172323.fb2 Das Dorf der verschwundenen Kinder - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 51

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Neun

Die sichtbare obere Hälfte der Empfangsdame im Haus der Mid-Yorkshire Wassergesellschaft wirkte nett und freundlich, aber ihre Unnachgiebigkeit gegenüber denjenigen, die um Zutritt zu der hinter ihr liegenden Welt ersuchten, ließ neben der unsichtbaren unteren Hälfte eine Schar Höllenhunde vermuten.

Pascoe sah aus wie leichte Beute. In den letzten Jahren, in denen Beschwerden über Dürrezeiten, Umweltverschmutzung und Nebeneinkünfte von Geschäftsführern sich vervielfacht hatten, hatte sie schon ganz andere Kaliber abgewiesen als diesen blassen, übernächtigten Hering.

»Ich fürchte, Mr. Purlingstone ist heute nicht zu sprechen. Wenn Sie mir Ihren Namen hinterlassen, werde ich dafür sorgen, daß er von Ihrem Besuch erfährt.«

»Sagen Sie ihm einfach, daß ich hier bin – jetzt gleich. Pascoe ist mein Name. Sagen Sie’s ihm.«

Er sah, wie ihre rechte Hand sich bewegte, und vermutete als Ziel einen Alarmknopf. Seufzend zog er seinen Dienstausweis hervor. »Chief Inspector Pascoe. Sagen Sie’s ihm.«

Sie nahm den Telefonhörer auf, und wenige Augenblicke später schwebte Pascoe in einem parfümierten, musikberieselten Fahrstuhl in die oberste Etage.

Purlingstone wartete bereits auf ihn, als die Fahrstuhltür sich öffnete.

»Was?« fragte er. »Was ist passiert? Warum sind Sie gekommen?«

»Alles in Ordnung«, sagte Pascoe. »Es hat nichts mit Zandra zu tun. Wirklich. Alles in Ordnung.«

Auf einmal bekam er Gewissensbisse. Was hatte er sich nur dabei gedacht, einfach hier aufzukreuzen? Nur weil der Mann seinen Schmerz bekämpfte, indem er dorthin floh, wo er noch Macht und Einfluß besaß, bedeutete nicht, daß er nicht mehr litt. Und was außer dem Schlimmsten sollte er bei Pascoes Ankunft annehmen?

Seit ihrem Streit hatten die beiden Männer nicht mehr miteinander gesprochen, und dies, dachte Pascoe, war nicht der richtige Weg, um Brücken zu schlagen.

»Derek«, sagte er. »Es tut mir leid. Ich hätte anrufen sollen. Im Krankenhaus ist alles in Ordnung. Sie würden sich doch sofort melden, wenn etwas nicht in Ordnung wäre, oder?«

Dieser Appell an die Logik schien zu wirken, da die Sorge nun Mißtrauen wich.

»Na gut, aber was zum Teufel tun Sie dann hier?«

»Es tut mir leid«, wiederholte Pascoe. »Ich möchte Ihnen nur ein paar Fragen stellen.«

»Sie hören sich an wie ein Polizist«, schnaubte Purlingstone verächtlich.

Das stimmt, dachte Pascoe. Phrasen wie in einem Fernsehkrimi. Aber was soll’s? Man ist, was man ist.

Er fragte: »Wo haben Sie am Sonntag haltgemacht?«

»Was?«

»Rosie hat erzählt, daß Sie auf dem Weg zur Küste ein Frühstückspicknick eingelegt haben. Ich würde gerne wissen, welchen Weg Sie gefahren sind und wo …«

Er brach ab, nicht, weil Purlingstone wütend war, sondern weil dessen Ärger sichtbar verebbte und einer Art traurigem Mitleid wich.

Er denkt, ich hab sie nicht mehr alle, dachte Pascoe. Er denkt, ich bin jetzt vollkommen durchgeknallt.

Vielleicht wäre es klug gewesen, diesen falschen Eindruck zu nutzen, um sowohl Mitleid als auch Auskunft zu erschleichen, doch dazu war Pascoe nicht imstande. Was er wegen seiner kranken Tochter empfand, war seine Angelegenheit und niemandem außer Ellie mitteilbar und ganz sicher nicht dazu angetan, um in einer Situation wie dieser einen Vorteil zu erringen.

Scharf sagte er: »Nun kommen Sie, das ist eine einfache Frage. Wo haben Sie Rast gemacht?«

»An der Straße zum Moor rauf, hinter Danby«, antwortete Purlingstone. »Ich nehme lieber diesen Weg zur Küste. Das ist zwar ein bißchen weiter, aber man kann einer Menge Verkehr ausweichen. Hören Sie, worum geht es hier eigentlich? Ich kann nicht glauben, daß Sie als Polizist hier sind … aber so ist es, oder? Himmel noch mal, was sind Sie nur für ein unsensibles Arschloch, Pascoe.«

Kein Mitleid mehr, nur Empörung.

»Nein, eigentlich nicht, na ja, irgendwie schon …«, bemühte sich Pascoe stammelnd um eine Erklärung, damit sie nicht wieder in Streit gerieten. Doch Purlingstones Gesichtsausdruck verriet ihm, daß er weder in der einen noch in der anderen Sache viel Erfolg hatte.

»Es ist nur so, daß Rosie dieses Kreuz verloren hat, na ja, es war gar kein richtiges Kreuz, nur einer von Ellies Ohrringen, der aussieht wie ein Dolch, und meine Kollegin hat ihn in einem Abfalleimer gefunden, und ich habe mich gefragt, wie … Es war ihrer, verstehen Sie, ich habe es nachgeprüft … Ich meine, es ist wahrscheinlich nur Zufall, aber …«

Im Raum hinter Purlingstone klingelte ein Telefon. Das Klingeln hörte auf, und gleich darauf trat eine junge Frau zu ihnen.

»Derek«, sagte sie in dringlichem Tonfall.

»Was ist?«

»Entschuldige, aber es ist das Krankenhaus. Sie fragen, ob Sie wohl sofort hinfahren könnten.«

»O Gott.«

Die zwei Männer sahen einander voller Verzweiflung an, und jeder hoffte, der andere könnte die plötzlich aufwallende Panik beschwichtigen. Pascoe dachte daran, daß sie vielleicht versuchten, ihn zu Hause zu erreichen, und er war nicht da, und sein Handy hatte er abgeschaltet …

Er sagte: »Können Sie mich mitnehmen? Bitte.«

»Kommen Sie.«

Ohne auf den Fahrstuhl zu achten, liefen die beiden Männer die Treppe hinunter.

Sie hätten vom Wagen aus anrufen können, unterließen es aber. Der Schmerz der Ungewißheit kann enden. Der Schmerz des Wissens dauert bis in alle Ewigkeit. Als sie ins Wartezimmer kamen und die beiden Frauen eng umschlungen dasitzen sahen, wußten sie, daß es sehr schlimm stand. Als Jill ihren Mann sah, machte sie sich los und stürzte in seine Arme.

»Was ist passiert?« fragte Pascoe und ging zu Ellie.

»Was genau, weiß ich auch nicht, aber es hört sich nicht gut an«, erwiderte Ellie mit gedämpfter Stimme.

»Ach, verdammt, und es sah schon so gut aus. Ich hätte niemals gehen dürfen …«

»Es ist nicht Rosie«, zischte Ellie ihm ins Ohr. »Ihr geht es gut. Es ist Zandra.«

Einen Augenblick lang war seine Erleichterung so groß, daß er laut hätte auflachen mögen. Dann fiel sein Blick auf das andere Paar, das sich so fest umklammert hielt, als wollte es alles Gefühl zerquetschen, zerstören, und er schämte sich über seine Freude.

»Soll ich hingehen und versuchen, etwas herauszubekommen?« fragte er Ellie ebenso leise.

»Nein. Sie sagten, sie würden Jill Bescheid geben, sobald es etwas Neues gibt.«

Die Tür ging auf, und Mrs. Curtis, die Kinderärztin, kam ins Zimmer. Sie ignorierte die Pascoes und ging geradewegs auf die Purlingstones zu, die voneinander abließen wie ein schuldbewußtes heimliches Liebespaar. Nur ihre Fingerspitzen blieben in Kontakt.

»Bitte«, sagte die Ärztin. »Können wir uns setzen?«

»O Gott«, stöhnte Ellie tonlos, denn in der Stimme der Ärztin hörte sie den Tod.

Pascoe nahm ihren Arm und führte ihren willenlosen Körper hinaus auf den Korridor.

Dort sah Ellie flehentlich zu ihm auf, als hoffte sie, ihre Ahnung in seinem Gesicht widerlegt zu sehen. Doch vergeblich. Aus dem Krankenzimmer drang Todesstille, und der Gesichtsausdruck zweier vorübereilenden Schwestern bestätigte, was sie bereits gespürt hatten.

Ellie wandte sich wieder zur Tür, doch Pascoe hielt sie am Arm fest.

»Jill braucht mich«, sagte sie entschlossen.

»Nein«, entgegnete er. »Wir sind die letzten Menschen auf dieser Welt, die sie jetzt sehen wollen.«

Aus dem Wartezimmer schrie eine Stimme, männlich oder weiblich, das war nicht zu erkennen: »Warum?«

Es war ein ganz allgemeiner Schmerzensschrei über einen Verlust, doch enthielt er die konkrete Frage: Warum mein Kind? Warum nicht das von jemand anderem?

Ellie hörte den Schrei, hörte auch seine Bedeutung heraus und unterließ ihre Bemühungen, sich losreißen zu wollen.

»Gehen wir rein und sehen nach Rosie«, sagte Pascoe.

Im Krankenzimmer fanden sie die diensthabende Schwester in heller Aufregung.

»Sie hat gerade die Augen aufgemacht. Ich glaube, sie wacht allmählich auf«, sagte sie. »Ich habe mit ihr geredet, aber sie wird Ihre Stimmen hören wollen.«

Sie stellten sich rechts und links neben das Bett und beugten sich über die schmale, reglose Gestalt. Ellie wollte sprechen, doch eine Vielzahl unterschiedlichster Gefühle schnürte ihr die Kehle zu.

Pascoe sagte: »Rosie, Liebes. Na, komm. Hier ist Daddy. Zeit aufzuwachen. Komm schon, wach auf.«

In seiner düsteren Höhle rührt sich der Nix. Er rennt nicht mehr um den Teich herum, sondern läuft mitten hindurch und platscht durch das schwarze Wasser, so daß es neben ihm hochspritzt wie das Wasser in dem Becken auf der Kirmes, wo die Achterbahn immer durchfährt.

Überrascht lassen Rosie und ihre Freundin einander los und fliehen, die eine nach links, die andere nach rechts. Die Luft ist voller Lärm, vom tierischen Gebrüll des Nix, vom ultrahohen Piepsen der Fledermaus, von den Schreien zweier Mädchen – und noch etwas ist zu hören, die Stimme ihres Vaters, die Rosie beim Namen ruft.

Inzwischen ist sie um den Teich herum bis zur Öffnung des Gangs nach draußen gelaufen. Hier ist die Stimme noch deutlicher zu hören. Sie blickt zum helleren Licht hinauf und sieht sich dann um, wo der Nix geblieben ist.

Der steht wieder am gegenüberliegenden Ufer des Teichs, über dem anderen Mädchen, das zu Boden gefallen ist.

Die Haare hängen dem Mädchen ins Gesicht, so daß Rosie nur seine Augen sehen kann, die von Nina oder Zandra oder einem ganz anderen Mädchen sein könnten und die sie so angsterfüllt anstarren, so flehend, daß sie einen Moment zögert.

Dann ertönt wieder die Stimme ihres Vaters. Komm schon, Rosie, Zeit aufzuwachen!

Und sie kehrt der Höhle und dem Teich und der dunklen Welt des Nix den Rücken und rennt durch den Gang hinauf ins Licht.