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Shirley Novello war keine geborene Lügnerin. In ihrer Kindheit war ihr sowohl von elterlicher als auch religiöser Seite der Vorrang von Wahrheit eingebleut worden.
Ihre Eltern hatten ihr alles geglaubt, was sie ihnen erzählte, oder zumindest hatten sie so getan. Zunächst hatte ihr das Spaß gemacht. Man konnte sein Eis essen und dann behaupten, man sei gestolpert und habe es fallen lassen, und dann bekam man Geld für ein neues. Oder man konnte seinen kleinen Bruder beschuldigen, daß er kaputtgemacht habe, was man selbst zerbrochen hatte, und sich hinsetzen und zusehen, wie er die Tracht Prügel bekam. Es war leicht erschienen, dies mit der Forderung nach absoluter Wahrheit in der Beichte zu vereinbaren, die sie uneingeschränkt akzeptierte. Was hatte man auch davon, Gott – der alles wußte – anzulügen, vor allem, wenn man durch die Beichte all der Lügen die Absolution dafür bekam?
Dann aber hatte der Pfarrer eines Tages nach der Beichte gefragt: »Warum sagen wir Gott die Wahrheit, Shirley?« Und sie hatte geantwortet: »Weil Er wüßte, wenn wir lügen.« Und er hatte erwidert: »Nein, das ist nicht der Grund. Wir sagen die Wahrheit, weil es denen, die uns lieben, Schmerzen bereitet, wenn sie merken, daß wir lügen.«
Das war alles. Aber sie wußte, daß er ihre Mum und ihren Dad meinte. Und dann war Schluß mit dem Lügen.
Außer natürlich, wenn es absolut notwendig war. Als Heranwachsende hatte sie gelernt, daß Wahrheit nicht immer das beste war – eine Lektion, die im Verlauf ihrer Arbeit bei der Kriminalpolizei nur bestätigt worden war. Viel zuviel Zeit wurde damit vergeudet, den Zweck zu ergründen und zu rechtfertigen, der die Mittel heiligen sollte.
Und mit den Kollegen war es beinahe dasselbe wie mit den Kriminellen.
»Verstehe ich das richtig?« fragte Inspector Headingley. »Der Chief Inspector hat Sie abgestellt, um Geordie Turnbull zu beobachten?«
»Ja, Sir.«
Als sie sich in Danby meldete, um Bericht zu erstatten, war sie gleichzeitig froh und betrübt gewesen, Headingley als verantwortlichen Leiter der Einsatzzentrale vorzufinden. Er war zwar der letzte Mensch in ihrem Dezernat, der ihr das Herumschnüffeln auf eigene Faust erlauben würde, doch war er auch der letzte, der die vorgebliche Erlaubnis eines Vorgesetzten anzweifelte.
»Sie haben ja recht viel Kontakt zu Mr. Pascoe«, bemerkte er nur.
»Der Superintendent ließ mich eine seiner Spuren verfolgen, und da es im Krankenhaus mittlerweile ein wenig besser aussieht, kümmert er sich darum, daß ich alles richtig mache, Sir.«
Headingley nickte anerkennend. Das konnte er gut verstehen.
Selbst in Augenblicken großer persönlicher Misere tat jeder Polizist, der etwas auf sich hielt, gut daran, eine flatterhafte Kollegin im Auge zu behalten, die ihre lackierten Fingernägel in seinen … Hier verlor sich seine Metapher, aber er wußte, was er meinte.
»Na gut«, entgegnete er. »Ich werde es eintragen, ›auf Anweisung vom Chief Inspector‹. Aber vertrödeln Sie dort nicht den ganzen Tag.«
Den ganzen Tag würde sie aber vermutlich brauchen, wenn das so weiterging, und mit jeder verstreichenden Minute wurde wahrscheinlicher, daß sie alles beichten mußte – bestenfalls Wield, schlimmstenfalls dem Dicken.
Was hinter ihrer angeblichen »Anweisung« wirklich stand, war, daß Pascoe ihr zugehört, oder zumindest halb zugehört hatte, wie sie mittels der Lupe Geordie Turnbulls Gesicht hinter dem Steuer des Bulldozers hatte ausmachen können, der Neb Cottage plattwalzte. »Na und?« hatte er darauf gefragt.
Eine gute Frage, doch sie hatte gehofft, daß er sie beantworten würde.
Da mußte sie wohl mit ihrer Theorie herausrücken.
»Na ja, Benny hätte ihn bestimmt wiedererkannt, oder? Ich meine, er war den ganzen Sommer über im Tal gewesen. Und nehmen wir mal an, der Grund für Bennys Rückkehr war, daß er seinen Namen reinwaschen … ja, das könnte es sein. Benny ist unschuldig und versucht herauszufinden, wer es wirklich war, und ihm fällt ein, daß Turnbull damals schon unter Verdacht stand, und jetzt sieht er in den Zeitungen, daß er schon wieder … Dann entdeckt er ihn auf dem Foto, und der Firmenname steht auf dem Bulldozer, der alte Name, meine ich, Tiplake. Also geht Benny das Firmenverzeichnis in der Bibliothek durch und findet die Adresse, nur daß jetzt Turnbull die Firma leitet …«
»Und geht heute morgen hin und versucht, die Wahrheit aus Geordie rauszuprügeln?« beendete Pascoe ihre Überlegungen. Wenigstens brüllte er nicht vor Lachen. Ihm war in seiner momentanen Situation das Lachen zwar ohnehin vergangen, doch auch unter anderen Umständen hätte er ihre Theorie wohl niemals offen ins Lächerliche gezogen. Aber nicht einmal sein ernsthafter Gesichtsausdruck und Tonfall konnten die Tatsache verbergen, daß er ihre Theorie für lächerlich hielt.
»Es wäre möglich«, verteidigte sie sich.
»Wenn er gelesen hat, was diese Woche über Turnbull in den Lokalzeitungen stand, warum sollte er dann irgendwelche Firmenverzeichnisse durchstöbern?« fragte Pascoe. »Es stand alles über ihn drin, auch die Adresse.«
Selbst mit seinen Gedanken halb im Krankenhaus, entdeckt er die riesigen Lücken in meiner Theorie, dachte Novello bitter.
»Nein, Sir«, sagte sie und bemühte sich, nicht wie ein schmollendes Kind zu klingen.
»Und was wäre Ihrer Meinung nach dann der nächste Schritt?« erkundigte sich Pascoe höflich.
Sie waren am Gebäude der Wassergesellschaft angekommen, und sie hielt den Wagen vor dem Haupteingang an.
»Na ja, ich hatte gedacht, daß man Turnbull vielleicht überwachen könnte«, erwiderte sie in Ermangelung einer besseren Idee.
»Für den Fall, daß Lightfoot zurückkommt und ausprobiert, was er mit einer zweiten Schlägerei erreicht?«
Diesmal gelang ihm ein schwaches Lächeln, und mit großer Anstrengung erwiderte sie es.
»Tja, nun, wenn ich jetzt so drüber nachdenke, scheint das ziemlich unwahrscheinlich, selbst wenn ich richtig geraten habe, was aber noch unwahrscheinlicher zu sein scheint.«
Er öffnete die Wagentür.
»Warum tun Sie’s dann nicht?« meinte er.
»Bitte?«
»Geordie überwachen.«
»Aber Sie sagten doch … Ich dachte, Sie hätten gesagt …« Der Moment der Wahrheit war gekommen, denn es blieb keine Zeit mehr für zahmes Herumschleichen. »Ich dachte, Sie sagten, nicht unbedingt wörtlich, aber dem Sinn nach, daß es eine ziemlich blöde Idee ist.«
Er stieg aus, warf die Tür zu und lehnte sich durch das geöffnete Fenster.
»Nein«, entgegnete er freundlich. »Wenn ich etwas in der Richtung gesagt habe, dann nur, weil Ihre Gründe dafür so … abwegig erscheinen. Aber das Herz hat seine eigenen Gründe, von denen der Verstand nichts weiß. Ich zum Beispiel habe nur eine schwache Ahnung, was ich hier eigentlich mache, aber hier bin ich. Es könnte allerdings sinnvoll sein, daß Sie sich während Ihrer Überwachung einen besseren Grund ausdenken als den, den Sie mir genannt haben. Ich würde mich jedoch nicht auf einen französischen Philosophen berufen. Mr. Dalziel ist mehr ein Nietzsche-Mann. Kann ich mir Ihre ›Post‹ borgen?«
Er fischte die Zeitung vom Rücksitz, brachte wieder sein schwaches Lächeln zustande und ging davon.
Sie starrte ihm ohne großes Dankbarkeitsgefühl nach. Dieser ganze Mist über die Gründe des Herzens! Dieser clevere Kerl hatte ein paar clevere Theorien in seinem Schädel, die er aus Zeit- oder sonstigen Gründen nicht an sie verschwenden wollte. Oder eher noch würde er wohl sagen, daß es ein Teil des Lernprozesses sei, daß sie sich die Dinge selbst zusammenreimt. Für wen zum Henker hielt der sich eigentlich? Sokrates?
Aber hier saß sie nun in ihrem Wagen, der in Sichtweite von Turnbulls Bungalow abgestellt war, und überlegte sich Gründe für ihre Anwesenheit, einen noch hirnrissiger als den anderen.
Turnbull war zu Hause. Durch ihr Fernglas hatte sie ihn in seiner Wohnung herumwandern sehen. Novello war am frühen Nachmittag angekommen, also wußte sie nicht, ob er am Vormittag außer Haus gewesen war. Jedenfalls stand nur noch ein Bagger auf dem Grundstück, was bedeutete, daß alle anderen irgendwo im Einsatz waren. Vielleicht war Geordie nach dem Angriff nicht danach, selbst rauszufahren.
Zum Glück war Novello so schlau gewesen, ein belegtes Sandwich und eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank der Einsatzzentrale mitzunehmen. Dennoch hatte sie nach der langen Zeit in der Hitze das Gefühl, daß sie noch vor Ende des Tages verbrannt, vertrocknet und verhungert sein würde. Und noch immer geschah nichts. Das Gute an diesem Nichts war zumindest, daß niemand sie nach den Gründen für ihren Aufenthalt fragte. Das Schlechte war, daß Novello, nachdem sie eine Stunde lang nichts mehr von Turnbull gesehen hatte, allmählich befürchtete, daß er irgendwie zur Hintertür hinausgeschlüpft und über die Felder weggeschlichen war. War da eine Hintertür in der Umzäunung gewesen? Sie versuchte, sich zu erinnern, wußte es aber nicht mehr.
Vielleicht sollte sie einen Spaziergang machen. Selbst wenn er sie entdecken sollte – er hatte sie ja erst einmal gesehen und würde sich bestimmt nicht mehr an sie erinnern, oder?
Nein, da machte sie sich etwas vor. Sie dachte an Turnbulls schamlos anerkennenden Blick, der einer Frau eher schmeichelte als sie beleidigte, was zum Teil wohl daran lag, daß man sich als Individuum wahrgenommen fühlte und nicht als Trägerin von Titten und Muschi. Wenn Geordie Turnbull sich einmal ein Gesicht gemerkt hatte, konnte man wohl wetten, daß er es nicht mehr vergaß.
Doch gerade als sie abwägte, ob professionelle Dringlichkeit oder persönliches Vergnügen einen Spaziergang notwendig machten, geschah etwas.
Ein Transporter bog in das Grundstück ein. Ein schwabbelig dicker Mann stieg aus und setzte sich keuchend vor Anstrengung auf das Trittbrett. Er trug Fußball-Shorts und ein Netzhemd, durch dessen rautenförmige Maschen rote Haut schimmerte. Schließlich hatte er sich weit genug erholt, daß er aufstehen, eine Plastiktüte aus dem Fahrerhäuschen nehmen und zum Bungalow gehen konnte, dessen Tür sich prompt öffnete. Er ging ins Haus. Zwanzig Minuten später kam er wieder heraus, ohne die Tüte, dafür mit einer Dose Bier in der Hand. Novello beobachtete voller Neid, wie er die letzten Tropfen in den Mund schüttete und Turnbull die leere Dose gab, der sie hinter sich auf den Boden warf. Dann hievten die beiden Männer eine riesige Schaufel auf den Transporter, zurrten sie fest und schüttelten einander die Hand. Turnbull blickte dem Fahrzeug nach, wie es sich von seinem Grundstück entfernte, und kehrte in seinen Bungalow zurück.
Novello notierte sich die Nummer des Transporters, funkte die Hauptzentrale an und bat um eine Überprüfung. Das Fahrzeug war auf die Firma Kellaway Plant Sales zugelassen, Inhaber: Liberace Kellaway. Novello gab den geschätzten Aufenthaltsort des Fahrzeugs durch und erkundigte sich, ob es wohl im Rahmen einer Polizeikontrolle angehalten werden könne, vorgeblich wegen einer Überprüfung der Stabilität oder ähnlichem, tatsächlich jedoch, um soviel wie möglich über die Herkunft der Schaufel in Erfahrung zu bringen. Als der diensthabende Sergeant der Hauptzentrale sich erkundigte, wer den überaus eingespannten Streifenpolizisten die Zeit stehlen wolle, und durchklingen ließ, daß es besser kein so geringer Dienstgrad wie ein Constable sein sollte, dachte Novello an Schafe und Lämmer und sagte: »Mr. Dalziel wäre dafür sehr dankbar.«
In Mid-Yorkshire Polizeikreisen war dies mit einem königlichen Befehl gleichzusetzen, und bereits eine halbe Stunde später erhielt Novello Antwort. Der Transporter, an dessen Steuer Mr. Kellaway persönlich saß, hatte alle Tests zufriedenstellend bestanden. Was die Schaufel betraf, so war sie gerade dem Abrißunternehmen von G. Turnbull in Bixford abgekauft worden, und der Fahrer hatte die entsprechenden Papiere vorweisen können.
Novello murmelte ihren Dank und bat darum, daß diese Sache nicht weiter über Funk erwähnt werden solle, in der Hoffnung, dadurch den Zeitpunkt hinauszuschieben, an dem der Dicke entdeckte, daß sein Name mißbraucht worden war.
Dann richtete sie sich erneut aufs Warten ein – immer noch hungrig, immer noch schwitzend, doch erfrischt durch das Gefühl der Hoffnung, das sie überkam, als sie allmählich ahnte, was dieser Schlaumeier Pascoe sich vermutlich schon vor einigen Stunden zurechtgelegt hatte.