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Um fünf Uhr verließ Geordie Turnbull das Haus.
Einem natürlichen Bedürfnis folgend, war Novello auf der Suche nach einem abgeschiedenen Plätzchen aus ihrem Wagen ausgestiegen. Ihr Erkundungsgang brachte sie zu einem kleinen Gebüsch auf einem Feld gegenüber Turnbulls Grundstück, von dem aus sie – nachdem sie sich Erleichterung verschafft hatte – eine gute Sicht quer durch das Wohnzimmer des Bungalows hatte, vom offenen Fenster bis zur geöffneten Terrassentür.
Turnbull saß zusammengesunken in einem Lehnstuhl und nippte hin und wieder an einem Glas. Dann richtete er sich plötzlich auf und griff zum Telefonhörer.
Da er selbst keine Tasten drückte, mußte er angerufen worden sein. Das Gespräch dauerte nicht lange. Turnbull legte den Hörer auf, leerte sein Glas, erhob sich und verschwand aus Novellos Sichtfeld.
Sie kehrte augenblicklich zu ihrem Wagen zurück.
Ihr Instinkt erwies sich als richtig. Eine Minute später trat Turnbull aus dem Bungalow. In der Hand hielt er eine Tasche. Er stieg in den Volvo und verließ das Grundstück in Richtung Osten. Es war eine relativ leere Landstraße, und Novello konnte großen Abstand halten. Sechs oder sieben Meilen hinter Bixford jedoch führte die Straße auf die vielbefahrene vierspurige Schnellstraße Richtung Küste, und Novello mußte beschleunigen, um ihn nicht zu verlieren.
Einige Meilen weiter setzte er den Blinker und bog in eine Tankstelle ab. Novello dachte, er wolle tanken, doch er fuhr auf den Parkplatz, stieg aus und steuerte mit der Tüte in der Hand auf die Cafeteria zu.
Novello folgte ihm. Sie wartete, bis sich einige Leute hinter ihm angestellt hatten, und trat dann ebenfalls in die Reihe. Er kaufte ein Kännchen Tee und trug das Tablett zu einem Fenstertisch mit Blick auf die Straße. Er setzte sich so, daß er die Eingangstür im Auge behalten konnte.
Novello holte sich einen Kaffee und fand einige Tische weiter hinten einen freien Platz. Jemand hatte seine Zeitung liegenlassen. Sie schlug sie auf und versteckte ihr Gesicht zur Hälfte. Falls Turnbull sich umblickte und sie an der oberen Gesichtshälfte erkannte – Pech!
Er wartete auf jemanden, daran bestand kein Zweifel. Das Einschenken und Trinken verrichtete er mit der linken Hand, während die rechte den Griff der Ledertasche umklammert hielt, die neben ihm auf dem Stuhl lag. Sein Blick blieb immer auf die Tür gerichtet.
Auf diese Weise vergingen zwanzig Minuten. Menschen kamen, aßen und gingen. Ein Kellner wollte Novellos leeren Becher abräumen, doch sie hielt ihn fest. Sie hatte die Seiten ihrer Zeitung mehrere Male durchgeblättert, ohne auch nur ein Wort zu lesen oder zu wissen, welche Zeitung sie überhaupt in der Hand hielt. Turnbull seinerseits hatte die letzten Tropfen aus dem Kännchen geschüttet. Die Zeit verging. Was auch immer der Grund für sein Kommen gewesen war, er wollte die Fahrt offenbar nicht umsonst gemacht haben.
Dann schließlich erstarrte er. Nicht, daß er sich vorher viel bewegt hätte, aber jetzt saß er so reglos, daß selbst das Mobiliar lebendiger schien als er.
Novello blickte zur Tür.
Sie erkannte ihn sofort von Wields aktualisiertem Foto.
Gerade hatte Benny Lightfoot die Cafeteria betreten.
Andy Dalziel stand am Rand des Stausees, in der Nähe des Steinhaufens, der einmal der Heck-Hof gewesen war. Auf dem vertrockneten Schlamm zu seinen Füßen lagen einige Knochen. Er stupste sie mit dem Fuß.
»Speiche, Elle, und das hier könnten Handwurzelknochen sein, aber da sie so klein sind, haben sie natürlich mehr gelitten als die anderen«, sagte die erste Meerjungfrau, die mit richtigem Namen Sergeant Tom Perriman hieß.
»Alter? Geschlecht? Wie lange liegen die schon hier?« fragte Dalziel kurz angebunden.
Perriman zuckte seine breiten, gummibedeckten Schultern.
»Wir haben sie grad erst rausgezogen«, entgegnete er. »Ein Erwachsener, würd ich sagen, oder mindestens Jugendlicher.«
»Und der Rest?«
»Wir suchen noch«, sagte Perriman. »Eigentlich komisch. An dieser Stelle ist kaum eine Strömung. Man sollte meinen, daß die Knochen zusammen bleiben, selbst nach langer Zeit. Purer Zufall, daß ich sie gefunden hab. Wir wollten eigentlich gar nicht hier suchen, wo es so flach ist …«
»Wo genau?« wollte Dalziel wissen.
»Genau hier«, sagte Perriman, verärgert über die Unterbrechung.
Er deutete auf das seichte Wasser neben dem trockengelegten Steinhaufen und fuhr fort: »Ich kam grade raus und stellte mich hin, um die letzten paar Meter zu gehen, und spürte plötzlich etwas unter meinem Fuß. Natürlich wäre die Stelle hier ohne die Dürrezeit viel tiefer gewesen. Aber wo ist der Rest, das möchte ich wirklich wissen.«
»Vielleicht ist da nicht mehr«, schlug Wield vor.
»Was? Jemand hat einen Arm abgeschnitten und ihn in den See geschmissen?« meinte Dalziel. »Das bedeutet aber immer noch, daß der Rest irgendwo liegen muß, es sei denn, jemand hat ein bißchen Aufruhr provoziert, als er mit vollzähligen Armen spazierenging und mit nur der Hälfte wieder zurückkam.«
»Es gibt schon ein paar ziemlich verschwiegene Typen hier in Mid-Yorkshire, Sir. Jedenfalls hat das Ganze höchstwahrscheinlich nichts mit unserem Fall zu tun.«
»Ach ja? Und was schlagen Sie vor, Wieldy? Daß wir die Knochen zurückschmeißen, und wenn irgend jemand fragt, sagen, daß sie verlorengingen? Selbst wenn es nicht zu unserem Fall gehört, dann gehört es zu einem anderen unserer Fälle. Tüten Sie die Dinger ein und bringen Sie sie ins Labor, Tom. Und suchen Sie weiter.«
Der Dicke drehte sich um und marschierte zu seinem Range Rover. Wield folgte.
»Es gab einige Selbstmorde hier oben, Sir«, sagte er.
»Klar, daran denke ich jedes Mal, wenn ich mir Tee aufbrühe, Wieldy«, erwiderte Dalziel. »Aber für gewöhnlich fischen wir sie raus, oder?«
»Die, von denen wir wissen«, stimmte der Sergeant zu. »Aber es könnte jeder hierher kommen, sich die Taschen voll Steine packen und als Statistik auf unserer Liste der vermißten Personen landen.«
»Vielleicht muß ich mir das Teetrinken abgewöhnen«, sagte Dalziel. »Wissen Sie, dieser Stausee war mir vom ersten Augenblick an nicht geheuer. Irgendwas am Dender Mere hat mir immer schon ’ne Gänsehaut verursacht. Hier, das klingt ja fast, als ob George Headingley ein Ei auf sein Funkgerät legt. Was hat ihn nur aufgeweckt, frage ich mich.«
»Werden wir gleich wissen«, sagte Wield und nahm das Mikrophon auf.
»Ist er da, Wieldy?« fragte Headingley ohne Umschweife. »Sagen Sie ihm, daß wir gerade eine Nachricht von Constable Novello reinbekommen haben. Sie sagt, sie sitzt in der Cafeteria der Orecliff-Tankstelle an der Küstenstraße und beobachtet gerade, wie Geordie Turnbull ein Pläuschchen mit Benny Lightfoot hält. Verstehen Sie, was das bedeutet? Sie könnten zusammen da drinstecken! Zwei sind es, nicht einer! Das würde einiges erklären, oder nicht?«
Dalziel griff dazwischen und nahm Wield das Mikrophon ab.
»Es würde nicht erklären, warum Sie das alles der ganzen Welt samt seiner Mutter über Funkfrequenz erzählen, George. Also halten Sie den Mund. Wir sind unterwegs.«
»Und, was denken Sie, Sir?« fragte Wield, als sie wegfuhren. »Zwei zum Preis für einen?«
»Ich denke, George Headingley hat sein Gehirn über den Gesundheitsdienst bekommen, und jetzt wird’s vom Immunsystem abgestoßen«, sagte Dalziel. »Aber wenn Ivor tatsächlich Benny Lightfoot gestellt hat, muß ich sie womöglich heiraten.«
Um etwa dieselbe Zeit wachte Rosie Pascoe wieder auf und verkündete, sie habe Hunger. Als ihr nur eine kleine Menge Flüssignahrung gestattet wurde, beklagte sie sich bitterlich, und ihre Eltern sahen einander grinsend an.
»Bin ich sehr krank?« fragte das Mädchen plötzlich.
Pascoe blieb für eine Sekunde das Herz stehen, doch Ellies feine Ohren hörten bereits die Berechnung heraus, die hinter dieser Frage steckte.
»Du warst mächtig krank«, sagte sie bestimmt, »aber jetzt geht es dir schon viel besser. Und wenn du rechtzeitig zum Jahrmarkt wieder ganz gesund bist, nimmt Daddy dich mit in die große Achterbahn. Jetzt muß Mummy mal einen Moment weggehen, aber ich komme gleich wieder.«
Pascoe folgte ihr zur Tür.
»Was sollte das denn?« erkundigte er sich.
»Der Trick besteht darin, ihr fürs Gesundwerden eine Belohnung in Aussicht zu stellen, nicht fürs Kranksein, sonst wird sie noch monatelang auf dem Invalidenstatus herumreiten«, erklärte Ellie geduldig.
»Ja, das hab ich verstanden. Ich meinte die große Achterbahn. Du weißt doch, daß mir davon schlecht wird.«
»Peter, obwohl ich abstreiten werde, daß ich es jemals gesagt habe, hätte ich manchmal lieber etwas mehr Schwarzenegger und etwas weniger Hugh Grant.«
»Okay. Wo gehst du verdammt noch mal hin, Süße?«
»Das war echt Cagney«, sagte sie und schmunzelte. Dann, wieder ernst: »Ich will nur eben nach Jill sehen. Ja, ich hab verstanden, was du vorhin gesagt hast, und ich werde mich nicht aufdrängen. Sie wird sowieso zu Hause sein, nehme ich an. Aber ich wollte mich mal erkundigen und versuchen herauszufinden, was wir am besten tun können.«
»Na gut«, meinte Pascoe. »Dann werde ich für die Unterhaltung unseres Monsters sorgen.«
Nach einer relativ kurzen Zeit der Unterhaltung war das Monster bereits wieder müde.
»So ist’s gut, mein Schatz. Mach ein Nickerchen, damit du wieder zu Kräften kommst«, sagte Pascoe. »Im Krankenhaus muß man fit sein, um alle Besucher im Auge zu haben, die einem die Weintrauben klauen wollen.«
»Werde ich viel Besuch kriegen?« fragte Rosie schläfrig.
»Das hängt davon ab, wie gut deine Weintrauben sind.«
»Wird Zandra kommen?«
Pascoe bemühte sich, in leichtem Ton weiterzusprechen.
»Wenn sie kann«, sagte er.
Er wußte nicht, wann die Zeit reif sein würde, es ihr zu sagen, aber er wußte, daß es jetzt noch nicht soweit war.
»Ich hab sie seit Sonntag nicht mehr gesehen. Zumindest konnten wir nicht richtig reden. Sie hat vielleicht schon die Fotos, die Derek gemacht hat.«
»Ja, mein Schatz. Weißt du noch, daß ihr am Sonntag euer Frühstückspicknick gemacht habt?«
Er hatte ein schlechtes Gewissen, daß er sie fragte, versicherte sich aber, daß er es nicht getan hätte, hätte sie nicht selbst von Zandra angefangen.
»Ja. Und ich hab gesehen, wie der Nix sich Nina geschnappt hat«, sagte sie.
Es war, als hätte er seine Gedankengänge irgendwie auf sie übertragen.
»Das stimmt. Du hast durch Dereks Fernglas gesehen, oder?«
»Ja. Damit sieht alles viel größer aus als bei deinem, weißt du«, sagte sie ganz ernst.
»Das glaube ich dir«, erwiderte er lächelnd. »Und du hast Nina unten im Tal gesehen. War sie allein?«
»Ja. Nein. Sie hatte einen kleinen Hund dabei.«
»Und dann kam der Nix.«
»Ja. Er kam den Hang runtergerannt und hat sie in ein Loch im Boden runtergeworfen. Wahrscheinlich ist seine Höhle irgendwo da unten.«
Ihre Stimme klang schwach und müde.
Pascoe zog Novellos »Post« aus der Tasche und faltete sie auseinander, so daß die Doppelseite zu sehen war.
»Bevor du einschläfst, sag mir doch eben noch, wen du auf diesen Bildern erkennst.«
Sie blickte mit halb geschlossenen Augen auf die Fotos, lächelte dann und tippte mit dem Finger auf das Papier.
»Das ist Onkel Andy«, sagte sie.
»Hallo. Was ist denn das für ein Spiel?« hörten sie Ellies Stimme.
Sie war unbemerkt ins Zimmer gekommen und klang ganz heiter. Doch irgend etwas an Pascoes Blick, als er zu ihr aufsah, mußte sie beunruhigt haben, denn nun fragte sie mißtrauisch: »Was zeigst du ihr da, Peter?«
»Nur ein Bild von Onkel Andy«, sagte Pascoe und schickte sich an, die Zeitung wieder zusammenzulegen.
Doch bevor er das tun konnte, schnellte die kleine Hand hervor und zeigte wieder mit dem Finger.
»Und das ist der gemeine alte Nix«, sagte Rosie.
Dann gähnte sie herzhaft und schlief ein.