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Die Frau hieß Jackie Tilney. Sie war übergewichtig, überarbeitet, über dreißig und so genervt, daß sie ihre Geschichte schon drei verschiedenen Polizeiteams hatte erzählen müssen, daß sie gute Lust hatte, dem vierten gründlich die Meinung zu geigen.
Der vierte war allerdings kein Team, obwohl er durchaus die Masse von drei oder vier normal gewachsenen Bobbies aufwies. Und hier in der eher vergeistigten Atmosphäre der Leihbibliothek wirkte eine so körperliche Präsenz irgendwie bedrohlich.
Also erzählte sie ihre Geschichte noch einmal.
Den Mann auf dem Foto hatte sie ganz bestimmt gesehen. Und sie hatte mit ihm gesprochen. Und er hatte einen australischen Akzent.
»Das erste Mal kam er …«
»Moment. Das erste Mal?« hakte Dalziel nach. »Wie oft war er denn hier?«
»Zweimal«, erwiderte sie. »Sagen Ihre Wasserträger Ihnen denn gar nichts?«
Dalziel musterte sie nachdenklich. Ihm gefielen Frauen, an denen was dran war. Dann dachte er daran, daß an Cap Marvell mehr dran – und drin – war, als er sich wünschen konnte, lächelte in sich hinein und sagte: »Nee, Herzchen, ich vergeude meine Zeit nicht mit Wasserträgern, wenn ich direkt zur Quelle gehn kann. Erzählen Sie weiter.«
Jackie Tilney hatte das unbestimmte Gefühl, daß sein Kommentar irgendwie als Kompliment gewertet werden konnte, und fuhr fort.
»Das erste Mal war letzten Freitag. Er kam zur Informationstheke und fragte, ob wir was über die Errichtung des Dendale-Stausees hätten. Ich sagte, er könne sich die damaligen Lokalzeitungen auf Microfiche ansehen. Und dieses Buch.«
Sie zeigte es ihm. Ein quadratischer, nicht allzu dicker Bildband mit dem Titel »Das Ende von Dendale«. Dalziel konnte sich vage daran erinnern. Es war von einem Journalisten der »Post« verfaßt worden und enthielt mehr Abbildungen als Text – im Prinzip ein Vorher-Nachher-Bericht.
»Er bat mich, ein paar Fotokopien zu machen«, erzählte Tilney weiter. »Diese Landkarten.«
Sie zeigte sie ihm. Die eine zeigte Dendale vor der Flutung, die andere danach.
»Haben Sie sonst noch was mit ihm geredet?«
»Ein bißchen. Er war recht freundlich. Nur über das Wetter und so, daß es bei ihm zu Hause jetzt viel kälter ist und daß er drei Regenmäntel für seine Englandreise eingepackt hat, weil ihm jeder gesagt hatte, daß es da andauernd regnet.«
»Hat er versucht, ein wenig anzubandeln, was meinen Sie? Bei so einer gutaussehenden Frau wäre das ja kein Wunder.«
»Soll ich mich jetzt geschmeichelt fühlen?« fragte sie. »Nein, nichts dergleichen. War einfach ’ne nette Abwechslung. Die Welt ist voll mit Kerlen, die denken, nur weil man hinter einer Theke sitzt, will man eingeladen werden. Ich hatte sowieso den Eindruck, daß er andere Dinge im Kopf hatte.«
»Und welche?«
»Hören Sie, Mister, ich bin zu sehr damit beschäftigt, eine schlecht finanzierte, unterbesetzte Stadtbibliothek am Laufen zu halten, um meine psychologischen Kräfte zu schulen. Ich würde Ihnen nicht so viel Zeit schenken, wenn es nicht um dieses vermißte Mädchen ginge.«
»Wie kommen Sie denn darauf, Herzchen?«
»Ich lese schließlich die ›Post‹.«
Sie holte die Zeitung hervor, breitete sie vor Dalziel aus und tippte auf einen Artikel über den Fall mit Fotos von Lorraine Dacre und ihren Eltern, den Hardcastles und Joe Telford, von Geordie Turnbull und seinem Anwalt und von Dalziel selbst, auf dem er aussah wie in religiöser Andacht.
Mit dem unvergleichlichen Sinn für Geschmack und Geschicklichkeit, für den britische Journalisten weltberühmt sind, hatte der Herausgeber auf der gegenüberliegenden Seite einen Bericht über das Mid-Yorkshire Musikfestival gesetzt, der in der Ankündigung gipfelte, daß das Eröffnungskonzert mit Mahlers »Kindertotenliedern« in Danby stattfand, gesungen von Elizabeth Wulfstan, die vor fünfzehn Jahren als Kind das letzte und überlebende Opfer des bis dato nicht gefaßten Kindesentführers von Dendale war.
Daneben das Foto einer unergründlichen Elizabeth, die Nahaufnahme eines irritierten Walter Wulfstan und die Halbtotale einer gelangweilten Inger Sandel auf ihrem Klavierschemel mit dem charmanten Smörebröd neben sich.
Ohne auch nur eine Zeile darüber zu verlieren, legte die Zeitung mit dem Nebeneinander der zwei Berichte nahe, daß die Polizei jetzt ebenso im dunkeln tappte wie damals vor fünfzehn Jahren.
»Klingt ganz so, als könnten Sie jede Hilfe brauchen«, kommentierte Jackie Tilney.
»Ich widerspreche nicht«, meinte Dalziel. »Also, das war das erste Mal, das Sie ihn gesehn haben. Und das zweite?«
»Gestern nachmittag war er wieder da. Guckte sich noch mal die Zeitungen an. Dann das Buch. Hat sich irgendwas aufgeschrieben. Dann hab ich gemerkt, daß er von seinem Tisch weg war, und dachte schon, er wäre gegangen. Aber er stand da drüben, hinter dem Regal.«
»Und was ist da drüben?«
»Hauptsächlich Firmenverzeichnisse.«
»Ach ja?«
Dalziel ging hin und warf einen Blick darauf. Sie hatte recht. Warum auch nicht? Er kam zurück zur Theke.
»Und dann?«
»Dann ist er gegangen. Ich glaube, irgendwo in die Stadt. Ich hab gesehen, wie er in einen von diesen Stadtplänen geguckt hat, die man bei der Touristen-Information kriegt. Und das war das letzte, was ich von ihm gesehen hab, bis dieser beschränkte Polizist mir heute morgen das Bild unter die Nase gehalten hat. Übrigens – kann man den überhaupt allein durch die Gegend rennen lassen? Der Kerl ist mit seinem Stock hinter mir hergerannt.«
»Er ist ein impulsiver junger Bursche«, sagte Dalziel. »Aber hat ein gutes Herz. Ich werd ihn mir zur väterlichen Brust nehmen.«
Er schmunzelte hintergründig, um anzudeuten, daß er an einen Vater wie Kronos dachte.
»Sind wir fertig?« wollte Tilney wissen.
Er antwortete nicht. Wenn man eine gescheite Zeugin erwischte, sollte man sie erst aus der Mangel nehmen, wenn man sie ganz und gar ausgequetscht hatte. Ein uniformierter Polizist kam herbei und ließ sich von Dalziels gorgonischem Starren nicht aufhalten.
»Was ist?«
»Sie sollen Sergeant Wield im Infomobil anrufen, Sir.«
Was bedeutete, daß er zur Sicherheit eine Erdleitung nehmen sollte und kein Handy. Was bedeutete … Jackie Tilney sagte: »Im Büro ist ein Telefon. Da können Sie ungestört sprechen.«
Sie hatte seine angespannte Reaktion gespürt. Kluge Frau.
Er ging ins Büro und wählte. Nach einem halben Klingeln wurde abgehoben.
»Ich bin’s«, sagte er.
»Wir haben sie gefunden, Sir.«
An Wields Tonfall hörte er, daß sie tot war. Im Kopf hatte er die Hoffnung auf ein glückliches Ende ja schon lange aufgegeben, aber das beklemmende Gefühl in seiner Brust sagte ihm, daß sein Herz heimlich noch gehofft hatte.
»Wo?«
»Im Tal.«
Dessen Durchsuchung er am Abend zuvor abgeblasen hatte. Verdammt.
»Bin unterwegs. Sie haben das Nötige veranlaßt?«
Überflüssige Frage.
»Ja, Sir.«
»Bitte so unauffällig wie möglich, Wieldy.«
Überflüssige Anordnung. Geboren aus seinem schlechten Gewissen.
»Ja, Sir.«
Er legte den Hörer auf und ging zur Theke zurück.
»Das wäre erst mal alles, Herzchen«, sagte er. »Danke für Ihre Hilfe.«
Ihr Blick sagte ihm, daß seine Bemühungen um Gelassenheit umsonst waren.
Er nahm »Das Ende von Dendale«.
»Darf ich mir das ausleihen?«
»Solange Sie die Gebühr bezahlen«, antwortete sie. »Viel Glück.«
»Danke«, sagte er.
Er marschierte aus der Bibliothek. Plötzlich fühlte er sich energiegeladen. Der Schmerz darüber, daß der Tod des Mädchens bestätigt worden war, brannte noch immer. Doch gleichzeitig spürte er auch ein anderes Gefühl, das weniger lobenswert war und besser vor anderen geheimgehalten wurde.
Nach fünfzehn Jahren hatte er endlich eine Leiche. Leichen konnten einem was erzählen. Leichen hatten Kontakt zu Mördern gehabt, und das in deren verzweifeltsten, eiligsten und gedankenlosesten Momenten. Reines Verschwinden gebar Gerüchte, falsche Spuren, Mythen und Phantasiegespinste. Eine Leiche jedoch …
Er mochte sich dafür hassen, doch er konnte seinen beschwingten Gang nicht zurücknehmen, während er zu seinem Wagen eilte.