172323.fb2 Das Dorf der verschwundenen Kinder - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 49

Das Dorf der verschwundenen Kinder - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 49

Sieben

Der Mittwochmorgen brachte den Pascoes endlich einen Hoffnungsschimmer.

Mrs. Curtis, der Kinderärztin, fehlten noch immer einige Watt zum strahlenden Optimismus, doch als sie sagte: »Gestern schien es eine Weile so, als würden wir ins Bodenlose fallen, aber heute sieht es eher so aus, als hätten wir schlicht und ergreifend den Tiefpunkt überwunden«, überhörte Ellie sogar das medizinisch überhebliche wir und fiel der peinlich berührten Frau um den Hals.

Sie wußte, daß es noch zu früh zum Feiern war. Rosie war noch immer ohne Bewußtsein. Aber endlich gab es überhaupt etwas Hoffnung, und mit der Hoffnung bekam ihr Geist genug Raum, um seine unablässige Konzentration auf eine einzige Sache aufzugeben.

Am späten Vormittag betrachtete Ellie sich kritisch im Spiegel des Waschraums. Sie sah fürchterlich aus, aber das war nichts im Vergleich zu Peter. Er sah aus wie jemand, der vollkommen am Boden war und dann noch ein paar Tiefschläge hatte hinnehmen müssen. Was der Sache ja auch nahekam, wie sie dachte.

Beide hatten sie den falschen Beruf gewählt, das hatte sie schon oft gedacht. Er hätte sich am Rande des akademischen Lebens ein ruhiges Plätzchen suchen sollen, einen kontemplativen Roman schreiben, Rosie zur Schule bringen und abholen, das Haus in Schuß halten … nein, mehr als in Schuß halten; das eine Mal, als er das Bügeln übernommen hatte, hatten sogar die Unterhosen Bügelfalten gehabt, du liebe Zeit! Wenn Peter dafür zuständig wäre, würden sie jede Nacht in frisch gebügelter Bettwäsche schlafen.

Und sie? Sie hätte da draußen in den gefährlichen Straßen sein sollen, Schläge austeilen und einstecken, mit einem kleinen Kratzer von einem Fall zum nächsten gehen und nicht mit diesen tiefen Narben, die noch lange die Knochenhaut reizen, auch wenn außen alles verheilt zu sein schien.

Auf dem Weg zurück ins Krankenzimmer kam eine Schwester auf sie zu und sagte: »Mrs. Pascoe, da ist jemand am Telefon für Ihren Mann. Sie sagt, sie sei eine Kollegin, und es sei wichtig.«

»Sagt sie das«, meinte Ellie pikiert. »Nun, das werde ich beurteilen.«

Sie ging zum Telefon und nahm den Hörer auf.

»Hallo«, sagte sie.

Sie hörte Schweigen, dann eine Frauenstimme. »Ich wollte mit Chief Inspector Pascoe sprechen …«

»Hier ist Mrs. Pascoe.«

»Detective Constable Novello, Shirley Novello. Hallo, Mrs. Pascoe. Es hat mir sehr leid getan, von Ihrer Tochter zu hören … Wie geht es ihr denn?«

»Unverändert«, sagte Ellie, die nicht vorhatte, die Ahnung einer Hoffnung mit einer Frau zu teilen, die sie erst einmal kurz gesehen hatte. »Also sagen Sie mir, Constable Novello, was so wichtig ist?«

Wieder Schweigen, dann: »Ich wollte nur kurz mit … Hören Sie, es tut mir leid, das ist kein guter Zeitpunkt, ich weiß. Es ist nur so, daß wir diese Spur verfolgt haben, die im Grunde seine Spur war, und es wäre vielleicht nützlich, so wie er die Dinge sieht … Es tut mir leid … das ist wirklich ziemlich unsensibel, vor allem … Eigentlich ist es nicht so wichtig, Mrs. Pascoe. Ich hoffe sehr, daß es Ihrer Tochter bald wieder bessergeht.«

Sie meinte, vor allem, wo es um das Kind geht, das in Danby vermißt wird, dachte Ellie. Sie war die Frau, die gestern schon angerufen hatte. Peter hatte davon erzählt und bei ihr einen Ausbruch über solch eine Taktlosigkeit provoziert. Und was hatte Peter geantwortet? Sie hat für Rosie eine Kerze angezündet.

Ellie hatte für Religion keine Zeit, aber es konnte auch nicht schaden, seine Chancen durch gute altmodische Zauberei zu erhöhen.

»Brennt die Kerze noch?« wollte sie wissen.

»Bitte?«

»Egal. Was genau wollen Sie, Miss Novello? Bevor Sie es Peter sagen können, muß ich es hören.«

Fünf Minuten später ging sie ins Krankenzimmer.

Pascoe blickte auf und sagte: »Immer noch alles ruhig. He, gehst du irgendwohin?«

Ellie hatte sich das Haar gebürstet und ihr Mini-Make-up-Set für maximalen Effekt genutzt.

»Nein, aber du. Ich möchte, daß du nach Hause fährst, ein Bad nimmst und ein paar Stunden schläfst, in einem richtigen Bett. Nein, keine Widerrede. Komm her.«

Sie führte ihn zu einem Fenster und drehte die Scheibe, daß sie wie ein Spiegel wirkte.

»Siehst du dieses alte Wrack neben dieser hinreißenden Frau? Das bist du. Wenn Rosie die Augen aufmacht und dich als erstes sieht, wird sie denken, sie hat wie Dornröschen hundert Jahre geschlafen. Also fahr nach Hause und leg das Handy unter dein Kissen. Bei der kleinsten Veränderung ruf ich dich an, versprochen.«

»Ellie, nein …«

»Doch. Und dann … hab ich dir eine Mitfahrgelegenheit verschafft, mit diesem netten jungen Mädchen aus deinem Büro … Shirley Novello, richtig? Sie sagte, sie wäre entzückt, dich nach Hause fahren zu dürfen. Sie wartet unten auf dem Parkplatz.«

»Shirley? Schon wieder? Himmel …«

»Zu dem hat sie wohl einen guten Draht, glaube ich. Hör zu, sie braucht Hilfe und scheint zu glauben, daß sie sie nur von dir kriegt, wenn sie dir bis hierher nachfährt. Vielleicht leidet sie an Wahnvorstellungen, aber ich glaube, in diesem Fall solltest du ihr helfen, wenn du kannst.«

Er schüttelte den Kopf, nicht als Ausdruck von Ablehnung, sondern von Erstaunen.

»Du bist … unglaublich«, sagte er.

»Ach, ich weiß nicht. Ich freue mich schon auf unglaubliche Nächte, wenn das hier vorbei ist«, sagte sie leichthin. »Jetzt geh.«

»Nur wenn du versprichst, das gleiche zu tun, wenn ich zurück bin.«

»Mit einem Constable durch die Gegend fahren? Machst du Witze? Ja, ja, ich verspreche es.«

Sie küßten sich. Ihr fiel ein, daß dies der erste intime Kontakt seit dieser Sache war, der nicht als Trost gemeint war.

Sie sah ihm nach und hoffte, ihre homöopathische Theorie würde wirken, falls das der richtige Ausdruck für ihre Taktik war, ihn dem Schmerz anderer Eltern auszusetzen, die ihr Kind verloren hatten. Nein, das war nicht der richtige Ausdruck, sagte sie sich und sah zu ihrer Tochter. Sie würden ihr Kind nicht verlieren. Es brannte ja eine Kerze für sie. Und sie würde sogar sich selbst zur Kerze machen, falls das nötig sein sollte.

»Hallo, Sir.«

»Selber hallo, Shirley«, erwiderte Pascoe und stieg in den Wagen. »Nett von Ihnen, daß Sie mich nach Hause fahren. Sie haben Zeit von hier bis da, um mir zu erzählen, was Sie auf dem Herzen haben.«

Novello dachte, wenn du wissen willst, wie ein Mann aussieht, wenn er alt ist, dann setz ihn ein paar Nächte ans Krankenbett seiner Tochter.

Doch sie ging auf seine klare Anweisung ein, nicht auf sein Aussehen, und leierte ihre Zusammenfassung herunter, die sie mit Wieldscher Prägnanz und Klarheit vorbereitet hatte.

Er lobte sie nicht dafür. Tatsächlich schien er kaum richtig zuzuhören und interessierte sich anscheinend mehr für den rauschenden Polizeifunk aus ihrem Funkgerät.

Sie griff hinunter, um es abzuschalten, doch er faßte ihre Hand und sagte: »Nein, lassen Sie.«

Es war ihr erster körperlicher Kontakt, und unter anderen Umständen, mit einem anderen Polizisten, hätte sie vielleicht angenommen, daß es die Einleitung einer Anmache war und sich auf eine Abwehrreaktion eingestellt.

Er hielt ihre Hand eine Sekunde lang fest, dann mußte sie schalten, und er ließ los.

»Also«, sagte er. »Benny ist von einer zuverlässigen Augenzeugin in der Leihbibliothek von Dendale gesehen worden. Agnes hat das Geld von der Bank genommen. Und Geordie Turnbull wurde zusammengeschlagen.«

Novello, die letzteres nur der Vollständigkeit halber hinzugefügt hatte, entgegnete: »Ja, aber das wird wahrscheinlich irgend so ein Spinner aus dem Ort gewesen sein, wie dieser Jed Hardcastle oder …«

»Geordie Turnbull lebt seit Jahren in Bixford und hat nie ein Geheimnis daraus gemacht – es sei denn, man hält seinen Namen in großen roten Buchstaben auf einer Bulldozer-Flotte für geheimnisvoll. Warum sollte dieser Jemand so lange warten?«

»Na, weil die kleine Dacre jetzt vermißt wird«, stellte Novello objektiv fest und fragte sich im selben Moment, ob das eine gute Idee war. »Das hat alles wieder in Gang gebracht.«

Zu ihrer Überraschung lachte er. Oder gab ein Geräusch von sich, das große Ähnlichkeit mit Lachen hatte.

»Shirley, Sie sollten sich mal aus dem Kopf schlagen, daß das, was diesen Familien damals passiert ist, etwas ist, das wieder in Gang gebracht werden muß. Es ist ein dauerhafter Zustand, egal wie lange sie damit leben. Das ist, als ob man einen Arm verliert. Man lernt vielleicht, ohne ihn auszukommen, aber man wird nie lernen, so zu leben, als hätte man ihn noch.«

Er sprach mit einem Nachdruck, der sie irritierte, und als er merkte, wie er auf sie wirkte, holte er tief Luft und versuchte zu entspannen.

»Tut mir leid«, sagte er. »Es ist nur so, daß man in so einem Fall den Schmerz der anderen nur in dem Maße teilt, wie er dem eigenen entspricht oder ähnelt. Als ich hörte, daß Rosie krank ist, habe ich zwar nicht ganz und gar vergessen, daß die Tochter der Dacres vermißt wird, vielleicht entführt, wahrscheinlich ermordet wurde, aber ich habe es erst einmal verdrängt. Verständliche erste Reaktion, denken Sie? Vielleicht. Und die richtige Perspektive wird sich wieder einstellen. Aber nicht wie vorher. Ich weiß jetzt, wenn ich auch nur eine Armeslänge von Bennys Kragen entfernt bin, oder dem eines anderen Serienmörders, und jemand würde sagen: ›Rosie braucht dich‹, daß ich ihn sausen lassen würde.«

Er merkte, daß diese entspannte Vertraulichkeit sie ebenso irritierte wie seine vorherige Heftigkeit. Er erinnerte sich an einen Moment ganz am Anfang seiner Zusammenarbeit mit Dalziel, als der Dicke unter Alkoholeinfluß über seine zerbrochene Ehe hatte reden wollen, doch Pascoe war der Vertraulichkeit entflohen, weil er nichts hatte wissen wollen, von dem sein Vorgesetzter später vielleicht bereute, es erzählt zu haben.

»Mit anderen Worten, ich glaube, wir müssen woanders nach Turnbulls Angreifer suchen als in den Familien aus Dendale. Und Sie sagen, er wollte es nicht anzeigen? Das ist interessant.«

»Ja, Sir«, sagte sie in dem Bewußtsein, daß die Fahrt zwischen Krankenhaus und Pascoes Heim bald beendet war. »Aber diese Spur interessiert mich im Moment eher weniger.«

Aber Sie haben nicht vergessen, wer diese Spur als erste aufgenommen hat, dachte Pascoe, der eine gewisse Verstimmung heraushörte.

Freundlich sagte er: »Ich weiß, daß es manchmal ziemlich gemein ist, wenn man herumgeschoben wird. Aber Sie müssen die gesamte Untersuchung im Auge behalten. Das tun nämlich die Leute, von denen Sie denken, daß sie Sie herumschieben. Lassen Sie sich nicht ärgern, sondern befördern. Mr. Dalziel war von Anfang an der Meinung, daß Lorraine Dacres Verschwinden etwas mit der Sache in Dendale vor fünfzehn Jahren zu tun hat. Ich dachte das nicht, aber je mehr ich sehe, wie die Dinge sich entwickeln, um so mehr denke ich, daß er vermutlich recht hat. Also, schaffen Sie keine Verbindungen, aber übersehen Sie sie auch nicht.«

»Nein, Sir«, sagte Novello. »Sie springen einen aber geradezu an, nicht wahr? Ich hab die alte Akte gelesen. Erinnern Sie sich an das Mädchen, Betsy Allgood, die vor Benny fliehen konnte? Tja, die ist anscheinend auch wieder da.«

Sie griff nach hinten, zog die »Post« vom Rücksitz und legte sie Pascoe auf den Schoß.

Keine gute Idee, dachte sie dann, als er die nächsten Minuten damit zubrachte, beide Artikel zu lesen, den über ihren Fall und den über das Konzert.

»Betsy Allgood«, murmelte er. »Ja, da war ein Foto in der Akte. So hat sie aber nicht ausgesehen.«

»Wir werden älter, Sir«, entgegnete Novello. »Wir fangen an, so auszusehen, wie wir selbst es wollen, und nicht unsere Eltern, wie Sie bestimmt noch feststellen werden.«

Er sah sie scharf an und lächelte dann dankbar für diesen indirekten Zuspruch.

»Na ja, auf jeden Fall ist es eine Verbesserung«, sagte er. »Wenn ich mich recht erinnere, war sie ein ziemlich häßliches Kind.«

Nun war sie an der Reihe, ihn scharf anzusehen. Er dachte, das war ganz schön frech, Pascoe, daß du in deiner Situation über Kinder anderer Leute herziehst.

Aber das Foto gab ihm weiterhin zu denken. Oder besser, die Fotos, denn während Betsy/Elizabeth, die er schon einmal gesehen hatte, ganz und gar unbekannt aussah, kam ihm Walter Wulfstan, den er noch nie gesehen hatte, irgendwie bekannt vor. Aber warum auch nicht? Er war ein angesehener Mann am Ort, den man wohl häufig auf Titelblättern sehen konnte, wenn er zu irgendwelchen offiziellen Anlässen eingeladen wurde.

Und noch etwas irritierte ihn …

Er sagte: »Fahren Sie bitte hier ran, ja? An der Telefonzelle.«

Sie gehorchte – überrascht, aber klug genug, den Mund zu halten, während Pascoe stirnrunzelnd dem Funk lauschte.

»Irgendwas ist passiert«, sagte er.

»Ich habe nichts gehört, Sir …«

»Nein, es hat auch niemand was gesagt, da ist nur hin und wieder eine Pause, eine Andeutung … Vielleicht bilde ich mir das nur ein, aber tun Sie mir bitte den Gefallen, Shirley, und rufen Sie in der Einsatzzentrale in Danby an.«

»Ja, gut«, sagte sie und zog ihr Handy hervor.

»Nein«, sagte er und zeigte auf die Telefonzelle. »Wenn ich richtig liege, werden Sie nichts zu hören kriegen, wenn Sie nicht über eine Landleitung gehen.«

Rot vor Scham, weil sie so schwer von Begriff war, stieg Novello aus dem Wagen.

Pascoe studierte noch einmal die Zeitung und legte sie dann wieder auf den Rücksitz. Dabei fiel ihm auf, daß Novello ihr Auto anscheinend mit der gleichen Einstellung fuhr wie Ellie. Man hielt den Fahrersitz frei und benutzte den Rest als mobilen Mülleimer. Er schüttelte den Kopf, als er zwischen dem Abfall zwei Beweistüten entdeckte. Dinge wie diese verschloß man im Kofferraum, bis man sie schnellstmöglich zur Untersuchung oder Lagerung abgab.

Er nahm die beiden Tüten und legte sie sich auf den Schoß. An beiden hingen Kärtchen, aus denen ihr Inhalt hervorging und daß sie vom Labor untersucht worden waren. Die größere Tüte enthielt eine Zigarettenschachtel, zwei Sonntagszeitungen und ein beschmiertes Taschentuch, die kleinere eine Foto-Batterie und einen silbernen Ohrring in Form eines Dolchs.

Er starrte immer noch auf diese Tüte, als Novello wieder ins Auto stieg, doch ihre Worte schoben seine Fragen erst einmal in den Hintergrund.

»Sie haben sie gefunden.« Ihre Stimme war tonlos, aber fest. »Ich habe mit Mr. Headingley gesprochen. Noch nicht offiziell identifiziert, aber Sergeant Wield ist anscheinend ganz sicher. Er hat ihren Hund noch einmal ins Tal geführt …«

»Cleverer alter Wieldy«, sagte Pascoe. »Das erklärt allerdings nicht, wie alle anderen sie übersehen konnten. Mit Hunden, Infrarotkameras …«

»Da lag ein totes Schaf. Bei diesem Wetter …«

»Cleverer Killer«, sagte Pascoe und versuchte, das Bild des toten Kindes von sich fernzuhalten. »Gibt’s schon irgendeinen Hinweis auf die Todesursache?«

»Nein, Sir. Das Sondereinsatzkommando ist gerade oben, mit dem Pathologen. Damit ist meine Entführungstheorie endgültig im Eimer.«

Auch sie versuchte, sich durch polizeiliche Abstraktionen von der Kinderleiche abzulenken.

Pascoe sagte: »Ich wette, der Superintendent ist froh.«

»Wie bitte?« Sie konnte ihr Entsetzen nicht verbergen.

»Weil er eine Leiche hat, meine ich. Das Mädchen hatte er schon lange aufgegeben. Vom ersten Moment an, wo es als vermißt gemeldet wurde, glaube ich. Aber um den Mörder zu fassen, braucht er etwas Konkretes. Sonst ist das wie Schattenboxen. War sonst noch was?«

»Ja, der Superintendent hat bei Inspector Headingley einen Bericht hinterlassen, bevor er ins Tal fuhr.«

Sie gab die Ergebnisse von Dalziels Zeugenbefragung in der Bibliothek weiter, wobei sie Pascoe mit der Menge an Details überraschte.

»Sie müssen bei George Headingley einen guten Stand haben«, meinte er.

Der Inspector gehörte noch zur alten Schule und war überzeugt, daß es Constables nur verwirrte, wenn man ihnen zuviel erzählte, und daß man weiblichen Constables gegenüber mit jeder Information, außer der Anzahl von Zuckerstückchen, die man in seinen Kaffee nahm, seine Zeit vergeudete.

»Ich habe ihm gesagt, daß ich auf Ihren Befehl hin frage, Sir, und daß Sie jede Einzelheit hören wollten. Er läßt übrigens herzliche Grüße ausrichten an … Sie wissen schon …«

»Ja, ich weiß«, sagte Pascoe. »Dieses Buch … ›Das Ende von Dendale‹. Ellie hat irgendwo ein Exemplar rumliegen. Sie steht auf Lokalgeschichte und so was. Aber warum wollte Benny es sehen? Und wo zu braucht er Fotokopien von den Landkarten? Er müßte das Tal doch eigentlich kennen wie seine Westentasche.«

»Das war vor fünfzehn Jahren, bevor das Tal geflutet wurde«, erwiderte Novello.

»Durch die Dürre sieht es inzwischen fast wieder aus wie früher«, wand Pascoe ein.

»Außer, daß die ganzen Gebäude plattgewalzt wurden«, sagte Novello, ließ den Wagen an und fuhr wieder los.

»Tja, wohl deswegen«, sagte Pascoe. »Sagen Sie, diese Beweistüten …«

Sie hatte die Tüten auf seinem Schoß entdeckt und seine Rüge bereits erwartet.

»Ja, ich weiß, Sir«, sagte sie. »Die sind zum Wegwerfen, nicht fürs Lager. Ich hab die Sachen aus dem Abfalleimer oben am Aussichtspunkt an der Straße zum Highcross Moor gefischt, als ich noch an Entführung dachte. Das Labor hat nichts gefunden, was nicht weiter verwunderlich ist, wenn das Mädchen im Tal gefunden wurde. Ich werde sie in den nächsten Mülleimer werfen, den ich sehe.«

»Gut«, sagte er.

Den Rest der Fahrt über hüllte er sich in Schweigen. Das war nicht unbedingt ihre beste Idee gewesen, dachte Shirley. Aber was hatte sie erwartet? Letztes Mal hatte er ihr helfen können, weil er vor seiner familiären Krise vermutlich schon ein paar Schritte vorausgedacht hatte. Aber seither, wie er selbst sagte, stand der Dacre-Fall sehr weit unten auf seiner Prioritätenliste.

Als sie sein Haus erreichten, stieg er aus, die Plastiktüten noch immer in der Hand.

»Sir«, sagte Novello und zeigte darauf.

»Was? Ach ja. Ich werfe sie in unseren Mülleimer, ja? Hören Sie, kommen Sie doch für einen Moment mit rein.«

Sie folgte ihm ins Haus. Er eilte sofort nach oben, und sie überlegte, ob das wohl als Aufforderung gemeint war, ihm zu folgen. Nicht, daß ihr wichtig gewesen wäre, was gemeint war. Hier unten an der offenen Tür war ihr Platz. Pascoe war zwar weder verbal noch körperlich ein Grapscher, aber unter Streß verhielten Männer sich schon mal seltsam, und von einem beliebten altgedienten Polizisten mit todkranker Tochter angemacht zu werden war für die Karriere einer ehrgeizigen Polizistin nicht gerade förderlich.

Kurze Zeit später kam er mit einem Buch in der Hand zurück.

»Da ist es. Ich wußte doch, daß wir ein Exemplar haben. ›Das Ende von Dendale‹. Wollen wir doch mal sehen, was Lightfoot so interessiert haben könnte.«

»Es waren die Karten, Sir. Das wissen wir«, entgegnete sie so geduldig wie eine Grundschullehrerin.

Er bemerkte ihren Tonfall, lächelte und sagte: »Danke, Schwester, aber das war beim ersten Mal. Er hat Fotokopien machen lassen. Also, was hat ihn veranlaßt, einen zweiten Blick in das Buch zu werfen?«

Er ging ins Wohnzimmer, setzte sich hin und fing an, das Buch durchzublättern. Novello stellte sich hinter ihn und sah ihm über die Schulter.

Ihm fiel ein, daß er das Buch vor langer Zeit schon einmal durchgesehen hatte, aber abgesehen von der ersten Landschaftsaufnahme, die Mrs. Shimmings ihm gezeigt hatte, erinnerte er sich an nichts mehr. Was hätte ihm das Buch vorher auch sagen sollen? Nun aber hatte er das Tal gesehen und was daraus geworden war, hatte einige ehemalige Bewohner gesehen und was aus ihnen geworden war, und die Bilder erweckten die Vergangenheit auf eine Art und Weise zum Leben, wie seine Vorstellungskraft es ohne diese Hilfen niemals geschafft hätte.

Hier waren alle Gebäude abgebildet, die er nur als Steinhaufen kannte, kaum zu unterscheiden von dem steinigen Untergrund, auf dem sie lagen.

Hier war Heck, ein kompaktes und eher finsteres Haus, selbst im hellen Sonnenschein, der alle Bilder durchflutete. Es war niemand zu sehen, aber die Seile einer Kinderschaukel an einer Eiche im Garten wirkten leicht beschwingt, so als sei gerade jemand abgestiegen und still verschwunden.

Hier war Hobholme, einer dieser alten Bauernhöfe, die allmählich gewachsen waren, mit einer ans Haus angebauten Scheune, einem an den Schuppen angebauten Kuhstall, einem an den Kuhstall angebauten Schafpferch und so weiter, wie es den Bedürfnissen entsprochen hatte. Eine Frau ging zielstrebig an den Gebäuden entlang, in jeder Hand einen Eimer. In ihrem zarten Profil erkannte Pascoe ohne Schwierigkeiten Molly Hardcastle. Mit dem stoischen Pflichtbewußtsein einer Bauersfrau verrichtete sie ihre Arbeit und wirkte dabei nicht unbedingt glücklich. Verglich sie wohl im Geiste die strengen Erwartungen ihres Mannes mit den sanften Annäherungen von Constable Clark? Waren das nur die eitlen Träume einer abgearbeiteten Ehefrau? Reichte ihre Liebe zu den drei Kindern und vielleicht auch die Erinnerung an einen ehemals zärtlichen Hardcastle aus, um sie auf Hobholme festzuhalten? Oder zog sie ernsthaft in Erwägung, die Wut ihres Ehemannes und das Geschwätz der Nachbarn heraufzubeschwören und ihrem Glück hinterherzurennen? Eitle Träume oder konkrete Pläne – wie mußte sie sich gestraft gefühlt haben, nachdem die kleine Jenny sich allein vom Badeteich entfernt hatte …

Einige Seiten weiter war der Stang-Hof, dessen Tischlerei größer war als das weiß verputzte Haus. Rauch quoll aus dem Schornstein und erinnerte den Betrachter, daß das Feuer ein notwendiger Arbeitskollege war, auch wenn die Sonne heiß genug brannte, um die Äpfel im Baum zu braten. Vor der Tischlerei standen zwei Männer mit nacktem Oberkörper, denen der Schweiß über Brustkorb und Arme rann; der eine hielt eine Säge, der andere ein Brett, beide lächelten in die Kamera und waren sichtlich froh über diesen Anlaß zur wohlverdienten Verschnaufpause. Sie sahen einander sehr ähnlich. Der eine war zweifellos Joe Telford, der andere sein Bruder George, aber ein fremdes Auge konnte sie nicht unterscheiden. Ohne Zweifel war das heute jedem möglich.

Die Kirche, St. Luke’s, war auch abgebildet, bei einer Hochzeit mit glücklich lächelndem Brautpaar und Gästen; das »Holly Bush Inn« mit Gästen vor dem Lokal, die mit provenzalisch anmutender Gelassenheit ihr Feierabendbier genossen; Low Beulah, das Haus der Allgoods, aus dem gerade ein schlanker, dunkelhaariger Mann trat, der sein wettergegerbtes Gesicht in Heathcliff-Manier stirnrunzelnd in die Kamera hielt, als wolle er dem Fotografen gleich die Meinung sagen.

Und hier war die Dorfschule.

Pascoe spürte, wie sich sein Herz zusammenzog und wie Shirley neben ihm sich versteifte. Alle Kinder aus dem Tal waren versammelt, etwa zwei Dutzend, aufgestellt in drei Reihen, die erste sitzend, die zweite auf Knien und die dritte stehend, eingerahmt von den beiden Lehrerinnen Mrs. Winter und Miss Lavery. Sein Blick glitt über die Reihen. In der Akte waren Fotos der vermißten Mädchen gewesen, und er entdeckte ihre kleinen blonden Köpfe und lächelnden Gesichter, eins nach dem anderen. Auch die dunkle und ernste Betsy Allgood war leicht auszumachen. Und noch ein Gesicht zwischen den älteren Mädchen in der hinteren Reihe kam ihm bekannt vor … jetzt fiel es ihm ein … Das mußte Elsie Coe sein, mit zehn oder elf Jahren, unverkennbar für jeden, der das polizeiliche Suchbild ihrer Tochter Lorraine Dacre gesehen hatte.

Das Schulfoto trug die Unterschrift »Lächeln für eine schöne Zukunft, aber nicht in Dendale!«

Nein. Nicht in Dendale.

Es gab weitere Landschaftsbilder – vom Mere, in dem ein Schwimmer zu sehen war; von Beulah Height mit dem alten Schafpferch aus Steinen der noch älteren Bergfestung; vom White Mare’s Tail in voller Pracht, was bedeutete, daß das Foto wahrscheinlich früher als die anderen aufgenommen worden war, vor der Dürrezeit. Dann kam er zum zweiten Abschnitt, »Das Ende«, mit dem Epigraph:

Oh, unerwartet’ Pein, qualvoller als der Tod!

Muß ich dich denn verlassen, Paradies?

Nun folgten Aufnahmen vom Dammbau und den Räumungsarbeiten im Dorf. Man sah Menschen, die ihre Besitztümer in Lastwagen luden oder auf Anhänger, gezogen von Traktoren. Hier wurden Schafe von diesem Heathcliff-Typen den Berg hinunter getrieben, vermutlich Mr. Allgood; dort war der Friedhof mit gähnenden Gräbern und einem ängstlich dreinblickenden Pfarrer, der den Aushub eines Sarges beobachtete. Hier war das »Holly Bush«, dessen Wirt gerade das Schild abmontierte. Dort war das Klassenzimmer, ohne Schüler, ohne Pulte, nur ein paar Zeichnungen hingen noch an den Fenstern und verrieten, daß hier eine Schule gewesen war. Und da war das Gemeindezentrum, das gerade von einem Mann mit offensichtlich schweren Aktenbehältern verlassen wurde, der die Tür mit dem Absatz zustieß.

Das Gesicht war unverkennbar das von Sergeant Wield. Die Polizei hatte ebenfalls zusammenpacken müssen, obwohl das Buch die andere Tragödie des langen heißen Sommers in Dendale mit keinem Wort erwähnte. Für diese Art von Buch war das richtig. Diejenigen, die betroffen waren, würden kein Souvenir brauchen …

Pascoe blätterte weiter und fragte sich, was zum Teufel Benny Lightfoot – wenn er es denn gewesen war – außer den Landkarten noch interessiert haben könnte.

Im ersten Teil war Neb Cottage nur ganz klein im Hintergrund zu sehen gewesen, aber hier war ein anderes Foto, auf dem es größer abgebildet war. Allerdings nicht in der Weise, wie ein zurückgekehrter Bewohner es gern gesehen hätte. Es zeigte die Hütte just im Moment ihrer Zerstörung. Ein dramatisches Bild, auf dem die Abendsonne alle Kontraste verstärkte. Ein Bulldozer, auf dessen Schubrahmen der Name Tiplake deutlich zu erkennen war, erklomm eine Gebäudeseite wie ein gefräßiger Dinosaurier, die Wände brachen zusammen wie angeschossenes Wild, und der Kamin war oberhalb des Hausgiebels eingerissen und nach hinten gekippt, so daß er wie ein im gequälten Todesschrei aufgerissener Mund aussah.

Er blätterte bis zum Ende. Das zweitletzte Foto zeigte den Zufluß der angestauten Wasser vom Highcross Moor über den Hügel zwischen Neb und Beulah Height. Es war ein düsteres und unheilschwangeres Bild mit wolkenverhangenem Himmel und diesiger Luft von dem Regen, der die Dürre beendet hatte.

Und das letzte Foto zeigte das neue Tal, wieder im Sonnenschein, mit einem bis zum Rand gefüllten Stausee – eine Szene, die so ruhig und friedlich und leblos war wie die Gedenkhalle eines Krematoriums.

Er blickte zu Novello auf. Sie erwiderte seinen Blick, aber nicht, wie er erleichtert feststellte, voller Erwartung, sondern voller Hoffnung.

Er sagte: »Er besucht seine Großmutter, er geht in die Stadtbibliothek und studiert alte Zeitungsausschnitte und dieses Buch, er macht Fotokopien von den Landkarten und campiert draußen in Dendale bis gestern morgen, wo er zusammenpackt und wieder zur Leihbücherei geht. Das wissen wir. Was wollen Sie noch wissen?«

Die Hoffnung in ihrem Gesicht wich Überraschung.

»Na ja, ich will wissen, was er vorhat, ich will wissen, warum er …«

»Ja«, unterbrach Pascoe. »Aber warum wollen Sie das wissen, warum?«

»Weil … wenn wir es wissen, könnte es uns helfen, ihn so bald wie möglich zu schnappen. Damit wir ihn über seine mögliche Verbindung zum Tod von Lorraine Dacre befragen können«, erwiderte sie.

»Das ist richtig. Es könnte uns helfen, ihn zu schnappen. Ehrlich gesagt, ist es aber viel wahrscheinlicher, daß wir ihn über den Campingbus schnappen oder weil er wieder im ›Wark House‹ anruft. Sie haben das geklärt, nehme ich an?«

»Ja, Sir.«

»Also zerbrechen Sie sich nicht den Kopf mit diesen hirnigen Detektiv-Vermutungen«, meinte er matt. »Neugier ist gut, aber es kommt die Zeit, wo man wieder zum Team zurück muß, und sei es nur, um Tee einzuschenken.«

»Ich hab nur gedacht …«

»Denken tut keinem weh. Hier. Sehen Sie sich’s selbst noch mal an, bevor Sie gehen. Ziehen Sie die Tür einfach zu. Aber nicht zu laut, ja?«

Er stand auf und verließ das Zimmer. Sie hörte, wie er die Treppe raufging.

Sie setzte sich hin, schlug das Buch auf und hatte das Bild vor Augen, auf dem der Bulldozer Neb Cottage abriß.

Ob es nun ein bedeutungsvoller Zufall war oder nicht, Benny Lightfoot jedenfalls hatte sicher lange Zeit über diesem Foto gesessen. Sie versuchte, sich vorzustellen, wie sie selbst auf ein ähnliches Foto blickte, das die Zerstörung des Vorort-Reihenhäuschens zeigte, in dem sie aufgewachsen war. Obwohl es kein so urtümliches Haus war wie Neb Cottage, würde es ihr das Herz brechen, die Zimmer aufgerissen zu sehen, in denen sie sich als Kind so unendlich sicher gefühlt hatte.

Aber Pascoe hatte recht, dachte sie, und schloß das Buch. Man sollte blanke Neugier nicht mit guter Polizeiarbeit verwechseln. Es war Zeit, wieder nach Danby zu fahren und zu hören, welche neuen Aufgaben nach dem Fund der Leiche verteilt wurden, wieder im Team zu spielen, und sei es nur, um Tee einzuschenken …

»Scheiß drauf«, sagte sie laut. Sie schlug das Buch wieder auf. Studierte erneut das Foto. Lief zur Treppe und rief. »Sir? Sind Sie noch wach?«

Schweigen. Dann Pascoes Stimme: »Was?«

Sie vergaß alle vorherigen mißtrauischen Gedanken, lief die Treppe hinauf und stellte sich an die geöffnete Schlafzimmertür. Pascoe saß am Toilettentisch, auf dem anscheinend der Inhalt einer Schmuckschatulle ausgebreitet war. Er blickte zu ihr auf und sagte wieder: »Was?«

»Haben Sie eine Lupe?«

Fast erwartete sie eine sarkastische Bemerkung über Sherlock Holmes, doch er gab nur ungeduldig zurück: »Schreibtisch. Linke Schublade«, und widmete sich wieder seinem Piratenschatz.

Novello ging nach unten, fand den Schreibtisch, fand die Lupe und widmete sich wieder dem Buch.

»Bingo«, sagte sie.

»Immer noch da? Gut.« Pascoe stand im Hausflur.

»Sir, sehen Sie mal …«

»Ja, ja, erzählen Sie’s mir im Wagen. Ich muß wieder in die Stadt.«

»Aber ich dachte … Mrs. Pascoe sagte …«

»Fahren Sie mich einfach.«

»Ja, Sir. Ins Krankenhaus, Sir?«

»Nein«, entgegnete er. »Zum Büro der Mid-Yorkshire Wassergesellschaft.«