172323.fb2 Das Dorf der verschwundenen Kinder - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 55

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Dreizehn

Das Konzert sollte um sieben Uhr beginnen.

Nach einem leichten Mittagessen ging Elizabeth in den Garten, streckte sich auf einem Liegestuhl unter einem Sonnenschirm aus und schlief ein.

Sie wurde durch ein Geräusch geweckt, öffnete die Augen und sah Arne Krog auf sich herabblicken.

»Ich habe nur den Sonnenschirm verrückt«, sagte er. »Die Sonne ist weitergewandert. Ich dachte, daß du vermutlich nicht mit einem Gesicht singen willst, das wie eine halbe Sonnenfinsternis aussieht. Du hast ja sehr empfindliche Haut, oder?«

»Nein, ich hab ’ne Lederhaut, aber ich will, daß sie empfindlich aussieht«, erwiderte sie. »Wie du ja sehr wohl weißt.«

»Tue ich das?«

»Klar, dir entgeht nicht viel, Arne. Vor allem, wenn es darum geht, Frauen zu beobachten. Was nicht heißt, daß du nur Frauen beobachtest.«

»Was soll denn das bedeuten?«

»Was hast du gesehn, als du Walter heute morgen gefolgt bist?« Sie lachte, als er sie erschrocken ansah. »Erwischt! Ich dachte mir einfach, daß du darauf aus warst.«

»Du bist ein cleveres Mädchen, Elizabeth. Oder vielleicht sollte ich dich Betsy nennen, wenn du so stark mit Akzent sprichst.«

»Ganz wie du möchtest«, sagte sie und schwang die Beine auf den Boden.

»Nicht, wenn du es nicht möchtest. Aber du hast nach Walter gefragt. Ich sah, wie er den Wagen an der üblichen Stelle parkte, seinen Spaziergang den Leichenpfad hinauf machte bis zum Neb und dann auf Dendale hinunterblickte. Als er weg war, habe ich das auch getan. Es ist faszinierend zu sehen, wie das Tal durch die Dürre wiederauferstanden ist. Hast du es dir schon mal angesehen, Elizabeth?«

»Du hast das falsche Wort erwischt, glaube ich. ›Wiederauferstanden‹ bedeutet wieder lebendig. Aber nein, ich hab’s noch nicht gesehn.«

»Ich finde, du solltest mal hinfahren. Ich begleite dich gerne, falls du das Gefühl hast, das Erlebnis könnte zu aufwühlend sein.«

Sie stand auf und streckte sich gähnend.

»Mit dir könnte es zu aufwühlend werden, da hast du wohl recht«, sagte sie. »Aber es wäre sicher interessant, mal runterzugucken.«

Sie ging ins Haus. Walter und Chloe Wulfstan saßen im Wohnzimmer. Walter las die Zeitung, Chloe ein Buch.

»Walter, ich hätte nix dagegen, ein bißchen früher nach Danby zu fahren«, sagte sie. »Ich dachte, vielleicht könnten wir beide mal zum Neb hochwandern. Du auch, Chloe, wenn du Lust hast.«

»Ich glaube nicht, meine Liebe«, erwiderte Chloe, ohne von ihrem Buch aufzublicken.

»Willst du dich vor dem Konzert nicht noch ausruhen?« fragte Wulfstan.

»Ich bin ausgeruht. Und du hast doch gesagt, du hast einen Raum im Forschungspark hergerichtet, in dem ich mich umziehen und anhübschen kann. Ob ich nun hier bin oder da …«

»Wenn du meinst. Was ist mit dir, Arne?«

»Arne kann Chloe und Inger mitnehmen, wenn sie fertig sind«, sagte Elizabeth bestimmt. »Also los. Ich hol nur meine Sachen, und wir können fahren.«

Die Fahrt über schwiegen beide, doch als Wulfstan vor der Einfahrt zum Geschäftspark verlangsamte, sagte Elizabeth: »Können wir gleich zum Leichenpfad fahren und danach hierher?«

»Wie du willst«, sagte Wulfstan.

Während sie durch Danby fuhren, starrte Elizabeth aus dem Fenster und sagte: »Komisch. Als wir gestern hier waren, hab ich nix gespürt, aber ich dachte, das war nur so ’ne Art Taubheit. Aber das ist es nicht. Ich spüre wirklich nix. Es ist nicht, als ob ich nach Hause komme. Dafür war ich nicht lang genug hier. Drei Jahre, oder? Vier? Und mit allem, was passierte, war es nie ein Zuhause.«

Sie kamen an der Schule und der Kirche vorbei. Elizabeth blickte zu den abgestellten Polizeiwagen vor St. Michael’s Hall, sagte jedoch nichts. Nachdem sie den Leichenpfad so weit hinaufgerumpelt waren, wie der Discovery es schaffte, hielt Wulfstan an, und sie stiegen aus.

»Bist du sicher, daß du das willst?« fragte er.

»Warum nicht?«

»Es ist sehr heiß. Und steil. Du willst dich doch nicht überanstrengen.«

Sie lachte und sagte: »Red keinen Blödsinn. Ich bin ein Mädchen vom Land, weißt du nicht mehr? Wenn ich früher den Berg raufging, um Dad beim Zusammentreiben der Schafe zu helfen, kam ich schneller voran als diese Sportwanderer heutzutage und war nicht mal aus der Puste.«

Er sah sie kurz an, wandte sich ab und stieg den Pfad hinauf.

Sie ging neben ihm her und atmete kaum schneller, als sie den Grat erreicht hatten.

Eine lange Zeit stand sie schweigend da und blickte in das sonnige Tal hinunter. Dann sagte sie ruhig: »Jetzt bin ich zu Hause.«

Barsch entgegnete er: »Wie kannst du das sagen? Was ist da unten, das irgend jemand von uns Zuhause nennen könnte?«

»Du meinst die Gebäude? Das waren am Anfang auch nur Steinhaufen, und jetzt sind sie’s wieder. Ein paar Monate harter Arbeit, und du könntest sie wieder aufbauen. Nein, für mich ist das einfach so. Der Kreis hat sich geschlossen.«

»Das klingt so nach Vollendung«, meinte Wulfstan.

»Findest du? Zeit für einen Neuanfang, meinst du nicht? Du und Chloe habt das nie geschafft, oder? Ich meine, du bist weggegangen, aber letztendlich doch wieder nach Yorkshire zurückgekommen, was auch so was wie ein Kreis ist. Aber ich sehe keinen Neuanfang.«

»Es gibt Dinge, die kannst du nicht hinter dir lassen, nicht ohne eine Amputation.«

»Redest du von Mary? Die kleine Mary … Sie wäre jetzt so alt wie ich, stimmt’s? Aber sie hätte nie meine Stimme gehabt. Das ist doch was, hm? Sie hätte niemals meine Stimme gehabt. Außer natürlich, daß ich, wenn die Dinge nicht so passiert wären, wie sie passiert sind, nie die Chance gehabt hätte, sie ausbilden zu lassen. Ich hätte höchstens mal im Pub gesungen. Karaoke. Das wär wahrscheinlich das Äußerste gewesen. Statt dessen könnte es nun sein, daß sie in hundert Jahren auf mich zurückblicken, so wie wir jetzt auf die Melba zurückblicken. Die erste große Diva des neuen Millenniums. Klingt wie ein Plan, was? Man könnte fast meinen, es wäre ein Plan gewesen.«

Er sah sie durchdringend an, sagte aber nur: »Du hast vor, deinen Umfang zu vergrößern?«

»Was? Oh, Melba. Ja, vielleicht. Ich könnte es, glaube ich. Wir werden mal sehn, was die alte Frau in Italien nächstes Jahr sagt.«

»Die alte Frau in Italien ist eine der besten Gesangslehrerinnen unserer Zeit«, sagte Wulfstan. »Und nicht billig.«

»O ja«, meinte Elizabeth gleichgültig. »Wenn sie mich hört, wird sie wahrscheinlich auf Kredit arbeiten und wissen, daß sie ihr Geld bekommt. Was ist da unten wohl los?«

Ein paar Männer standen im flachen Wasser neben der Ruine von Heck. Einer von ihnen stieg aus dem Wasser, ging zu einem geparkten Range Rover und holte einen langen Wagenheber aus dem Fond. Dann kehrte er zum Wasser zurück und fing an, im Morast herumzustochern.

»Anscheinend suchen die nach was«, sagte Wulfstan.

»Ach ja? Und ist da was, das sie finden könnten, hm?«

Er sah sie einen Moment lang an und sagte dann: »Ich hab ihn gesehen, weißt du.«

»Wen?«

»Benny Lightfoot. Ich war hier oben und hab ihn gesehen.«

»Da unten?«

»Nein. Hier oben auf dem Grat. Und er ging zum Neb hin.«

»Und was hast du gemacht?«

»Ich bin ihm gefolgt, was denn sonst? Ist das nicht der Grund, warum uns böse Geister erscheinen? Damit sie uns ins Verderben stürzen?«

»Und? Hat er?«

»Natürlich. Es war kein weiter Weg. Elizabeth …«

»Ja?«

»Eines noch. Falls …«

»Ja«, sagte sie. »Ich glaube, es wird Zeit, daß wir einen Anfang machen.«

»Den Neuanfang, meinst du?«

»Das auch. Obwohl der wahrscheinlich für uns gemacht wurde. Walter, es tut mir leid.«

»Was denn? Dich trifft doch überhaupt keine Schuld.«

»Nein, aber das habe ich immer gedacht, und ich kann mich doch nicht ganz und gar irren, oder? Laß uns reden. Aber erst, wenn ich gesungen hab, ja?«

Sie nahm seine Hand und führte ihn fort vom Tal, und Hand in Hand stiegen sie den Leichenpfad wieder hinunter.