172323.fb2
Tatsächlich war es so, daß Shirley Novello den Chief Inspector über- und Dalziel unterschätzte.
Pascoe hatte zwar so etwas wie die Umrisse einer Skizze zu einer Vorzeichnung eines möglichen Bildes gesehen, als er ihr riet, ihrem Herzen zu folgen, aber auch nicht mehr, und in den Stunden seither hatte er wenig Muße oder Antrieb gehabt, kühnere Linien und feinere Schattierungen auszuarbeiten.
Rosies Erwachen löste sowohl große Freude als auch durchdringenden Schmerz aus. Sie hatte ihre Augen geöffnet und ihre Eltern sofort erkannt. Zunächst schien es sie gar nicht zu interessieren, wo sie war, denn sie plapperte munter drauflos in ihrer wohlbekannten Manier, alles auf einmal erzählen zu wollen, von Höhlen und Teichen und Gängen und Fledermäusen und Nixen.
Dann hielt sie plötzlich inne und fragte: »Wo ist Zandra? Ist Zandra auch wieder da?«
Da kam der Schmerz. Der Schmerz über den Verlust, den sie gleich erleiden würde. Und der unendlich größere Schmerz über Derek und Jill Purlingstones Verlust, den Pascoe nachempfinden konnte, weil sein Herz und seine Vorstellungskraft ihm gezeigt hatten, wie er sich gefühlt hätte, hätte es Rosie getroffen. Und zu diesem Schmerz gesellten sich Schuldgefühle, als er merkte, daß er dem Gott, an den er nicht glaubte, dafür dankte, daß es Rosie nicht getroffen hatte.
»Das war keine Entscheidung, Peter«, sagte Ellie eindringlich, als er es ihr gestand. »Es gab keinen Moment, an dem irgend jemand oder irgend etwas entschieden hat: wir nehmen diese und lassen die andere gehen.«
»Nein«, erwiderte Pascoe. »Aber wenn es eine Entscheidung gewesen wäre und wenn ich sie hätte treffen müssen, dann hätte ich so entschieden, ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken.«
»Und deshalb fühlst du dich schuldig?« meinte Ellie. »Wenn du eine Sekunde hättest nachdenken müssen – das wäre ein Grund, sich schuldig zu fühlen.«
Rosie war bald wieder eingeschlafen, so als wäre die Gesundung ebenso anstrengend wie die Krankheit selbst, aber jetzt war ihre Erholung erkennbar die des Schlafes, mit all den kleinen Seufzern und Grimassen und Lagewechseln, die ihren Eltern so vertraut waren.
Sie saßen Hand in Hand neben dem Bett, manchmal leise flüsternd, manchmal schweigend, voll schöner Erinnerungen an vergangene und voll freudiger Erwartung auf kommende Zeiten; doch immer, wenn das Schweigen zu lang andauerte, sahen sie einander irgendwann an und merkten, daß sie beide an jenen anderen Ort im Krankenhaus dachten, wo eine andere kleine Gestalt lag und wo die anderen Eltern in einem Schweigen verharrten, das so tief und undurchdringlich war wie das Schweigen auf dem Grund eines Ozeans.
Andy Dalziel hatte bereits vor einiger Zeit die Einsatzgebiete seiner Leute überprüft und wissen wollen: »Was treibt eigentlich Seymour?«
Wield, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, in kürzester Zeit nachträglich herauszufinden, was er nicht im voraus in Erfahrung bringen konnte, antwortete: »Der ist im ›Wark House‹ für den Fall, daß Lightfoot dort wieder auftaucht.«
»Ach ja? Ich dachte, das wäre Ivors Aufgabe.«
»Nein. Es war ihre Idee, Seymour hinzuschicken.«
»Ihre Idee?« wiederholte Dalziel und sagte es so, daß es wie ein Oxymoron klang. »Und was macht sie, bitte schön?«
»Sie beobachtet Turnbull.«
»Und wessen Idee war das?«
»Sie sagt, die vom Chief Inspector.«
»Sagt sie! Was bedeutet, daß sie es auf eigene Faust tut, wie ich annehme. Guter Gott, Wieldy, man muß auf diese Frauen aufpassen! Gib ihnen den kleinen Finger, und sie nageln deine Eier fest.«
»Soll ich sie anfunken?«
»Nee. Lassen Sie man. Im Moment gibt’s hier sowieso nix für sie, und wenn sie was rauskriegt, ist sie der Held.«
»Und wenn nicht?« fragte Wield.
»Dann wird sie bald bereuen, je einer Hebamme den Schlaf geraubt zu haben«, erwiderte Dalziel finster.
Der Superintendent hatte schlechte Laune. Bislang waren die neuen Spuren, die er nach dem Fund der Leiche erwartet hatte, noch nicht sichtbar. Die Obduktion hatte den ersten Befund bestätigt: Tod durch Schädelbruch, hervorgerufen entweder durch den Schlag eines unregelmäßig geformten Gegenstandes, vermutlich einem Felsstein, oder durch schweren Sturz auf denselben. Kein sexuelles Vergehen. Die forensische Untersuchung der Kleidung hatte noch nichts ergeben. Tatsächlich waren die einzigen Gelegenheiten, in denen Dalziel irgendeine seiner zahlreichen Fähigkeiten unter Beweis stellen konnte, die gewesen, daß er zunächst vom Chief Constable und dann von der Presse gezwungen wurde zu erklären, wie bei der umfangreichen und teuren Durchsuchung desselben Geländes die Leiche des Kindes hatte übersehen werden können.
Chief Constable Dan Trimble hatte sich relativ leicht abspeisen lassen. Trotz gelegentlicher Schwierigkeiten hegten sie viel Respekt voreinander, was bedeutete, daß Trimble Dalziels Methoden als effektiv und Dalziel Trimble als Rückendeckung akzeptierte – soweit das möglich war. Außerdem gefiel Dan, daß Dalziel sich nicht bemühte, die Verantwortung auf Maggie Burroughs oder einen anderen der eingesetzten Polizeibeamten abzuwälzen. »Tote Schafe wegzuschieben und die Gegend drumherum besonders genau zu untersuchen war mein Job«, sagte der Dicke. »Und den hab ich vergeigt.« Und dabei kam ihm der Gedanke, ob er diesen Job nicht auch vor fünfzehn Jahren vergeigt haben könnte. Wenn es derselbe Mörder war, warum hätte er sich anstrengen sollen, neue Tricks zu lernen?
Auf der Pressekonferenz, die am späten Nachmittag in einem Klassenzimmer der St. Michael’s School einberufen wurde, schossen die Damen und Herren von der Presse schon mit anderem Kaliber. Die Lokaljournalisten, die wußten, daß es auf lange Sicht gesehen die bessere Taktik war, sich mit Dalziel gut zu stellen, hielten sich zurück, doch das überregionale Rudel war frei von solcherlei Vorbehalten. Nachdem sie das Thema polizeiliche Inkompetenz bis zum äußersten ausgereizt hatten, stürzten sie sich auf ihr zweites Opfer, die Dendale-Connection. Dieses Gemetzel wurde von zwei Seiten geführt – die Sensationsblätter wollten ihren Lesern unter die Nase reiben, daß derselbe Mörder sein blutiges Handwerk wieder aufgenommen hatte (was bedeutete, daß dieselben Leser sich erneut mit der polizeilichen Inkompetenz von vor fünfzehn Jahren konfrontiert sahen), während der Rest die These vertrat, daß die beiden Fälle vermutlich nicht miteinander in Verbindung standen, Dalziel aber durch seine Vorbelastung durch Dendale die derzeitige Untersuchung erschwerte.
Der Dicke verkniff sich das Wort »Schwachsinn!« und sagte: »Nein, wir halten den Kopf für jede Möglichkeit offen und wünschen uns, daß Sie das ebenfalls tun.« … Und falls nötig, helfe ich mit einer Axt nach, fügte er in Gedanken hinzu.
Ein schleimiger Kerl von einer der berühmt-berüchtigten Sonntagszeitungen sagte: »Ich nehme an, daß Sie infolge dieser Offenheit noch immer eine Tauchmannschaft den Stausee absuchen lassen?«
Verdammt! dachte Dalziel. Heute war so viel passiert, daß er vergessen hatte, die Meerjungfrauen zurückzupfeifen.
»Nach dem Fund der Leiche des Mädchens«, erwiderte er gewichtig, »durchsuchen wir das ganze Gebiet natürlich erneut nach Spuren des Täters.«
»Denken Sie, er ist davongeschwommen?« rief jemand, und alles lachte.
»Wasser ist für bestimmte Dinge ein gutes Versteck«, entgegnete Dalziel ungerührt.
»Wie eine Mordwaffe, meinen Sie?« rief der Mistkerl. »Die in diesem Fall wahrscheinlich ein Stein gewesen ist, wenn ich das recht verstanden habe? Sie meinen, Sie lassen von einem ganzen Tauchteam den Grund eines Stausees in einem Tal in Yorkshire nach einem Stein absuchen? Sagen Sie, Superintendent, haben die denn schon einen gefunden?«
Mehr Gelächter. Die Sache geriet außer Kontrolle.
Dalziel wartete auf Ruhe und sagte dann: »Wie ich sehe, sind die ernsthaften Fragen beantwortet, also werd ich wieder an die Arbeit gehn. Ich muß Sie bestimmt nicht daran erinnern, daß da draußen Menschen leiden und Menschen Angst haben, und das letzte, was diese Menschen jetzt brauchen, ist Sensationsmache oder das Herunterspielen der Angelegenheit.«
Er ließ seinen Blick langsam über die versammelten Gesichter schweifen, als wollte er sich jedes einzelne ins Gedächtnis prägen, und fuhr fort:
»Hier oben beurteilen wir die Leute nicht nur danach, wie sie das Gesetz einhalten, sondern auch, wie sie miteinander umgehen. Und auf Einmischung und Belästigung reagieren wir nicht unbedingt freundlich. Also denken Sie nach.«
Er erhob sich, ungeachtet der Versuche, die Befragung fortzuführen, und ging hinaus.
»Sie waren gut«, sagte Wield.
»Ich war beschissen«, sagte Dalziel gleichgültig. »Wieldy, funken Sie die Taucher an und sagen Sie ihnen, sie sollen sich abtrocknen.«
Der Sergeant verschwand und kehrte nach wenigen Minuten zurück. Soweit man das seinen zerfurchten Gesichtszügen ablesen konnte, sah er unglücklich aus.
»Alles klar?« fragte Dalziel.
»Nicht unbedingt«, erwiderte Wield. »Als ich durchkam, waren sie gerade dabei, uns anzufunken, Sir. Sie haben Knochen gefunden.«
»Was? Sie meinen Menschenknochen?«
»Genau. Menschenknochen.«
»Na toll«, sagte Dalziel und sah aus dem Fenster auf den unendlich blauen Himmel. »Wie mein alter Dad immer sagte: ›Ein Unglück kommt verdammt selten allein!‹«