172323.fb2 Das Dorf der verschwundenen Kinder - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 50

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Acht

Der vorläufige Bericht des Pathologen vor Ort war kurz.

Der Schädel des Kindes war gebrochen, vermutlich die Todesursache. Sie war vollständig bekleidet, und es gab keinen direkten Hinweis auf sexuellen Mißbrauch.

»Für alles weitere werden Sie warten müssen, bis wir sie auf dem Seziertisch hatten«, meinte er abschließend.

Dalziel erkannte in der brutalen Knappheit die wohlbekannte Manier, mit dem Tod eines Kindes fertigzuwerden. Es bestand keine Chance, solch ein Ereignis in den dunklen, gefühlsintensiven Stunden der Nacht zu verdrängen, aber hier und jetzt war keine Zeit für gramvolle Besinnung.

»Ja dann. Bringen wir sie weg von hier«, sagte er.

Nachdem der Leichnam aus seiner steinernen Gruft entfernt war, wurde schnell offensichtlich, daß es sich hier um das Geheimversteck handelte, von dem Lorraines Freundinnen gesprochen hatten. Eine Kerze, ein paar Comic-Hefte, eine Dose mit Keksen und der Aufschrift »Not-Razjon«, ein Gummiknochen mit Tigs Bißmalen, all das waren eindeutige Beweise. Es gab auch Hinweise drauf, daß sie sich eine Eingangstür aus Gras und Reisig gebaut hatte, aber der Haufen Erde und Gestein, den Wield weggeschafft hatte, war mit ziemlicher Sicherheit vom Mörder aufgeschichtet worden.

»Dann hat er den Schafkadaver von der Schlucht hier raufgezogen«, sagte Wield. »Das reichte aus, um Hunde und Infrarotkameras gleichermaßen zu verwirren. Aber Tig wußte, wo er hinmußte. Er ist nicht seinem Geruch gefolgt. Er wußte es einfach.«

Der Hund hatte von einem Hundetrainer mit Schutzhandschuhen aus der kleinen Höhle entfernt werden müssen, doch als er erst einmal draußen und in Wields Obhut war, ließ er sich bereitwillig an die Leine nehmen und festbinden. Er stand auf, als die Leiche hinausgetragen wurde, und blickte dem Plastiksarg nach, wie er den Hang hinuntergetragen wurde bis zum nächstmöglichen Punkt, den ein Fahrzeug erreichen konnte. Dann ließ er sich wieder fallen, so als wüßte er, daß hiermit ein Teil seines Lebens abgeschlossen war.

»Wir werden eine offizielle Identifizierung brauchen«, sagte Dalziel.

Und meinte damit, daß die Dacres informiert werden mußten. Wie klein die Flamme der Hoffnung in ihren Herzen auch sein mochte, jetzt würde sie endgültig erstickt werden.

»Ich kümmere mich darum«, sagte Wield.

Sie beide wußten, daß es Dalziels Aufgabe war. Aber irgendwas in seinem Tonfall ließ Wield erkennen, daß der Dicke um Hilfe bat, und deutlicher würde er es niemals zeigen.

»Meine Aufgabe«, sagte er, um seine Schwäche zu überspielen.

»Ihre Aufgabe ist es, den Dreckskerl zu schnappen, der dafür verantwortlich ist«, entgegnete Wield. »Sie können ja dann zu ihnen gehen, wenn Sie das erledigt haben.«

Er wartete nicht auf Antwort, sondern band Tig los und marschierte den Pfad entlang, den Hund auf den Fersen. Er blickte noch einmal zurück, ehe er aus dem Sichtfeld verschwand, und sah Dalziel da stehen, wie er ihm nachblickte. Er hob eine seiner Riesenhände auf Schulterhöhe, was man als Geste des Segens hätte deuten können, was jedoch, wie Wield wußte, der einzige Dank war, den er in dieser Angelegenheit ernten würde.

Bei seinem Motorrad angekommen, mußte er feststellen, daß der Hund nicht wieder in den Korb zurückwollte, doch als Wield sich auf den Sattel schwang und vor sich auf den Tank klopfte, sprang Tig hinauf, als wäre er von Geburt an so durch die Gegend gereist.

Wield nahm sich Zeit. Wozu Eile? Er versuchte, an nichts zu denken und nur zu entspannen, den kühlenden Wind auf dem Gesicht zu spüren, die Unebenheiten der Landschaft in seinen Beinen. Hinunter zum Ligg Common, vorbei am Infomobil, vor dem Inspector Burroughs auf ihn wartete, damit er sie über die Neuigkeiten aufklärte. Er fuhr an ihr vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen.

Schließlich kam er vor Liggside Nr. 7 zum Stehen.

Noch ehe er den Motor abstellen konnte, sprang Tig hinunter und rannte bellend durch die offene Tür.

Oh, verdammt! dachte Wield. Verdammt, verdammt, verdammt!

Er eilte dem Tier hinterher, aber es war schon zu spät. Tony und Elsie Dacre waren aufgesprungen und starrten mit hoffnungsvoll geweiteten Augen zur Tür, weil Tigs Bellen die Erinnerung an die heimkehrende Lorraine wachrief.

»Es tut mir leid«, sagte Wield hilflos. »Es tut mir leid.«

Er entschuldigte sich dafür, daß er den Hund hatte hineinlaufen lassen, doch seine Worte galten auch für seine schwerere Aufgabe. Elsie Dacre schrie: »O nein. O nein!« Und brach weinend in den Armen ihres Mannes zusammen.

»Wo …? Wie …?« stammelte Tony Dacre.

»Oben am Hang, am Bach, wo er durch die tiefe Schlucht läuft«, antwortete Wield. »Tig hat sie gefunden.«

»Was ist passiert? Ist sie …«

»Was genau passiert ist, wissen wir erst, nachdem sie … Aber der Arzt sagt, sie war vollständig bekleidet. Kein Hinweis auf Mißhandlungen.«

Das war mehr, als er vor der Obduktion sagen durfte, aber er konnte nicht dastehen und den Schmerz mit ansehen, ohne zumindest das Wenige zu tun, das in seiner Macht stand.

»Wir werden jemanden zur Identifizierung brauchen«, fuhr er fort.

Elsie riß den Kopf hoch. Die Hoffnung war wie ein kleiner schwarzer Käfer. Man tritt darauf, so fest man kann, doch er krabbelt weiter.

»Es ist also nicht sicher?« fragte sie flehend.

»Doch, es ist sicher«, sagte er leise. »Die Kleider passen auf die Beschreibung. Und wir hatten das Foto. Es tut mir leid. Hören Sie, ich werde später wiederkommen, um einen Termin auszumachen. Sie werden etwas Zeit brauchen …«

Er drehte sich um und ging. Er schämte sich für seine Erleichterung, dieses Zimmer hinter sich lassen zu können, in das nun endgültig der Tod eingekehrt war.

Eine Frau kam durch die Eingangstür. Es war Margaret Coe, Elsie Dacres Mutter.

Sie sagte: »Ich hab Sie hineingehen sehen. Ist was passiert?«

Wield nickte.

»Wir haben sie gefunden.«

»Gott im Himmel!«

Sie schob sich an ihm vorbei ins Wohnzimmer. Wield verließ das Haus. Er spürte mehrere Augenpaare auf sich gerichtet. Ohne sie zu beachten, stieg er auf sein Motorrad. Tony Dacre trat mit Tig auf den Armen aus dem Haus.

»Könnten Sie ihn wohl mitnehmen?« fragte er. »Es wird zu schwer werden, ihn dazubehalten. Jedesmal, wenn er bellt, ist es, wie wenn … Außerdem scheint er Sie zu mögen … Ich meine nicht, daß Sie ihn zum Tierarzt bringen sollen, verstehen Sie … nur, daß sich jemand eine Weile um ihn kümmert … Hören Sie, haben Sie die Wahrheit gesagt vorhin? Er hat ihr nichts angetan?«

»Soweit man das ohne genaue Untersuchung feststellen konnte«, sagte Wield.

»Tja, das ist immerhin etwas«, sagte Tony Dacre. Dann sah er zum blauen Himmel hinauf und schüttelte ungläubig den Kopf.

»Wir sind schon eine komische Spezies, wie? Da steh ich nun, hab gerade gehört, daß meine Tochter tot ist, und versuche Trost darin zu finden, daß sie nicht vergewaltigt wurde. Um Gottes willen, was für Kreaturen sind wir bloß, Sergeant? Wozu sind wir nur gut, jeder von uns?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Wield. »Ich weiß es einfach nicht.«

Er setzte den Hund vor sich und dachte im Davonfahren: Du Dreckskerl, wer immer du bist, du bringst uns alle um, weil du unseren Glauben aneinander zerstörst, den Glauben an uns selbst. Uns graut nicht nur vor deiner Tat, uns graut auch vor uns selbst, weil wir Teil derselben Rasse sind, die das hervorgebracht hat, was du bist.

Zwischen seinen Beinen ertönte ein Schnarchen. Tig war eingeschlafen, den Kopf auf Wields Oberschenkel.

Und was zum Henker wird Edwin sagen, wenn er dich sieht? fragte Wield sich selbst.

Und dann, als er merkte, mit welcher Leichtigkeit er den Sprung von kosmischer Verzweiflung zu häuslichen Problemen vollzogen hatte, wußte er nicht, ob er lachen oder weinen sollte.