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Edgar Wield hätte an jenem Morgen nichts gegen langes Ausschlafen gehabt.
Sein schlechtes Gewissen hatte ihn noch am vorigen Morgen früh geweckt, und das schlechte Gewissen des Dicken hatte ihn noch bis spät in der Nacht wachgehalten. Doch er ließ seinen morgendlichen Besuch bei Monte ausfallen, um rechtzeitig zum Krankenhaus zu kommen, und ein erneutes Fernbleiben würde sein Gewissen nur noch mehr belasten, also stieg er zu seiner gewohnt unchristlichen Zeit (Zitat Edwin) aus dem Bett.
So unchristlich schien sie allerdings auch wieder nicht zu sein, denn als er über den Kirchhof spazierte, ging die Kirchentür auf, und der Vikar Larry Lillingstone trat heraus. Er war ein gutaussehender junger Mann, der in seinem nicht klerikalen Gewand, bestehend aus Unterhemd und Shorts, mehr wie ein Adonis als ein Anglikaner aussah.
Wield ließ einen anerkennenden Blick über die braungebrannten Beine gleiten und sagte: »Morgen, Larry. Ist das die neue Kraft des Christentums?«
»Ich wollte gerade joggen gehen«, erwiderte Lillingstone lächelnd. »Dies ist wirklich die beste Tageszeit dafür. An einem Morgen wie diesem mag man kaum glauben, daß mit der Welt etwas nicht stimmt, oder?«
Wield dachte an die Dacres, die aus ihrem, wenn überhaupt, dann durch Chemikalien herbeigeführten Schlaf erwachten, und an die Pascoes, die an Rosies Bett verzweifelte Wache hielten. Doch Freude war in den letzten Tagen so selten und erfrischend wie Regen geworden, also erwiderte er das Lächeln und sagte: »Stimmt genau. Vor allem, wenn man der Glückspilz ist, der ein so hübsches Mädchen wie Kee Scudamore abgekriegt hat. Ich schätze, ich darf gratulieren, wie?«
»Wie um alles in der Welt … wir haben uns erst gestern verlobt und es noch niemandem gesagt …« Dann lachte Lillingstone und fuhr fort: »Was rede ich nur? Wir sind schließlich in Enscombe! Ja, Kee wird mich heiraten, und ich bin der glücklichste … Teufel noch eins!«
Dieser unfromme Ausruf wurde durch das plötzliche Herabfallen einer kleinen haarigen Kreatur aus der alten Eibe ausgelöst, unter der sie gerade standen.
»Wie geht’s, Monte?« rief Wield und zog sich den kleinen Affen vom Kopf, der sich zeternd in den Haaren festgekrallt hatte. »Was ist los, Vikar? Dachten Sie, der Teufel selbst sei zu Besuch gekommen?«
»Ist schon seltsam, wie mittelalterlich der Geist in Augenblicken der Anspannung denken kann«, gestand Lillingstone.
»Nur keine Angst. Ich mußte gestern meinen Besuch ausfallen lassen, und offensichtlich hat der kleine Bursche beschlossen, daß dies kein zweites Mal vorkommen soll, und kam mich suchen. Stimmt’s, Monte?«
»Tja, falls Sie mal der zweite vermißte Polizist von Enscombe werden sollten, brauchen wir für Sie jedenfalls keinen Suchtrupp«, meinte Lillingstone in Anspielung auf das Ereignis, das Wield ursprünglich nach Enscombe verschlagen hatte.
»Nein«, entgegnete Wield gedankenverloren. »Nein. Wahrscheinlich nicht. Entschuldigen Sie mich, Vikar, aber ich glaube, ich fahre lieber gleich zur Arbeit. Viel Spaß beim Laufen. Und dir, kleiner Stinker, viel Spaß mit deinen Nüssen.«
Er legte ein Baumwollsäckchen mit Erdnüssen in Montes Hände, warf das Tier wieder in den Baum und blickte ihm nach, wie es hoch über dem Boden zu seinem Baumhaus auf Old Hall zurückkehrte.
Der erste, den er in Danby erblickte, als er von seinem Motorrad stieg, war Sergeant Clark. Er blickte so gewichtig drein wie jemand, der mehr weiß als man selbst.
»Ist der Superintendent da?« fragte Wield.
»War da, ist wieder weg.«
Wield fragte nicht weiter, sondern wartete. »Kein Wunder, daß der Kerl so gut bei Verhören ist«, hatte Dalziel einst festgestellt. »Sein Gesicht ist mehr wert als tausend schlaue Fragen.«
»Er ist nach Bixford gefahren«, sagte Clark. »Heute morgen kam die Nachricht, daß Geordie Turnbull angegriffen wurde.«
Falls er eine schockierte Reaktion erwartet hatte, wurde er enttäuscht.
»Erzählen Sie«, forderte Wield ihn ungerührt auf.
»Eine Polizeistreife ist heut früh bei ihm vorbeigefahrn. Der Superintendent hatte wohl angeordnet, Turnbull zu beobachten. Na ja, das große Tor stand weit auf. Das ist sonst immer zu, außer wenn Fahrzeuge und Maschinen kommen oder gehen. Sie sind rein, um mal nachzusehen, und fanden dann Turnbull, der aussah wie nach drei Runden mit Mike Tyson.«
Wield, der kaum etwas so sehr haßte wie Ungenauigkeit, fragte ungeduldig: »Wie schlimm steht es um ihn?«
»Sah schlimmer aus, als es war«, gab Clark fast widerstrebend zu. »Ein paar Platzwunden und ’ne gebrochene Nase, hieß es. Turnbull hat versucht, es selbst zu richten, und wollte keine Anzeige erstatten. Aber die Jungs haben es trotzdem gemeldet.«
»Sehr weise«, sagte Wield.
»Und, was meinen Sie? Als wir ihn gehenließen, waren einige Leute hier der Meinung, daß es das beste gewesen wäre, die Wahrheit aus ihm rauszuprügeln.«
»Dann hoffe ich, daß Sie deren Namen haben, denn Mr. Dalziel wird wahrscheinlich mit ihnen sprechen wollen«, sagte Wield mit Nachdruck. »Eins ist jedenfalls sicher: Wenn das tatsächlich der Zweck der Übung war, ist Turnbull aus dem Schneider.«
»Wieso das?« fragte Clark verwirrt.
»Wenn er irgendwas zugegeben hätte, hätten sie ihn wohl kaum seine Wunden lecken lassen, oder?« erklärte Wield. »Sie könnten etwas für mich tun, Nobby. Dieser Tierarzt, von dem ich gelesen habe, Douglas heißt er, oder? Wo finde ich den?«
Clark beschrieb es ihm. Wield setzte seinen Sturzhelm wieder auf und schwang das Bein über den Sitz.
»Gehn Sie denn nicht rein?« wollte Clark wissen. »Was soll ich sagen, wenn jemand nach Ihnen fragt?«
»Sagen Sie, ich besuche einen Mann wegen einem Hund.«
Mittlerweile stand Andy Dalziel neben Geordie Turnbull und sah ganz so aus, als würde er gern da weitermachen, wo der Einbrecher aufgehört hatte.
»Sie helfen niemandem damit, Geordie, am wenigsten sich selbst. Er könnte wiederkommen. Also, warum sagen Sie mir nicht, wer das war, was er wollte, und ich kümmere mich drum?«
»Ich hab’s Ihnen doch gesagt, Mr. Dalziel. Ich hab ihn gar nicht gesehn. Er hat mich von hinten angesprungen, auf mich eingedroschen und ist dann wieder verschwunden.«
»Sie sind ein gottverdammter Lügner«, sagte Dalziel. »Wenn’s so gewesen wäre, hätten Sie uns sofort angerufen. Aber Sie sind so sehr darauf bedacht, die Sache geheimzuhalten, daß Sie sich nicht mal verarzten lassen, damit niemand es melden kann. Am Auge das muß genäht werden, würd ich sagen. Und Ihre Nase sollte auch eingerenkt werden, damit sie wieder überm Mund sitzt.«
»Schon möglich, aber zumindest stecke ich sie nicht in anderer Leute Sachen«, gab Turnbull zurück.
»Ich glaube, das hier ist meine Sache, Geordie. Ich glaube, es geht um die vermißten Mädchen.«
»Glauben Sie denn, wenn ich irgendwas darüber wüßte, würd ich’s Ihnen nicht sagen?« fragte Turnbull. »Aber wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen, werde ich Ihren Rat befolgen und ins Krankenhaus fahren. Da inzwischen sicher jeder hier weiß, was passiert ist, kann ich den Leuten die Mühe ersparen, unter irgendwelchen Vorwänden herzukommen und mich anzugaffen.«
»Irgendwann werd ich’s doch rauskriegen, Geordie, das wissen Sie«, versprach Dalziel.
»Daran hege ich keinen Zweifel, Mr. Dalziel«, erwiderte Turnbull. »Aber da es noch mal fünfzehn Jahre dauern kann, werd ich nicht vor Spannung den Atem anhalten.«
Das war ein letztes Wort, das nicht einmal der schlagfertige Andy Dalziel übertreffen konnte.
Das Auge Gottes, das keinen Unterschied zwischen den Menschen macht, strahlte voller Güte auf Police Constable Hector, der gerade das Mid-Yorkshire Polizeipräsidium verließ und seinen gemächlichen Rundgang durch die Stadtmitte antrat. Sein Schritt war nicht gerade majestätisch; tatsächlich bewegte er sich wie eine Marionette, deren Führer die Fäden verheddert hatte. Diese Metapher traf auch auf die Einstellung seiner Vorgesetzten zu. Es war schwierig gewesen, für einen Mann seiner Fähigkeiten den passenden Einsatzbereich zu finden. Eine Zeitlang war man sich einig gewesen, daß dem öffentlichen Wohl am besten gedient wäre, wenn man Hector tief in den Eingeweiden des Gebäudes unter Verschluß hielt, wo er Akten ordnete. Doch die zunehmende Computerisierung hatte dem ein Ende bereitet. Obwohl es ihm strengstens verboten war, irgend etwas anzufassen, das Schalter, Knöpfe oder Lichter hatte oder summende Geräusche von sich gab, schien allein schon Hectors Anwesenheit die Funktionsweise elektronischer Geräte zu stören. »Er ist ein menschliches Virus«, erklärte der verantwortliche Leiter der Dienststelle. »Schafft ihn hier raus, sonst hat er sich binnen vierzehn Tagen ins Pentagon durchgefressen!« Nachdem er zu Schreibtischarbeit verdonnert worden war, beschwerten sich Bürger, daß sie von der Wassergesellschaft besser betreut würden. Schließlich, nach einem Aufruf in der »Evening Post«, die Bobbies wieder auf die Straße zu bringen, da eine Studie des Instituts für Angewandte Psychologie der Universität von Mid-Yorkshire erwiesen habe, daß lebensgroße Polizisten-Pappaufsteller in Supermärkten die Diebstahlrate um die Hälfte senkten, meinte der Chief Constable: »Nun, darin zumindest können wir Abhilfe schaffen«, und schickte Hector auf Streife.
Allerdings nicht ohne notwendige Sicherheitsvorkehrungen. Hector mußte sich alle halbe Stunde über Funk melden, ansonsten wurde ein Wagen losgeschickt, um ihn zu suchen. Falls seine Hilfe in schwerwiegenderen Dingen benötigt wurde, als die Uhrzeit anzugeben, sollte er in der Zentrale Anweisungen erbeten. Außerdem wurde ihm strengstens untersagt, auch nur ansatzweise in die Verkehrsregelung einzugreifen, da sein letzter Versuch in dieser Hinsicht zu einem totalen Verkehrsstillstand geführt hatte, der den Chief Constable seinen Zug verpassen ließ.
Als am Morgen Wields korrigierte Kopien von Benny Lightfoots Foto verteilt wurden, hatte Hector mit den anderen sein Exemplar an sich genommen mit der Anweisung, Passanten zu befragen, ob sie diesen Mann schon einmal gesehen hätten. Die Anweisung war eigentlich an die Beamten in den Streifenwagen gerichtet gewesen, die insbesondere die Tankstellen der Gegend abfahren und sich erkundigen sollten, ob der Campingbus irgendwo Benzin getankt hatte. Anwohnerbefragungen waren nur für den Bereich Danby angesetzt worden. Doch Hector, der sich über eine ihm verständliche Aufgabe freute, hielt jedem vorbeikommenden Fußgänger Bennys Bild vor die Nase und fragte: »Haben Sie diesen Mann gesehen?«, blieb jedoch selten lange genug stehen, um die Antwort zu hören, da er bereits das nächste Opfer erspähte und zu ihm eilte.
So war er nun leicht irritiert, als ihm jemand auf die Schulter tippte, während er einem jungen Skateboardfahrer den Weg verstellte. Er drehte sich um und erblickte die Frau, die er gerade eben befragt hatte.
»Was?« wollte er wissen.
»Ich habe ja gesagt«, erwiderte sie.
»Hä?«
»Sie haben mich gefragt, ob ich diesen Mann gesehen habe, und ich habe ja gesagt.«
»Oh.«
Er runzelte fassungslos die Stirn, auch weil er soeben bemerkte, daß der Skateboardfahrer die Gelegenheit ergriffen hatte, das Weite zu suchen.
»Gut«, sagte er. »Sie haben ihn also gesehn?«
»Das habe ich eben gesagt.«
Es war nicht zu leugnen.
Er sagte: »Warten Sie einen Moment, bitte«, und studierte sein Funkgerät. Einer der Knöpfe war von einem wohlmeinenden Sergeant leuchtend orange angemalt worden, und dazu hatte er in Hectors Notizbuch geschrieben: »Wenn Sie sprechen wollen, drücken Sie den orangefarbenen Knopf.«
Hector konnte sich an diesen Satz genau erinnern, schaute aber zur Sicherheit noch einmal in dem Büchlein nach.
»Hallo?« sagte er. »Hier spricht Hector. Over.«
Er hatte einen offiziellen Funkspruch, aber niemand war so dumm, darauf zu bestehen.
»Hector, Sie sind Ihrer Zeit aber voraus. Sie sollten sich doch erst in zehn Minuten wieder melden.«
»Ich weiß. Aber es geht um dieses Foto, das Sie mir gegeben haben. Ich hab’s einer Frau gezeigt, und sie sagt, sie hat den Mann gesehn. Was soll ich jetzt machen?«
»Das Fo …? Hector, wo sind Sie?«
»Warten Sie.«
Er drehte langsam den Kopf, um nach einem geeigneten Standpunktmerkmal zu suchen.
Die Frau sagte: »Sie sind in Braddgate. Könnten Sie sich wohl beeilen, ich komme sonst zu spät zur Arbeit.«
»Sie sagt, wir sind in Braddgate, Chef«, sagte Hector.
»Sie ist also noch bei Ihnen, Gott sei Dank! Bleiben Sie da, Hector. Und was Sie auch tun, lassen Sie sie nicht gehen, verstanden?«
»Verstanden«, sagte Hector. »Wie soll ich sie aufhalten?«
»Sie sind Polizist, um Himmels willen!« bellte der Sergeant. »Behalten Sie sie einfach da!«
»Verstanden«, sagte Hector wieder.
Er stellte das Funkgerät ab und steckte es sorgfältig zurück. Dann wandte er sich an die Frau.
»Also, was passiert jetzt?« wollte die wissen.
Er sagte: »Sie sind verhaftet. Sie haben das Recht zu schweigen, und alles, was Sie sagen, kann gegen Sie …«
»Das ist doch verrückt«, meinte sie verärgert. »Ich verschwinde.«
Sie wandte sich zum Gehen. Hector zog umständlich seinen funkelnagelneuen Schlagstock aus der Halterung und setzte ihr nach.
Glücklicherweise traf er mit dem ersten Schlag voll daneben, und der Streifenwagen erschien rechtzeitig vor seinem zweiten Versuch.
Die Polizisten ließen die Frau auf dem Rücksitz Platz nehmen, beruhigten sie und nahmen ihre Aussage auf.
Sie endete mit: »Und jetzt muß ich zur Arbeit. Mit den Personalkürzungen sind wir unterbesetzt, und wenn ich nicht da bin, um die Dinge in Gang zu bringen, gibt’s echten Ärger.«
»Jemand von der Kriminalpolizei wird noch mit Ihnen sprechen wollen«, sagte der Fahrer, »aber es ist vermutlich das beste, wenn man Sie in der Arbeit aufsucht. Fahren wir.«
Durch das wegen der Hitze geöffnete Fenster wollte Hector wissen: »Was soll ich jetzt tun?«
Die Frau sagte es ihm.
»Besser hätt ich’s auch nicht ausdrücken können, Herzchen«, meinte der Fahrer grinsend und fuhr los.
Am Tag der vielen Frühaufsteher verschlief Shirley Novello.
Sie nahm sich lediglich genug Zeit, um nicht auszusehen, als sei sie gerade aus dem Bett gefallen, und raste ohne Berücksichtigung der Geschwindigkeitsbegrenzungen zum Präsidium, was sie bei jedem anderen für absolut verachtungswürdig gehalten hätte.
Als sie schließlich ihren Wagen einparkte, war sie wach genug, um es auch bei sich selbst verachtungswürdig zu finden. Im Höchstfall waren es zwei Minuten, die sie gewonnen hatte. Und wofür? Dalziel und Wield und alle anderen wichtigen Leute hockten in Danby. Nur Statisten wie sie wurden ans Randgebiet der Untersuchung verbannt – um die Drecksarbeit zu machen. Ihr blühte höchstwahrscheinlich eine weitere Fahrt nach Sheffield, falls Mrs. Lightfoot sich weit genug erholt hatte, um vernommen zu werden.
Sie öffnete die Tür zum Zentralbüro ihres Dezernats und versuchte so auszusehen, als hätte sie die letzte halbe Stunde unten im Aktenlager verbracht.
Dennis Seymour blickte vom Schreibtisch auf und sagte laut: »Morgen, Shirley. Du siehst umwerfend aus heute morgen. Aber warum auch nicht, bei all dem Schönheitsschlaf, den du dir gegönnt hast?«
Sie starrte ihn wütend an. Wie konnte jemand, den sie als gleichgestellten Kollegen betrachtete, nur so mit dem Finger auf sie zeigen? Dann merkte sie, daß Seymour allein im Zimmer war.
»Wo sind denn alle?« wollte sie wissen.
»Unterwegs«, antwortete er. »Nur weil du schläfst, ruht unser Fall ja nicht. All unsere Verdächtigen stehen auf der Matte. Geordie Turnbull wurde zusammengeschlagen und Benny Lightfoot hundertprozentig in Dendale gesehen. Dank unseres hauseigenen Toulouse-Lautrec haben wir sogar ein Fahndungsfoto.«
Er warf Novello eine Kopie von Wields Retuschierkünsten hin.
Sie sagte: »Ich wünschte, das hätte ich gestern schon gehabt, als ich im ›Wark House‹ war.«
»Noch nie was vom Fax gehört, Detective?« fragte Seymour. »Nimm dir’s ruhig. Hast du nicht gesagt, daß jemand mit der alten Lady sprechen müßte?«
»Ja. Ich hätte es gestern schon gemacht, aber es ging ihr nicht gut.«
Sie mußte wohl ein wenig defensiv geklungen haben, denn Seymour sagte: »Aber du meinst, ein harter, unsensibler Mann hätte darauf bestanden? Falls du an einen harten, extrem dicken unsensiblen Mann denkst, könntest du vermutlich recht haben. Aber nicht so schlimm. Eine Unterhaltung ist immer viel besser, wenn der Gesprächspartner was erwidern kann. Diesen alten Leuten geht’s eben mal gut, mal schlecht. Heute ist sie bestimmt wieder fit wie ein Turnschuh.«
»Ich hoffe es. Besser, ich faxe auf jeden Fall mal das Foto. Je eher wir die Bestätigung bekommen, desto besser.«
Sie schrieb eine kurze Nachricht an Billie Saltair, in der sie darum bat, das nachfolgende Foto Schwester Sally zu zeigen und ihre Reaktion darauf zu melden. Außerdem erkundigte sich Novello nach Mrs. Lightfoots Befinden und betonte die Notwendigkeit einer baldigen Befragung.
Sogar dieser schriftlichen Notiz mangelt es an männlichem Selbstbewußtsein, dachte sie. Aber, zum Teufel auch! Einige ihrer männlichen Kollegen wären jetzt vermutlich immer noch damit beschäftigt, Winifred Fleck auszufragen!
Die Antwort kam zehn Minuten später.
»Toll!« sagte sie, während sie die Zeilen las, die aus dem Faxgerät krochen. »Das war haargenau der Mann, der die alte Agnes besucht hat.«
»Ah, Triumph über Triumph«, frotzelte Seymour. »Die lassen dich noch den ganzen Tag im Bett liegen, wenn du so weitermachst.«
»Verdammt«, sagte Novello da, als sie das ganze Fax in den Händen hielt.
»Entschuldigung, ich wußte nicht, daß du so sensibel bist.«
»Quatsch, nicht wegen dir. Es geht um Agnes Lightfoot. Sie ist letzte Nacht gestorben. Ich wußte, daß ich gestern mit ihr hätte sprechen müssen!«
»He, was hätte sie dir sagen können, das du noch nicht weißt?« fragte Seymour.
»Das werde ich nun nie erfahren«, antwortete Novello düster, griff nach dem Telefonhörer und wählte die Nummer vom ›Wark House‹.
»Saltair«, meldete sich die Leiterin mit ihrer rauhen Stimme. »Detective Novello? Ich dachte mir, daß Sie anrufen.«
»Was ist passiert?«
»Der Lauf der Dinge«, sagte Billie Saltair. »Ihre Zeit war gekommen. Ich glaube, sie hat nur auf ein Zeichen gewartet, und der Besuch letzte Woche scheint es gewesen zu sein.«
»Hat sie noch was gesagt, bevor sie gestorben ist?« fragte Novello ohne große Hoffnung.
»Das hat sie tatsächlich«, erwiderte Saltair. »Sie nahm meine Hand, sah mich mit leuchtenden Augen an und sagte: ›Ich wußte, er würde kommen. Ich wußte es. Benny ist zurück.‹ Dann verschied sie. Das war’s. Kann ich Ihnen noch irgendwie helfen?«
Novello dachte angestrengt nach.
»Ja«, sagte sie dann. »Wenn jemand wegen Agnes anruft, sagen Sie bitte nicht, daß sie tot ist, ja? Sagen Sie nur, sie wäre sehr krank, zu krank, um ans Telefon zu gehen. Könnten Sie das für mich tun?«
Es herrschte eine Weile Schweigen, dann sagte Saltair: »Ja, in diesem Fall kann ich das, glaube ich, tun. Aber nur, weil so viele Jahre lang niemand für Agnes angerufen hat und ich deswegen denke, daß ich kaum Unheil anrichten werde. Noch etwas?«
»Ja. Ich glaube, es wäre eine gute Idee, einen von unseren Leuten in Ihrem Haus abzustellen, nur für den Fall, daß Benny wieder auftaucht, um mit seiner Oma zu plaudern.«
»Gut. Haben Sie denn jemanden, der hierher paßt?«
»Wir werden einen Meister der Verkleidung schicken. Vielen herzlichen Dank. Und es tut mir wirklich leid wegen Mrs. Lightfoot.«
»Mir auch. Es passiert zwar ständig, aber man gewöhnt sich nie daran. Bye.«
Novello legte auf.
»Und?« fragte Seymour. »Wer ist dieser Meister der Verkleidung?«
»Tja, hier sind nur zwei Personen anwesend, und was sagt ihr Macho-Männer immer? Daß es kein Job für eine Frau ist, einen jungen, kräftigen und gefährlichen Mann in Handschellen zu legen.«
»Das hab ich noch nie in meinem Leben gesagt«, protestierte Seymour indigniert. »Bernadette würde Strapse aus meinen Eingeweiden machen, wenn sie meinen würde, daß ich solche Sachen sage.«
»Also gut. Tut mir leid. Aber einer von uns muß gehen. Ich bin sicher, wenn wir den Dicken ausfindig machen könnten, würde er uns sein Okay geben. Hier gibt’s viele Fleißbildchen für Eigeninitiative einzuheimsen, Dennis.«
»Sicher. Und warum holst du sie dir nicht?«
»Weil ich wohl mit dem Chief Inspector reden muß«, meinte Novello unglücklich.
»Mr. Pascoe? Aber der ist doch …«
»Ich weiß. Aber das ist seine Spur gewesen. Ich hab gestern mit ihm gesprochen, und er war sehr hilfsbereit. Ich muß ihm alle Neuigkeiten berichten und abchecken, ob ich was übersehen habe. Ich glaube, diesmal fahre ich lieber persönlich vorbei.«
»Zum Krankenhaus, meinst du?« Seymour stieß einen Pfiff aus und stand auf. »Ich nehme an, du hast recht, Shirley. Ich hab die leichtere Aufgabe. In diesen Pflegeheimen sterben nur alte Menschen.«