durch, aber jetzt kann ich es nicht einmal ertragen, aus dem Zug oder Auto zu blicken, wenn wir durch die Landschaft fahren. War das nun genug, Inger? Habe ich deine Neugier befriedigen können?«
»Wie beim Sex: nur bis zum nächsten Mal«, sagte Inger.